Samstag, 28. Juli 2007

EIN FRÄULEIN IN BERLIN N113

Erika Brandt und Bertl Engesser in memoriam

Ist es denn möglich, dass ein Mensch fast 90 Jahre alt wird, aber am Leben nicht teilgenommen hat? Das hat eine kluge alte Frau mir über meine einzige leibliche Tante gesagt, zu meiner großen Verblüffung. Nie zuvor hatte ich über sie eine derartig präzise Aussage gehört. Wohl ahnte ich so etwas, hatte in späteren Jahren dafür das Wort 'Töchterlichkeit' gefunden, das Ähnliches meinte, aber nur für mich hatte ich es gefunden, und nun fühlte ich mich wundersam bestätigt. Niemandem hatte ich es mitteilen können. Über Wesentliches wurde in meiner Familie nicht gesprochen. Das zu begreifen, in mir allein, ohne Bestätigung oder Gegenrede, gelang mir sogar relativ früh, in Ansätzen noch vor der Pubertät, aber es machte mich einsam, und diese Einsamkeit empfand ich als Last. Schon mit zehn, elf Jahren begann ich mich nach wirklichem Gespräch zu sehnen und es zu suchen. Das hatte Anlässe.
Was die Tante betrifft: Ja, denke ich heute, die kluge alte Frau hatte weitgehend Recht: Es ist möglich, dass ein Mensch sein Leben versäumt. Nur dass meine Tante es ganz versäumt hat, glaube ich doch nicht. Das ist mir erst während dieses Schreibens klar geworden. Frau Brandt, die kluge alte Frau, nehme ich an, hatte wahrscheinlich einfach nicht erfahren, was mich zu einer Einschränkung ihres so erstaunlich klaren Urteils veranlasst.
Ich werde von der Lebensgeschichte der Tante berichten, so gut mir das aus ihren nachgelassenen Papieren und ein wenig auch aus meiner Erinnerung möglich ist. Natürlich habe ich ihren Nachlass gedeutet, und von meiner eigenen Lebensgeschichte ist darin, in der Deutung, zwangsläufig einiges mit enthalten. Verlässliche Richtigkeit gibt es in biographischem Schreiben nicht. Ich habe aber schon bei der ersten Durchsicht festgestellt, wie sehr, wie ganz erstaunlich deutlich die hinterlassenen Papiere meiner Tante Hildegard mit meinen nicht allzu vielen eigenen Erinnerungen übereinstimmen, und nehme das als eine Art von Bestätigung dafür, dass ich das alte Fräulein wohl nicht ganz falsch beurteilt habe.
Dass ich von meiner Tante allein aus meiner Erinnerung sehr wenig hätte berichten können ohne ihren schmalen Nachlass, das sagt viel über meine Familie aus. Denn eben: wirkliche, offene, dem anderen ernsthaft zugewandte Gespräche haben nicht stattgefunden. Daher hat dieser Bericht Ähnlichkeiten mit der Darstellung von Ergebnissen einer Archiv-Recherche, auch im Stil.
Vielleicht könnte man sagen, dass der Mensch, von dem ich berichte, der nicht geistig und nicht körperlich behindert war, es doch seelisch war oder wurde. Er, dieser Mensch, meine Tante, deren Nachlass als einziger aus meiner Familie mir zugefallen ist, war eine Frau, der es, wie mir scheint, als Erwachsener nicht möglich war, wirkliche Freude zu empfinden. Meine Tante hatte für sich keine Wünsche, oder sie hatte es verlernt, sie zu haben. Sie wünschte sich nichts, sie freute sich an nichts. "Das ist ja recht nett", war die Redensart, mit der sie Zustimmung oder so etwas wie Dankbarkeit ausdrückte. Es fehlte ihr auch an der Neugier auf Menschen, auf andere Orte. Sie war nicht selbstsicher genug, um neugierig zu sein. Sie hatte nicht einmal Ideen für eine Änderung bei der Wohnungseinrichtung. Intellektuelle Neugier fehlte ihr ganz. Von dieser gesamten Interesselosigkeit machten nur die Angelegenheiten des englischen Königshauses eine etwas wunderliche Ausnahme.
Dagegen war meine Tante eine hingebungsvolle Dienerin. Das Wort soll dabei in sehr weiter Bedeutung verstanden werden. Sie diente ihrem Bruder, meinem Vater, in ihrer beider zwanziger Jahren, indem sie seine literarischen Produktionen bewunderte und ihm neu erschienene Literatur schenkte. Sie erfüllte damit wohl Bücherwünsche, die ihr aufgegeben waren, suchte sicherlich nicht selber. Sie diente ihm dann wieder, als sie beide in ihren sechziger und siebziger Jahren waren. Da schrieb sie die von ihm verfassten sonderbaren graphologisch-biographischen Gedichte, Tausende, aus seiner schwer lesbaren Handschrift in die Schreibmaschine ab. Das tat nicht seine Frau, meine Mutter, die ebenfalls Sekretärin gewesen war. Meine Tante diente ihrer eigenen Mutter in dem, was die verlangte, Kinderkram oft, zum Beispiel den Tisch zu decken, wenn tatsächlich einmal Besuch kam, Frau von Jaminet etwa, wie gelegentlich geschah, die Hausbesitzerin. Denn Hildes Mutter Helene führte formal für sie über Jahrzehnte die Hausverwaltung für das Eckhaus Schönhauser Allee 89/Kuglerstraße 1, in dem ich aufgewachsen bin, tatsächlich aber tat es meine Tante Hilde. Solches Tischdecken, stelle ich mir vor, konnte 1918 ebenso gut angeordnet worden sein wie 1970, wenn meine Familie zu Besuch kam, damals schon in die Helmstedter Straße in Wilmersdorf, also in Westberlin. Diese Familie, das waren nur der geliebte Bruder, die ungeliebte Schwägerin und ich. Besuch aus der weiteren Familie gab es selten. Vor allem aber diente Hilde ihrem "Geschäft", ihrer Firma, vorbildhaft, auch in Zeugnissen so formuliert, möglicherweise im Grad ihrer Hingabe die Vorgesetzten zuweilen erschreckend. Vermutlich bezog sie irgendetwas zwischen Stolz und Lustgewinn daraus, die Kenntnis mancher Vorgänge nur mit ihrem Chef zu teilen, was ihre langen Aufenthalte im Büro teilweise erklären könnte, jedenfalls die bei der Staubsaugerfirma, bei der sie die längste Zeit ihres Lebens tätig war. Vielleicht arbeitete sie aber einfach langsam, und da sie von sich die technische Vollkommenheit jedes Briefes verlangte - jedenfalls, solange sie noch selber "tippte", das weiß ich -, könnte auch das Neuschreiben fehlerhafter Briefe den überlangen Bürotag verständlich machen. Am wahrscheinlichsten aber erklärt sich der durch die Beziehung zu ihrem Chef Josef Wedzicki. Das Wort 'Beziehung' sollte nicht vorschnell in der am nächsten liegenden Bedeutung verstanden werden. Wir werden sehen.
Am wichtigsten in ihrem Leben dürfte das Verhältnis der Tante zu ihrer Mutter gewesen sein: Sie schlief zwar seit 1926 nach dem Tod ihres Vaters neben ihr im Ehebett, und beide kauften sich tatsächlich einmal ein neues Schlafzimmer mit neuen Ehebetten, das ist wirklich wahr; sie vermied aber, solange es ihr Beruf und der Gesundheitszustand ihrer Mutter möglich machten, mit ihr den Abend zu teilen. Denn die Mutter war "eine Tyrannin". Die Feststellung stammt von derselben klugen alten Frau Brandt, die Hildes Nichtteilnahme am Leben so klar gesehen hatte und so präzis formulieren konnte.
Hilde begann krank zu werden, nachdem ihre 100-jährige Mutter gestorben war, bei der sie, die Tochter, stets gewohnt hatte. (Sie ist nie verheiratet gewesen.) Nach längerer Überlegung bleibe ich bei dieser Formulierung, denn es scheint keine Zeit gegeben zu haben, nicht einmal die allerletzten Jahre der Uralten, zu der die Mutter bei der Tochter gewohnt hätte.
Natürlich ist es nicht so, als sei in dem langen Leben meiner Tante nichts geschehen. Immerhin hatte sie 'unter' fünf Regierungssystemen gelebt, dem Kaiserreich, das wie für die Ewigkeit gemacht schien, der Republik von Weimar, dem ihr Vater, des Kaisers Soldat, als ein Polizist diente, der im Herzen kaisertreu blieb, und dem "Dritten Reich", von dem sie nicht viel wahrzunehmen trachtete, so sagte sie es jedenfalls später. Ob das so von Anfang an der Wahrheit entsprach oder ob sie nicht doch, ohne viel nachzudenken, wenigstens anfangs Deutschlands neue Stärke damals verteidigt, den "Trommler" gewählt hat, das weiß ich nicht. Am längsten lebte sie in der Bundesrepublik, der im alltäglichen Sprachgebrauch das Wort "Deutschland" abhanden gekommen war, bis 1956 in Ostberlin, der "Hauptstadt der DDR". Sie erlebte sogar noch - am Fernseher - die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, de facto den Anschluss der DDR an Westdeutschland.
In ihre Lebenszeit 'fielen' auch zwei Kriege, die sie natürlich nicht gut nicht wahrnehmen konnte, zumal nicht den zweiten. Ihr Vater, der Polizist, brauchte am ersten nicht teilzunehmen, aber ihr Bruder, der Schreibtisch-Mensch, der Grapho-Literat, wurde zum zweiten eingezogen und schwer verwundet. Das Mietshaus, in dem die Familie wohnte ("judenfrei" seit 1940, darauf hatten die Hausverwalter selbstverständlich zu achten), blieb unzerstört. Judenhasserinnen waren sie nicht, meine Tante und ihre Mutter. Sie taten eben nur, was angeordnet war, also das, was fast alle taten. Der jüdische Kürschnermeister Karl Wurzel aus unserem Haus, der rechtzeitig hatte fliehen können und in New York heimisch geworden war, schrieb ihnen nach dem Krieg wieder, schickte Fotos von seinen beiden groß gewordenen deutschen und den beiden in Amerika geborenen Kindern und den Enkelkindern und Glückwünsche zu den traditionellen christlichen Festen über etwa zwei Jahrzehnte. Es war ein Brief- oder vielmehr nur ein Grußkartenwechsel, dem jede wesentliche Mitteilung fehlte, der mich aber bewegt hat, als ich ihn fand, weil er ein Stück Versöhnung darstellt, das ausging von dem vertriebenen deutschen Juden. Zur Geburt meiner Tochter schickte er einen 10-Dollar-Schein. Das rührte mich bis zu Tränen. Er, nun Charles Wurzel, hat vergeben wollen, was nicht zu vergeben ist; er, der von der Kuglerstraße 1 "umziehen" musste in die 688 Manhattan Av., Brooklyn 11222, N.Y., U.S..A. Als ich 1984 zuerst in New York war, habe ich im Telefonbuch seinen Namen nicht mehr gefunden. Ich hätte ihn gern kennen gelernt.
Obwohl sie also fünf Staatsformen und zwei Weltkriege erlebt hat, geschah doch nichts Wesentliches im Leben der Hilde Zinke. Seitdem sie tot ist - sie starb fast ein Vierteljahr unter kindlichen Klagen, noch im Sterben fehlte ihr die Mutter -, seitdem ich ihren schriftlichen Nachlass Blatt für Blatt, Bild für Bild durchgesehen habe, versuche ich diesen Satz zu verstehen: "Ihre Tante hat am Leben nicht teilgenommen." Ich werde mir dabei an einigen Stellen ihrer Lebensgeschichte Spekulationen erlauben, sie auch als solche kennzeichnen, denen ich selbst nicht allzu viel Wahrscheinlichkeit beimesse. Sie sind, überspitzt und reichlich provokant, wie sie mir vorkommen, Überlegungen dazu, ob es nicht doch in einem wenig intensiv gelebten Leben, aus welchem zudem nicht viele Spuren erhalten geblieben sind, irgendwelche Ereignisse gegeben haben könnte, von denen sich vielleicht nur keine Nachricht erhalten hat oder zu mir gedrungen ist, dass es also mehr an Leben in diesem Leben gegeben haben könnte, von dem ich berichte, erstaunt und erschrocken über die behauptete nahezu 90-jährige Ereignislosigkeit. So sind solche Spekulationen natürlich auch Versuche, gegen den Satz anzugehen, der das Schreiben ausgelöst hat. "Ihre Tante hat am Leben nicht teilgenommen." Sie sind außerdem, ich leugne es nicht, Versuche, mich, durch die Erkenntnis, die mir in fortgeschrittenem Lebensalter noch möglich ist, aus dem klebrigen Spinnennetz meiner Herkunftsfamilie, in deren Mittelpunkt die Großmutter hockte, endgültig abzulösen, sind also ein Suchen nach Erkenntnis und Verstehen, aber auch selbsttherapeutisch und setzen damit den anfangs erwähnten Prozess der Ablösung von der Familie fort. Ich bin nicht fähig, Erlebtes und zumal meine Lebensfehler einfach hinter mich zu werfen. Das wäre sicherlich einfacher, aber nur für die, die es aus Überzeugung tun.
Natürlich hat meine Tante insofern am Leben teilgenommen, als sie ja geboren worden ist, zur Schule ging, eine Berufsausbildung machte, nahezu 50 Jahre lang in verschiedenen Büros arbeitete, davon 32 Jahre in derselben Firma, und 15 Jahre lang ihre Mutter gepflegt hat. Ein Mann oder Männer kamen in ihrem Leben nicht dauerhaft vor, aber auch nicht gar nicht. Vielleicht war Josef Wedzicki auf eigene Weise der Mann ihres Lebens. Ein Kind gab es nicht. Hilde hat nur wenige Urlaubsreisen unternommen, davon keine, die aus Deutschland herausgeführt hätte, aber die Tante war immerhin auf Usedom, im Riesengebirge und im Thüringer Wald, das waren übliche Reiseziele; war nach dem Krieg einmal mit ihrer Mutter in Bayern, einmal mit ihrer Bekannten Bertl Engesser in Bad Pyrmont. Von dieser Reise hat sie eine Karte geschrieben, die so etwas wie Glück erkennen lässt. Frau Engesser hatte nicht vergeblich gedrängt. Sonst gab es nichts, das Hilde zum Vergnügen gemacht hätte, als gehörte sich das nicht, Vergnügen, und sie machte und empfing fast keine Besuche. Als sie die Wohnung kaum noch verlassen konnte, kümmerten sich ein Sozialdienst und Nachbarinnen um sie. Es gibt sehr liebevolle Berliner Nachbarschaftsbeziehungen,. und unter den helfenden Nachbarinnen war ganz bestimmt nicht eine eigennützig. Es war aber meiner Tante nicht gegeben, irgendeine Hilfe anzunehmen, ohne dafür zu bezahlen, so arm war sie, so arm in ihrer Seele. Sie starb in der Palliativstation eines Krankenhauses, ohne Schmerzen, aber allein. Ich, die ich des Familiensumpfs wegen fast 30 Jahre zuvor Berlin verlassen hatte, telefonierte in ihren letzten Monaten täglich mit ihr, besuchte sie aber selten. Ich sah ihren Jammer, vermochte aber nicht, ihr darin beizustehen. Es gab keine gemeinsame Sprache. Ich hielt ihre Hand, als ich gerufen worden war, weil alle im Krankenhaus glaubten, sie stürbe. Aber sie atmete noch weiter, eine Woche lang.
Mit dem bisher Geschriebenen sei das Leben der Hildegard Zinke in einem natürlich oberflächlichen Sinn vollständig beschrieben, könnte ich behaupten.

Will ich mich aber mit solcher Beschreibung nicht zufrieden geben, so wird es schwierig. Denn nun muss ich nach Ursachen, Gründen und Erklärungen suchen für Stationen dieses Lebens, die mir von ferne erkennbar geworden sind, aber eben nur von ferne. Die kann ich fast nur ihrem Nachlass entnehmen, der nicht vollständig ist und von dem ich nicht weiß, allerdings vermuten kann, was fehlt. Ich habe in ihrem Kalender von 1993 zu Jahresanfang eine Notiz gefunden, sie habe Briefe und "Diverses" vernichtet. Zu den Briefen müssten die ihres Bruders, meines Vaters, aus Krieg und Nachkriegszeit an ihre Mutter und an sie gehört haben. Da er allen seinen privaten Nachlass vernichtet hatte, damit ich ihn nicht sähe, wird das auf seine Bitte geschehen sein oder eher auf seine Anordnung hin. Ich glaube aber, dass mir meine Tante vor dieser geplanten Vernichtung einen Hinweis darauf gegeben hat bzw. mir vielleicht die Möglichkeit lassen wollte, sie von dem Vernichtungsauftrag loszusprechen. Neugierig war ich wohl, aber auch stolz. Was vor mir verborgen werden sollte, wollte ich nicht sehen und lesen. Zu stolz war ich, wie ich heute finde.
Aus meiner Erinnerung kann ich nicht viel über die Tante abrufen, obwohl ich sie fast mein ganzes Leben lang gekannt habe, etwa ein halbes Jahrhundert. Von dieser Zeit habe ich die Hälfte in der gleichen Stadt gelebt wie sie, in Berlin, und von dieser Hälfte nochmals die Hälfte sogar im selben Haus. Aber das waren meine Kinderjahre. Ich kannte also diese Tante immer und kannte sie nicht. Mir scheint, dass das einerseits an ihr lag, indem es einfach an ihr nicht viel zu kennen gab, aber auch an mir, indem ich in der Kontinuität meines Lebens in ihrer - räumlichen, nicht seelischen - Nähe meine Kinderwahrnehmung immer fortführte, ergänzte, erweiterte, aber nicht abbrach. In allem, was ich in späteren Jahren an ihr bemerkte, steckte sie weiterhin, diese Wahrnehmung aus der Kindheit. Ehe sie gebrechlich wurde, gab es einfach keinen Anlass für mich, mir neue Gedanken über sie zu machen. Dass ich die andere Hälfte meines bisherigen Lebens nicht mehr in ihrer Nähe lebte, hatte seinen Grund darin, dass ich um meines eigenen inneren Überlebens willen die Stadt verlassen musste, in der meine Familie lebte, wollte ich nicht aufgesogen werden von dem, was ich den Familiensumpf nenne und in dem alle anderen unterschiedlich tief und unterschiedlich lange steckten. Aber einzig meine arme Tante steckte in ihm von Anfang an und hat ihn nie verlassen, nicht einmal, wenn ich mir erlaube, von mir abzusehen, als sie die letzte Überlebende war. Sie blieb bis zum Schluss in ihrer Töchterlichkeit stecken. Bis weit ins Alter hinein legte sie auch Wert auf die Anrede "Fräulein": "Fräulein Zinke bitte."
Als ich dann aber doch begonnen hatte oder eher beginnen wollte, der Tante und ihrem Bruder, meinem Vater, den beiden Überlebenden aus den zwei Teilfamilien, die in mir endlich entstandenen Fragen zu stellen, da wurden mir die Antworten teils ausdrücklich verweigert (Vater), teils mit dem Satz: "Ach, lass doch, das ist ja alles schon so lange her" (Tante). Das betraf so Privates wie die Eheschließung meines Vaters und so Politisches wie Hitler.
Erst jetzt, wo ich mich mit dieser Letzten aus meiner engeren Familie beschäftigt habe, vermag ich zuzugeben, dass, entgegen dem Anschein, auch in dieser Frau Gedanken, Meinungen, Wünsche, Sehnsüchte gewesen sein könnten, die ich nur in meiner kindheitsblinden Wahrnehmung nicht erfassen, lange nicht einmal als Mutmaßungen formulieren konnte. Nun bin ich auf teilweise sicher nur zufällig Erhaltenes angewiesen und die Schlüsse, die ich daraus ziehe. Die können nicht vollständig sein, weil das Material nicht vollständig ist, und sie können zudem wenigstens partiell falsch sein, weil ich es nicht richtig deute. Immerhin, das bestätigen einige Dokumente, jedenfalls nicht ganz falsch.
Hildes Nachlass hat mich über Tage und Wochen in einer Faszination gehalten, die ich an mir zuerst nur mit Verwunderung sah. Warum das, da doch der Mensch, der ihn zurückließ, mich nie besonders interessiert hat, einfach nur immer auch noch da war? Dass sie mir vorgelesen hat aus einem der Märchen, das die Frau von Jaminet geschrieben hatte, dem "Himmelsschlüsselchen", das ich fast versteckt unter ihren Büchern wiederfand, das hatte ich vergessen. Einige Male ging sie mit mir auf einen Jahrmarkt oder einen Weihnachtsmarkt, oft zum Grab ihres Vaters. Die Halbwüchsige führte sie manchmal in den Tiergarten aus, zu Kaffee und Kuchen, ich wie sie mit Handtäschchen und weißen Handschuhen. Von da an schenkte sie mir manchmal auch ein Stück teure Seife. Eine Geschenkidee von Frau von Jaminet war das, wie ich in deren wenigen Nachkriegsbriefen las; es mache viel her, hatte sie geschrieben, und sei doch nicht so teuer. Dergleichen war aber absolut luxuriös in meiner Familie, in der es gerade einmal Eau de Cologne gab und lange nicht einmal ein Deodorant. Im Schlafzimmer standen vor dem wundersamen dreiteiligen Spiegel der Ankleidekommode leere Flacons.
Wonach ich gefragt habe beim Durcharbeiten des Nachlasses von Hildegard Zinke, das ist, nochmals gesagt: Trifft es zu und kann ich verstehen und verständlich machen, dass meine Tante, die ja nicht immer alt war, fast 90 Jahre lang am Leben nicht teilgenommen hat?

Hildegard Ulla Magdalena Zinke wurde am 11. Juni 1904 in Berlin geboren als Tochter des Polizeiassistenten Paul August Karl Z. und seiner Ehefrau Helene Elise Maria Z. geb. Krüger. Hieran scheint weiter nichts bemerkenswert zu sein. Doch wird das Geburtsdatum der Tochter hochinteressant, jedenfalls innerhalb dieser Familie, wenn man feststellt, dass laut Trauschein der Gethsemane-Kirche und natürlich nach Aussage sämtlicher amtlicher Urkunden die Eheschließung erst am 5. April 1904 stattgefunden hatte, Hildes Mutter Helene also hochschwanger war, als sie gerade noch rechtzeitig unter die Haube kam. Niemals hat jemand in meiner Gegenwart davon gesprochen, dass Helene nicht nur nicht als Jungfrau in die Ehe ging, sondern als Mutter einer notfalls bereits lebensfähigen Tochter. Die Kinder jener unbeherrschten und herrschsüchtigen Mutter aber, Hildegard und Herbert, müssen es geradezu mit der Muttermilch aufgesogen haben, dass dergleichen in höchstem Grad unzüchtig sei, was sich da im Jahre 1903 ungehemmterweise an schmutziger Sexualität abgespielt hatte in Stargard in Pommern, woher die Eltern nach Berlin gekommen waren. Die Kinder wiederholten es tatsächlich nicht, und sie werden es selbst lange nicht gewusst haben. Sexualität fiel unter die Familientabus, sie war das Familientabu.
War es das vielleicht auch deshalb, Familientabu, weil sich ein ziemlich ähnlicher Fall wie der mit der verfrühten Schwangerschaft von Helene in ihrer Familie schon einmal abgespielt hatte und damals weniger glimpflich abgegangen war? Die Mutter dieser vorzeitigen Mutter Helene nämlich, Ernestine Heller, war selbst ein 'lediges Kind' gewesen, wie das vielfach genannt wurde, also ein uneheliches. Ein Mann zwar, 22 Jahre älter als Ernestine, heiratete diese nach der Geburt des Kindes, aber aus den amtlichen Angaben geht nicht hervor, ob er der Vater war. Das Kind jedenfalls, eine meiner Urgroßmütter also, behielt den Namen seiner Mutter. Hatte es als Erwachsene wohl Verständnis für die eigene 'gefallene' Tochter, da es doch selbst eine 'gefallene' Mutter hatte? Besonders wahrscheinlich ist das nicht nach allem, was die Familientherapeuten uns sagen. Wer selber gegen die 'Ehrbarkeit' verstoßen hat oder sein Leben einem solchen Verstoß verdankt, oder wie soll ich das sonst sagen, der ist in der Regel besonders anfällig dafür, Schuldgefühle zu produzieren, und neigt eher zur Härte als zu Verständnis und Nachsicht. Nein, solche Zügellosigkeit konnte nicht gut geheißen und musste verschwiegen werden. Erst als ich auf meine Bitte hin von meinem Vater die "Ahnenpässe" bekommen hatte, jene Abstammungsnachweise, die das Hitlerreich auch von seinen Bankleuten verlangte, und sie studierte, las ich die Daten. Selbstverständlich wäre es unmöglich gewesen, darüber von ihm oder seiner Schwester eine Auskunft zu erbitten, und so kam es mir nicht einmal in den Sinn zu fragen.
Helene und Paul waren bereits seit etwa fünf Jahren verlobt, als 'es' ihnen widerfuhr, im September 1903 etwa und ja nicht notwendigerweise damals zum erstenmal. Es sind zwei Fotos des Paares auf dem Weg über Hilde auf mich gekommen, Fotografenfotos, eine Seltenheit damals noch in Unterschichtfamilien, einmal Helene Krüger und Paul Zinke, einmal Helene alleine. Eines trägt auf der Rückseite in Hildes Handschrift den Vermerk: 18 Jahre. Helene war also 18 Jahre, als sie sich verlobte, Paul sieben Jahre älter, denn nach der Aufmachung des Paares müssen dies die Verlobungsbilder sein. Hochzeitsfotos sind nicht erhalten, hat es wohl aus naheliegenden Umständen auch nicht gegeben. Helene war eine Schönheit. Ihr Kleid, am Vorderteil und an der Ärmeln kunstvoll in Biesen gelegt, darüber ein bis zu den Ärmeln und hoch den Hals hinauf reichender Spitzenkragen, dürfte sie selbst genäht haben. Schneiderin hatte sie gelernt, wenn auch, seltsamerweise, nur ein Dreivierteljahr lang und erst mit 16 Jahren, da sie doch die Schule sicher mit 14 Jahren verlassen hat. Beides kann ich nicht erklären. Sie nähte noch bis ihr hohes Alter hinein die Kleider für sich und für die Tochter und immer mit einer Akkuratesse und einem Chic, die schon an sich bewundernswert gewesen wären, es aber noch mehr sind, wenn man erfährt, dass sie als noch junge Frau durch die Folgen eines häuslichen Unfalls alle Finger der linken Hand verloren hatte. In diesen Fingern hält sie auf dem Foto, auf dem sie allein zu sehen ist, mit einer vom Fotografen arrangierten Geste anmutig und als sei er gewichtslos, einen Sonnenschirm. Das Doppelporträt ist ein Brustbild, der Sergeant Paul Zinke mit Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart in der Ausgeh-Uniform der 5. Kompagnie des Kolbergschen Grenadier-Regiments Graf Gneisenau, des 2. Pommerschen (N.ø 9), die '9' groß auf den beiden Epauletten. Diese beiden Fotos stammen also etwa von 1898.
Die Heiratserlaubnis erhielt der Sergeant Z. erst am 2. März 1904. Daraus ist aber nicht zu schließen, dass er sich nicht rechtzeitig darum bemüht hätte. Vielmehr ist unter den Familienpapieren eine Abschrift seines Taufscheins erhalten, die vom 15. Oktober 1903 datiert. Rechnet man vom Geburtsdatum seiner Tochter zurück, so hat er sich also um die Heiratserlaubnis und als Voraussetzung für diese die Abschrift des Taufscheins geradezu zum frühesten Termin bemüht, zu dem eine Schwangerschaft seiner Verlobten zu vermuten war.
Die schöne Tochter des Arbeiters August Ludwig Franz Krüger und der Sohn des Zimmerpoliers Wilhelm Gustav Hermann Zinke werden sich wohl in Stargard kennen gelernt haben, wo Helene geboren wurde und seither lebte und Pauls Regiment stationiert war, vielleicht bei einer Veranstaltung, zu der die Garnison eingeladen hatte, oder auf einem Jahrmarkt oder bei einer Hochzeit gemeinsamer Bekannter oder bei noch anderer Gelegenheit. Niemand hat jemals davon erzählt.
Paul Zinke aus Repzin in Pommern, Kreis Schivelbein, Regierungsbezirk Köslin, hatte gedient vom 17. Oktober 1895 bis 31. Mai 1904 und sich stets "sehr gut" geführt. Ich habe nicht erfahren, was er zwischen seiner Schulentlassung mit mutmaßlich 14 Jahren und dem Militärdienstantritt gelernt oder gearbeitet hat oder ob er zuvor bei einem anderen Regiment gedient hatte. Vielleicht war er Bursche oder so etwas bei irgendeinem pommerschen Landadligen gewesen und hatte daher seine Jagdleidenschaft, die genau die einzige Eigenschaft ist, die ich von ihm weiß, wenn ich diese Tatsache mangels Kenntnis eigentlicher Eigenschaften so nennen darf. Dies, dass mir mein Großvater völlig unbekannt geblieben ist, fällt mir jetzt beim Schreiben nochmals auf. Es war einfach immer so gewesen. Ich kann aus Urkunden so genaue wie entbehrliche Daten entnehmen wie die oben genannten, aber ich weiß nichts über das Wesen dieses Menschen. Er war nicht nur lange vor meiner Geburt gestorben, 1926, sondern man erinnerte sich seiner vielleicht nicht gern. Nie wurde von ihm erzählt, und ich fragte nicht. Aber es wurde ja ohnehin fast nichts aus der Familie erzählt. Oder es kann sein, dass ich nach dem unbekannten Großvater gefragt habe und die Auskunft erhielt, er sei Jäger gewesen, und sein Hund habe Tell geheißen. (Durfte ein Polizeihund damals nicht sei seinem Herrn wohnen? Tell jedenfalls wohnte nicht in der Kuglerstraße, und es gibt kein Foto von ihm, aber Fotos von Paul beim Reinigen seiner Jagdwaffen. Seltsam aber: den Namen des Hundes habe ich immer gewusst.) Ich muss das so stehen lassen, denn ich will mich ja an ein gelebtes oder vielleicht nur verbrachtes Leben annähern, Hildes Leben, und nur nach Ankündigung phantasieren. Doch muss ich gestehen: Ich bin auf die Vermutung gekommen, dass die Familie den Ehemann und Vater nach seinem Tod - totgeschwiegen haben könnte, und das macht mich - wie sagt man das so abgegriffen? - betroffen. Es war aber wirklich nie von ihm die Rede. War Paul vielleicht seiner Frau untreu gewesen, der schönen Helene, als deren linke Hand verkrüppelt war, und war das bekannt geworden? Man wird die Frage ja stellen dürfen, eine von diesen angekündigten provokanten, die harmloseste, wie mir scheint. Und eine Frage ja nur. Einzig dies weiß ich: Er hat das Musizieren seiner Kinder gemocht. Das haben die alte Hilde und ihre alte Freundin Fiddy mir erzählt. Hilde spielte Klavier, Herbert Klavier und Geige. Den Unterricht haben Gertraud und Ernst von Jaminet bezahlt, die selber kinderlos waren, vermutlich auch das Klavier geschenkt. - Obwohl Paul Zinke bis zum 31. Mai 1904 Soldat eines in Stargard stationierten Regiments war, jedenfalls dort noch geführt wurde, fanden die standesamtliche und auch die kirchliche Eheschließung schon in Berlin statt, und er meldet sie auf dem Dienstweg bereits am 7. April 1904 als Schutzmann Zinke seiner Dienststelle. Er war also, was üblich war für ausgeschiedene Längerdienende, in die Polizei übernommen worden.
Wann das Paar nach Berlin kam, wo es zuerst wohnte, wo Helenes Entbindung stattfand, das alles weiß ich nicht. Hingegen kann ich, reichlich kurios finde ich das, Angaben über die verschiedenen Wohnungen der Familie machen, mit genauen Daten und Anschriften, denn auch alle Umzüge teilte der Beamte Z. natürlich seiner Dienststelle mit und kopierte die Mitteilungen für sich sehr ordentlich. Sämtliche Wohnungen lagen am Prenzlauer Berg, in der Nähe des S- und des U-Bahnhofs. Alle Häuser haben den Krieg überstanden. Ich habe sie vor kurzem besucht, von außen angesehen. Sollte ich etwa an den Wohnungen klingeln - die Angaben sind so genau, dass das möglich gewesen wäre - und sagen: "Hier haben meine Großeltern 1912 gewohnt. Darf ich nicht kurz hereinkommen?" Oder: "Hier haben meine Großeltern 1923 gewohnt"? Die erste Wohnung lag in der Schivelbeiner Straße 4. Sie dürfte beengt gewesen sein, denn am 29. März 1906 zeigt der Schutzmann Paul Z. einen Wohnungswechsel an ins "Gartenhaus" Wichertstraße 151, das Beamtenwohnhaus des Beamtenwohnungsvereins (die Fassade war schon 1994 frisch renoviert), der nötig geworden war durch die Geburt des zweiten Kindes wenige Wochen zuvor, meines Vaters. Diese Wohnung, von der ich angenommen hätte, sie sei finanziell günstig gewesen, verlässt er aber 1913 unter ausdrücklichem Hinweis darauf, dass er die Vereinsbeiträge nicht mehr zahlen könne und daher die Wohnung zu neuer Verlosung freimache. (Ich habe nicht nachgeforscht, was das bedeutete.) Er zieht mit seiner Familie erst in die Schönhauser Allee 110, knapp zwei Jahre später, 1914, in die Kuglerstraße 153 (später: 1). Dort übernimmt er mit Genehmigung seiner Dienststelle die Verwaltung des 1905 erbauten mittelbürgerlichen Eckhauses Schönhauser Allee 89/Kuglerstraße 153 mit 41 Mietparteien, nämlich 33 Wohnungen und neun Läden, bezieht selbst mit zwei Kindern eine 2-Zimmer-Dienstwohnung, von einer anderen abgeteilt, und wohnt dort mietfrei und gegen ein jährliches Salär von M 100.-, wozu noch ein "Osterei" von M 20.- und Weihnachtsgeld von M 30.- zu addieren sind, jedenfalls seit Frau von Jaminet 1923 die Immobilie von ihrer Mutter geerbt hatte. Das Ehepaar von Jaminet hatte noch ein weiteres Mietshaus in feiner Wilmersdorfer Gegend, Geisbergstraße, wo auch die eigene Stadtwohnung war, verfügte über Grundbesitz an der Havel und besaß das Schloss Deichslau an der Oder, in dem der leibhaftige Marschall von Hindenburg und, zu anderer Zeit natürlich, auch meine leibhaftige Großmutter zu Besuch gewesen sind. Von ihren Mieteinnahmen konnten Gertraud und Ernst von J. sorgenfrei leben und ihren Lieblingsbeschäftigungen nachgehen, sie dem Märchenerzählen und -schreiben und er in gewisser Weise auch, denn der Pastor Ernst von J. hatte besondere Eingebungen hinsichtlich der drohenden Endzeit der Erde empfangen und verbreitete sie in Traktaten, die er im Selbstverlag herausgab. Sonst führte das Paar das Leben schlesischer Landadliger, patriarchalisch fürsorglich gegenüber den Bauern des Dorfes. Noch im Jahr 1944 pflanzte Frau von J. 20 neue Obstbäume, nicht etwa, weil sie an den deutschen Endsieg glaubte, sondern weil eben neue Obstbäume zu pflanzen waren. Wer die erste Ernte von ihnen nehmen würde, das überließ sie Gott oder dem Schicksal. Als das Weltende für sie kam in Gestalt von Flucht und Vertreibung, lebte der Pastor von J. nicht mehr. Das habe er richtig so gemacht, fand seine Frau, die sämtlichen Besitz verloren hatte bis auf "unser" Haus. Sie blieb zunächst noch ein Jahr in Schlesien, schlug sich dann erst nach Deutschland durch, kam bei wechselnden Freundinnen unter, benahm sich angesichts aller ihrer Verluste aber überhaupt nicht weinerlich, ging später in ein möbliertes Zimmer am Bodensee, trat zum Katholizismus über, bekam bis 1951, bis es enteignet wurde, noch geringe monatliche Summen aus den Mieteinnahmen des Eckhauses an der Schönhauser Allee und teilte 1960 Freunden und Bekannten den eigenen Tod in einer Anzeige mit, die sie selbst noch in Schlesien formuliert und unterschrieben hatte. Das hat mich als Kind ungeheuer beeindruckt, denn bei ihrem letzten Besuch in Berlin bei Helene und Hildegard Zinke zeigte sie diesen Text, den ich damals gerade eben lesen konnte.
In der Wohnung in der Kuglerstraße wurden die Kinder von Paul und Helene erwachsen, in dem Haus wohnten Herbert mit seiner Familie bis April 1954 und Hilde mit ihrer Mutter bis September 1956. In den angegebenen Jahren zogen beide Wohngemeinschaften, wenn ich so sagen darf, nach Westberlin, fast ungeheuerliche Lebenseinschnitte.

Paul Zinke hatte erst eine bescheidene Militär-, danach eine ebenso bescheidene Polizeikarriere gemacht, aber als Beamter. Auch für seine Kinder wünschte er die Sicherheit, die der Beamtenstatus zu bieten schien. Der Sohn, der zunächst sogar die Oberrealschule - und mit glänzenden Zeugnissen - hatte besuchen dürfen, erreichte ihn zwar nicht, machte aber eine Lehre bei der Deutschen Bank und hatte als Angestellter dort einen beamtenähnlichen Status. Für die Tochter kam natürlich nur die "Gemeindeschule" (Volksschule) infrage, die sie mit guten Noten absolvierte. Die Bücher, die sie als Schulpreise erhielt, habe ich aufbewahrt und zu den meinen gestellt, Kaiserliches, Sozialistisches und später noch Westlich-Humanistisches nebeneinander. Eine eineinhalbjährige Handelsschulausbildung wurde Hilde danach bewilligt. Mit 15 Jahren trat sie ihre erste Stelle als Kontoristin an. Bis zu ihrer Verheiratung, mit der selbstverständlich gerechnet wurde, würde sie ebenso wie der Bruder bis zur seinen zum Familienbudget beitragen. Mit ihren Berufen hatten es die Kinder der Kinder aus zwei hinterpommerschen Arbeiterfamilien schon in jungen Jahren in Berlin achtbar weit gebracht. Später erhielten beide sogar Prokura.
Von Hilde wie auch von Herbert gibt es fast keine Fotos aus der Kindheit. Denn die Fotografie der Konfirmandin und die der Schülerin der Oberklasse der Gemeindeschule, der 8. Klasse also, bezeichnen ja beide gerade das Ende der Kindheit. Kein Babybild auf dem Eisbärfell beim Fotografen, fast keine Schnappschüsse. Aber Fotografieren als Freizeitbeschäftigung mit ein bisschen Kunstanspruch oder auch nur als Dokumentation gelebten Lebens gab es in den weniger gebildeten Kreisen eben noch nicht. Das eine der beiden Kinderbilder ist von mir unbekannter Hand datiert ("Pankow, 12. 8. 11"). Hilde ist also sieben Jahre alt und sitzt im Matrosenkleidchen und mit großer Schleife auf dem Kopf zusammen mit drei anderen Kindern irgendwo am Flüsschen Panke. Eins dieser Kinder ist ihr kleiner Bruder Herbert. Nicht datiert ist das einzige Familienbild. Dem Alter der beiden Kinder nach, wie es zu schätzen ist, müsste es 1908 entstanden sein. Es ist in der Wohnung gemacht worden, die vier Personen sitzen an einem gerade abgegessenen Kaffeetisch, links Hilde als Vierjährige, auch hier mit Schleife in den von den Seiten her hochgebundenen Haaren, rechts Helene lachend mit aufgestecktem Dutt, dazwischen Paul, ebenfalls lachend, mit Zigarre zwischen den Zähnen, und der kleine, etwa zweijährige Herbert lehnt sich an seine Mutter und schenkt ihr einen schelmischen Augenaufschlag. Einzig Hilde lacht nicht, lacht nie auf den Bildern aus ihrer Jugend. Auf späteren sieht man dann, warum: sie hatte vorstehende vordere Schneidezähne, einen weiten Überbiss. Wenn sie nicht lachte, war sie schön wie ihre Mutter. Also lachte sie nicht, lächelte nicht einmal. Man lebte ja noch nicht im Zeitalter der Zahnspangen, und korrigiert wurden solche Fehler erst durch die dritten Zähne. Das Familienfoto ist aufgenommen unter Pauls Utensilien und Trophäen, drei an der Wand aufgehängten Jagdgewehren und einem Feldstecher, zwei Schützenscheiben und zwei Geweihen Ein heiteres Bild ist es, an dem allenfalls stören könnte, dass die Kinder feiertäglich herausgeputzt sind, Helene aber über ihrem Kleid eine Schürze trägt und so dasitzt, als habe sie nur für das Foto flüchtig am Familientisch Platz genommen. Vielleicht täusche ich mich. Doch, ich wünschte geradezu, mich getäuscht zu haben. Aber es gibt ja keine Möglichkeit mehr, das festzustellen.
Nach dem Foto, so scheint's, hat Helene den Kaffeetisch abgedeckt. Vielleicht hat Hilde schon geholfen; ein Mädchen konnte das nicht früh genug lernen. Auf ihrem Stuhl sitzt nun Paul mit einer neuen Zigarre im Mund. Zwischen seinen Beinen steht, gelangweilt sehr augenscheinlich, der kleine Herbert. Der Tisch ist jetzt mit Jagdgeräten bedeckt, die der Vater anscheinend reinigt. An seinem Ringfinger ist außer dem Ehering der Siegelring zu erkennen, 'PZ' ist darin eingegraben, in Spiegelschrift natürlich. Er war zerbrochen, der Siegelring, so hatte ich ihn mit Hildes bescheidenem Schmuck bekommen. Ich habe ihn zusammenfügen lassen und trage ihn jetzt. Er ist etwas, das mein unbekannter Großvater getragen hat und nach ihm mein Vater und worüber nun ich verfügen kann. Ich trage den Ring als ein Zeichen der versuchten Versöhnung mit meiner Familie, die mir das Erwachsenwerden so schwer gemacht hat.
Ich weiß nicht, ob an jenem Foto-Tag außer dem Familienbild und dem Vater-Sohn-Bild vielleicht noch ein Mutter-Tochter-Bild entstanden ist. Das hätte doch nahe gelegen, wenn schon einmal jemand zu Besuch war, der eine Kamera besaß. Ich habe in Hildes Nachlass aber keines gefunden, und so wurde vielleicht keine kostbare Filmplatte auf die beiden verwendet. Vergrößert und aufwändig gerahmt wurde das Vater-Sohn-Bild, das auch Hilde zuletzt noch in ihrer Wohnung hängen hatte, allerdings an so versteckter Stelle, dass Nachfragen der seltenen Besucher nicht zu befürchten waren. Das Familienbild hingegen, das unmittelbar vorher entstanden sein muss, fand sich nicht einmal in Hildes Fotoalbum (sie hatte durch ihr Leben hin nur eins), sondern in einer Keksschachtel mit Bildern von verschiedenen Menschen aus verschiedenen Zeiten, die meisten unbeschriftet, mehr ein Müllplatz für Bilder als ein Aufbewahrungsort für wertgeschätzte Erinnerungen, oder ein vorläufiger Ort für Dinge, über die die Verfügung jemand anderem überlassen werden sollte, mir in diesem Fall.
Ich kenne die Grundstruktur meiner Familien-Erinnerungen. Es ist da wenig, was mir einfach als gut oder richtig oder heiter erschien oder gar als bewundernswert. Das ist gelernt, lange gelernt, und ist vielleicht der Kern dieser Erinnerungen. Eine immer kritischer werdende Distanz half mir, in der Familie zu überleben, ohne deren Wertvorstellungen zu übernehmen. Ganz kann das aber niemals gelingen, wie ich heute zu wissen glaube. Un-Heil wird nie mehr ganz heil. Damit ist zu leben.
Das Vater-Sohn-Bild hängt jetzt in meinem Arbeitszimmer, und ich kann es ansehen, während ich dies schreibe. Es hängt dort mit gleicher Absicht, wie ich den Siegelring des Großvaters trage, als ein Teil des Versuchs, den die Beschäftigung mit dem Nachlass meiner Tante mir ermöglicht hat, mich mit meiner mir so eigenen wie fremden Familien-Vergangenheit zu versöhnen.
In der Keksdose lag auch das Bild von Hildes Schulklasse, 28 Mädchen, dazu ein Lehrer in Anzug und Weste, mit hohem Kragen und Kneifer. Von den Kindern, die für das Bild vom Fotografen arrangiert, aber nicht zum Lächeln gebracht wurden, sieht keines aus, wie heute 14-Jährige aussehen. Allenfalls 12-Jährige meint man zu sehen, und nicht nur deshalb, weil die meisten die kindliche große Schleife im Haar tragen, den 'Propeller', der auch noch mich als Kind an Sonntagen, nun ja: zierte. Aber ich muss mich überzeugen lassen, dass sie 14 Jahre alt sind, denn das Kind in der Mitte der ersten Reihe hält ein Schild, auf dem zu lesen ist, dass dies die Oberklasse der 14. Gemeindeschule sei, und Hildes und also ihrer aller Entlassungszeugnis trägt das Datum des 28. September 1918, ein Tag kurz vor dem Ende des Kaiserreichs und seines Weltkrieges, der wenig später als erster gezählt werden musste. Fast ausnahmslos sehen die Mädchen aus, als seien sie von geistig sehr bescheidenem Format, wenn nicht geradezu zurückgeblieben. Hilde steht zwischen zwei solchen. Und sicher nicht nur, weil sie von Hässlichkeit umrahmt ist, wirkt ihr Gesichtsausdruck klar und schön. Wie bei ihrer Mutter Helene war die Schönheit in ihren mittleren Jahren vergangen oder vielleicht früher - Bilder fehlen -; aber bei Helene kam sie im Gesicht der 87-Jährigen nochmals zum Leuchten. Ich konnte das aber erst viel später auf Fotografien erkennen, nicht zu ihren Lebzeiten in ihrem Alltagsgesicht.
Nach der Schule gab es für Hilde keine Ferien. Am 28. September die Schulentlassung, am 1. Oktober Beginn des Besuchs der Städtischen Handelsschule für weibliche Personen, die ihrerseits das Abschlusszeugnis am 31. März 1920 erteilt. In den kaufmännischen Fächern und den Sprachen - ja, Hilde hat eineinhalb Jahre Englisch und Französisch lernen dürfen, hat es aber beruflich nie nutzen können - sind die Noten 'gut' und 'sehr gut', aber nur 'genügend' in den hauswirtschaftlichen und, wie in der Volksschule, im Turnen.
Aus dem gleichen Jahr wie das Schulentlassungszeugnis stammt das Konfirmationsbild. Hier wirkt die 14-Jährige viel älter, als sie war, eher 16-jährig in einem schwarzen Kleid mit vom Hals bis zum Saum durchgehenden Plisseefalten und der Andeutung eines Gürtels unter dem Busen, den sie doch gehabt haben muss, den aber das Kleid anscheinend wegzudrücken hatte. Die Gürtel bewegten sich in jenen Jahren weit nach unten. Als Kind - dies Bild kannte ich schon damals, aber die Einsicht in die Veränderlichkeit von Mode, ja, wahrscheinlich der Begriff 'Mode' überhaupt hatte mich noch nicht erreicht - waren mir diese Gürtel-Bilder stets Anlass zu albernem Lachen, in dem Verachtung mitschwang, die Verachtung für meine gesamte Familie, für die ich hier ein harmlos scheinendes Ventil fand. Aber das weiß ich erst jetzt. - Die Aufmachung der Konfirmandin, das Kleid dreiviertellang, darunter Schnürstiefel, sieht aus, als wollte man im Namen des Herrn dem Mädchen, das eben noch ein Kind gewesen war, mit der Kindheit gleich auch noch die Jugend austreiben. Hildes Konfirmations-Spruch mit einem Foto der Paul-Gerhardt-Kirche, die inzwischen als 'Ableger' der Gethsemane-Kirche gebaut worden war, lautete: "Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben." (Offenbarung 2,10). Half ihr das Bibelwort zum Leben? Konnte sie es verstanden haben, z.B. was die "Krone" bezeichnen sollte? Sie war nie so etwas wie "fromm", war auch nie kirchlich. Ihr Gesangbuch hat keine Gebrauchsspuren. Später in Wilmersdorf bezog sie das Gemeindeblatt der Auenkirche und überwies zu Weihnachten verschiedenen kirchlichen Einrichtungen Spenden. Geradezu peinlich klein waren die Summen übrigens, verglichen mit dem Geld, das ihr zur Verfügung stand.
Aber sie gönnte sich niemals etwas, sie konnte sich selbst keine Freude machen. Nur höchst selten hat sie sich etwas "beleistet". Das war ihr ganz eigenes Wort für eigentlich unnötige Ausgaben. Das einzige, was sie sich regelmäßig "beleistete", waren, bezeichnenderweise, seit sie im Westen wohnte, die Taxifahrten zum Büro, morgens hin, abends zurück, gar kein langer Weg. Diesen Luxus hat sie mir in ihrem letzten Lebensjahr gewissermaßen gestanden, beinahe gebeichtet. Damals brachte sie ja von sich aus einiges Erstaunliche zur Sprache. Was aber ihr Leben war, das war ihr Büro, ihr "Geschäft". Sie konnte es leiten nach den Anweisungen eines Chefs, der die Verantwortung hatte. Die Anweisungen gaben ihr Sicherheit, und die geborgte Autorität ermöglichte es ihr, im begrenzten Raum der Anweisungen sogar zu herrschen.
Hilde hat die Konfirmation als den Beginn ihres Erwachsenenlebens verstanden, wahrscheinlich nicht schon mit 14, aber später. Und so war diese ja auch über Jahrhunderte hinweg verstanden worden. Jedenfalls fand sich das Konfirmationsbild nicht nur in der Keksdose, sondern auch im Fotoalbum und ist dort das erste. Dies Album beginnt also 1918 und reicht mit Reisebildern bis 1934.
Hier will ich einmal innehalten. Kann es denn tatsächlich sein, dass Hildegard Zinke, die aufgeweckte hübsche Schülerin, der immerhin die Ausbildung für ein Büro ermöglicht wurde, am Leben ganz und gar nicht teilgenommen hat? Ich weiß für diese frühe Zeit nur die Antwort zu geben, die nicht das letzte Mal so oder ähnlich unbefriedigend ausfallen muss: Es gibt für mich keinen konkreten Anlass, das anzunehmen, aber leider auch keine unbestreitbaren Belege für das Gegenteil. Es gibt nur einige Anhaltspunkte, die ich nicht sicher deuten kann.
Woraus bestand Hildes Kinderleben, bevor sie in die Schule kam? Ich muss zu Klischees greifen, weil ich ja Erzählungen von gelebtem Leben fast nicht kenne, einiges Anekdotische ausgenommen. Das sagte ich schon. Ich nehme also an, dass sie und der kleine Bruder um die Mutter herum spielten, die im Haus als Schneiderin dazu verdiente. Ob sie sich besonders um die Kinder kümmerte, weiß ich nicht, aber warum nicht? Sie mochte Kinder. Die eigenen waren zwei und wären, fast, wenigstens drei gewesen: Jedenfalls hatte Helene 1907 eine Fehlgeburt - wenn's denn eine war und nicht eine Abtreibung. Das weiß ich wiederum nur aus Hildes Nachlass durch die Abschrift eines Dokuments, die an falscher Stelle aufbewahrt worden ist, die Abschrift einer Bitte ihres Vaters an seine Dienststelle um Beihilfe für eine Krankenhausbehandlung danach. Helenes Zustand war lebensgefährlich. Danach keine weiteren Kinder mehr. - Für Hilde gab es außer Spiel mit dem Bruder Schule und Schularbeiten, Zusammensein mit Freundinnen; das konnte ein Kinderleben füllen. Nein, ich möchte für diese frühe Zeit noch nicht annehmen, dass sie am Leben nicht teilgenommen hat.

Der Weltkrieg, der erste, ließ die gesamte Familie unberührt an Leben und Gesundheit, auch die größere. Es wurde niemals von einem Gefallenen, einem Verwundeten oder einem Gefangenen gesprochen. Zwar wurde ja überhaupt nicht von Familiengeschichte gesprochen, aber es fand sich auch in den Briefen im Nachlass keine solche Erwähnung. Das ist schon alles, was ich dazu weiß, und es ist fast nichts. Zur weiteren Familie zählen auf der Seite meiner Großmutter Helene ihre beiden Brüder, der Hilfslokomotivführer Franz Krüger, der noch mit 94 zweistündige Spaziergänge machte und mit 96 als Oberlokomotivführer i.R. starb, und der Friseurmeister Ernst Krüger mit eigenem Laden in Belgard, natürlich auch in Pommern. Auf der Seite von Paul Zinke gab es seine Schwester Lieschen geb. Zinke (später Li-chen, eigentlich wohl Elisabeth oder Elise) und seinen Bruder Herrmann Z. Dessen Frau war wohl Martha, von der es ein Foto mit ihrer Tochter Gertrud gibt, Hildes Cousine, die ich gekannt habe. Wer Emma Zinke war, immerhin eine Patin von Herbert, weiß ich nicht. Die Eltern von Paul Zinke wurden anscheinend nie besucht wie doch die Mutter von Helene, bei der ihre Kinder, als sie allein mit der Eisenbahn fahren konnten, regelmäßig ihre Sommerferien verbrachten. Hatten seine Eltern oder Verwandten Paul unter die Soldaten gesteckt, um ihn versorgt zu wissen, oder auch bloß, um ihn los zu sein? Wieder weiß ich nichts. Die Anfragen meines Vaters für den "Ahnenpass" führten zurück bis zur Nachricht von einem 1749 geborenen Joachim Zinke, aber sie brachten natürlich keine Familiengeschichte ans Tageslicht, nur Daten, denn sie waren ja aus Kirchenbüchern gezogen, und er suchte wohl nicht danach, oder er erzählte nicht davon.
Hilde hat als alte Frau, nach dem Tod ihrer Mutter, wieder kurze Briefe gewechselt mit Verwandten, deren Adressen sie ausfindig gemacht hatte. Sie hat sogar in Ansätzen versucht, so etwas wie eine Genealogie herzustellen. Da gab es Adelheid, die verwitwete zweite Frau ihres Cousins Georg Krüger; Zollhauptsekretär, der 1985 gestorben war, Großmutter eines Zwillingspärchens, das 1983 geboren wurde. Es gab unter gar nicht wenigen eine ihr bekannte und liebe Cousine, Gerda Nestler, das mittlere von fünf Kindern des Onkels Ernst aus Belgard, nun in Pulsnitz in Sachsen, von der zu Weihnachten immer ein Dresdner Stollen kam. Sie hatte anfangs der 90er Jahre zwei Kinder, Katrin und Andreas, und eine Enkelin, Stephanie. Von den Eltern der fünf Geschwister, Ernst und Hedwig, die 1944 meine Mutter und mich acht Monate vor dem Berliner Bombardements bewahrten, hatten Hilde und ihre Mutter, Ernsts Schwester, nichts mehr gehört, seit er (er allein?) nach der Flucht aus Pommern 1946 fünf Monate in der Kuglerstraße bei ihnen gewohnt hatte. Auch mit Helenes anderem Bruder Franz, dem Lokomotivführer, hatten sie nach dem Krieg 30 Jahre lang nur eine lockere Verbindung, gar keine mit dessen Sohn Gerhard, der ein Totschläger oder Mörder gewesen sein soll, aber nach Amerika fliehen konnte, wo er eine Mary heiratete. Das Hochzeitsfoto war in Hildes Keksdose. Sein Vater hat als alter Mann den verlorenen Sohn in Chicago besucht, hat sich mit dem anderen Sohn Georg, einem Vater von sieben Kindern, aber nicht versöhnt über einem Zwist, den Hilde nicht aufgeschrieben und nicht erzählt hat. Sieben Kinder, aufgewachsen in Uelzen, in meiner Generation dieser verkrüppelten, zerstrittenen Familie, leben oder lebten also, wie auch Katrin und Andreas und aus der Generation meiner Tochter das Zwillingspaar und Stephanie und wahrscheinlich noch viele andere. Ich, das Einzelkind, will wenigstens die Namen dieser sieben Geschwister nennen, der Kinder meines Großonkels Georg Krüger: Ingrid, Jutta, Horst, Bärbel, Margot, Klaus, Ute. Wir sind verwandt.
Die angeblich adoptierte Tochter von Lichen und ihrem Mann Fred, sie acht Jahre älter als er, ist in Wahrheit wohl uneheliches Kind von einem von beiden gewesen. Niemand hat mir das klar gesagt, und warum auch. Aber ich verstand schon irgendwann als Kind mehr, als man wohl meinte. Diese Tochter ist oder war Edith Steinemann in Quedlinburg, also auch eine Cousine von Hilde (und immer ja auch meines Vaters, das vergesse ich leicht bei seiner Familienabstinenz), und auch eine, die Kinder in meiner Generation hat und Enkel in der Generation meiner Tochter. Sie ist die einzige, mit der ich nach Hildes Tod kurz korrespondiert habe und die ich hatte besuchen wollen. Aber der Besuch kam nicht zustande, letztlich durch meine Schuld nicht. Hätte sie dann vielleicht mit mir das besprochen, worüber sie noch mit Hilde sich hatte austauschen wollen, wie ich in einem ihrer Briefe las, "das, was nur wir beide wissen"? Ich glaube nicht. Für sie war ich ja eine Fremde. 2001 stand ihr Name nicht mehr im Telefonbuch von Quedlinburg.
Es hat eben doch Familiengeschichten gegeben, nur ich habe sie nicht erfahren. Und die Streithammelei, unter der meine Mutter so gelitten hat, scheint ein Krügersches Familienerbe gewesen zu sein.

Ich möchte noch einmal auf Hildes und Herberts Ferienreisen zurückkommen. Ich denke, wenn Hilde in ihrer Kindheit und Jugend Glück erlebt hat - ein Wort, das mir im Zusammenhang mit ihr fast unpassend vorkommt, soviel Emotion ist darin -, dann ist es in der pommerschen Heimat beider Eltern gewesen. In ihren letzten Lebensjahren, in denen ich sie manches fragte und meistens keine Antwort bekam, im allerletzten Lebensjahr aber Auskünfte sogar zu Ungefragtem, da war es allein das Wort 'Stargard', das ein verklärtes Lächeln auf ihr Gesicht zauberte und sie Wörter aussprechen ließ, als streichelte sie sie: die Ihna, das Mühlentor, die Marienkirche, die Friedrichstraße, wo ihre Großmutter gewohnt hatte, Friedrichstraße 15, das schöne Rathaus. Als die Grenze nach Polen geöffnet worden war und ich auf dem Atlas festgestellt hatte, was mich über die Maßen erstaunte, dass nämlich Stargard von Berlin nur halb so weit entfernt liegt wie Hamburg; als ich meiner alten Tante das sagte und ihr ausmalte, ich könnte sie doch in einem bequemen Auto - hinfahren, tatsächlich hinfahren, es sei erreichbar und leicht, in zwei Stunden vielleicht, da schien sie es tatsächlich einen Augenblick lang zu erwägen, jedenfalls die Vorstellung in sich hineinzulassen. Das war schon viel. Aber das Lächeln, das auf ihrem Gesicht erschien, war doch wohl ein Lächeln der Erinnerung, und ihm folgten die Tränen, die sie wie alle ihre Tränen sofort abwischte, so als gäbe es, wenn sie nicht weinte, auch keinen Anlass zum Weinen. "Nein, nein, es geht nicht. Ich bin am besten in meiner Wohnung aufgehoben." - Ich bin dann ohne sie hingefahren, mit ein paar alten Postkarten aus Stargard in der Hand, die sie mir mitgab. Den Wasserturm habe ich gefunden und die Marienkirche, die Ihna und den Mühlenteich, vielleicht die Friedrichstraße, die eine Hauptstraße gewesen ist. Der Bahnhof, auf dem die Geschwister doch immer angekommen sein müssen, ist ein bescheidener Bau vielleicht aus den 50er Jahren. Ich habe das alles fotografiert und habe ihr die Bilder geschickt. Sie hat aber wenig erkannt, eigentlich nur die Marienkirche, und selbst dabei waren wir uns beide nicht sicher. (Stargard ist im Krieg fast völlig zerstört worden.) Und ich musste einsehen - die körperlichen Beeinträchtigungen, die sie fürchtete, nicht einmal gerechnet -, dass es besser gewesen war, sie in ihren Erinnerungen zu lassen an die Stadt, wie sie sie gekannt hatte, an die Wohnung der Großmutter, die sie mir einmal beschrieben hat, das Grab ihres Großvaters und die weiten sommerlichen Weizenfelder in der Umgebung, über die der Wind strich. Diese Einzelheit hat sie mehrfach erwähnt. Was aber ist Glück anderes als intensive Teilnahme am Leben? In Stargard hat meine Tante Hilde am Leben teilgenommen. Dies eine Mal weiß ich es.
Und erste Verliebtheiten hat's doch wohl gegeben, dort oder in Berlin oder anderswo. Ich nehme es so an, weil ich sie doch wenigstens nicht zu früh festlegen will, diese Deutung, meine Tante habe am Leben nicht teilgenommen. Denn ich habe auch einige männliche Namen auf den Rückseiten von Ferien-Fotos gefunden habe¸ Namen von Männern, die sich zur Erinnerung empfehlen (Erinnerung woran?), und einen Liebesbrief, einen einzigen allerdings nur, aber einen wirklichen Liebesbrief! Ohnehin begann es in Hildes Leben mit der Entsagung, oder wie soll ich es sonst nennen, früh genug. Früh in ihrem Leben könnte in ihr die Vorstellung gewachsen sein, dass sie ein Opfer zu bringen habe - das möglicherweise nicht einmal ein großes war. Ich werde das darzustellen versuchen. Wie ich nämlich glaube und einsehbar machen möchte, fing alles im Januar 1919 an, noch zu Hildes Zeit auf der Handelsschule, fing es an mit dem Unfall, der ihre Mutter die Finger der linken Hand kostete.

Das ist eine Geschichte in der Geschichte, die ich hier einfügen will, weil ich glaube, dass sie mancherlei erklären kann. Einige weitere Begebenheiten werden noch mitzuteilen sein, aber von denen weiß ich viel weniger, und sie alle scheinen nur die eine, lebensentscheidende, zu verstärken. Auch von diesem Unfall Helenes weiß ich nur, was die Handakte von Hildes Vater, meinem Großvater, enthält, 46 gezählte und einige ungezählte Blätter, die seinen Prozess, einen Kunstfehlerprozess, gegen die Charité‚ das Berliner Universitätsklinikum, dokumentieren, den er zwischen 1919 und 1923 führte und verlor, der kleine preußische Polizeibeamte Paul Zinke. Der Verband der Kameradenvereine der Kgl. Schutzmannschaft Preußens e.V. (im Briefkopf noch so) gewährte ihm Rechtsschutz und übernahm die Prozess- und Anwaltskosten. Diese Handakte enthält fast nichts, wenn man nicht nur vom Unfall und seiner mutmaßlichen Entwicklung, sondern von seinen Folgen im Leben der Familie etwas wissen will. Das ist kein Wunder, denn es sind ja Unterlagen, die gerichtsverwertbar sein mussten. Andererseits gibt es keine weitere Begebenheit im Leben des mir bekannten Teils meiner Familie und also auch in Hildes Leben, die nur annähernd so gut dokumentiert ist. Das sind Ereignisse ja oft nur dann, wenn ein Prozess um sie geführt wurde. Verglichen mit dem wenigen, was ich sonst an Unterlagen fand, habe ich also hier geradezu in Material geschwelgt. Fast unnötig hinzuzufügen, dass ich diese Akte zu Hildes Lebzeiten nicht kannte, auch von ihrer Existenz nicht wusste.
Was geschehen ist am 6. Januar 1919 nachmittags kurz vor 3 Uhr und an den folgenden Tagen, das kann ich nur diesen Akten entnehmen. Ich kenne also den Vorgang nur so, wie ihn Paul nach seinen Fähigkeiten gerichtsverwertbar dargestellt und sein Rechtsanwalt ihn ziemlich wörtlich in die Klageschrift übernommen hat. Besondere Mühe hat dieser sich ganz offensichtlich nicht gegeben. Über die Ängste der Familie ist natürlich da nichts enthalten, aber ich denke sie mir sehr groß. Es ging, ein zweites Mal nach der Fehlgeburt, um Helenes Leben.
Sie war dabei gewesen, den Weihnachtsbaum zu Brennholz zu machen. Mit einem Messer trennte sie Zweige ab. (Warum nicht mit einer Säge?) Das Messer rutschte ab und fuhr in den linken Arm unterhalb des Ellenbogengelenks. Es entstand ein etwa 1 cm langer Schnitt oder Riss in der Speichenschlagader, den der die Erste Hilfe leistende Arzt Dr. Seligsohn angeblich nicht erkannte. (Wie konnte er ihn aber nicht erkennen, wenn das Blut 1 bis 2 m hoch aus der Arterie spritzte, wie der Kläger allerdings erst in seinem letzten Schreiben formuliert?) Dr. S. nähte nur die äußere Wunde. Dieser Arzt behandelte eigentlich keine Kassenpatienten, war aber der nächsterreichbare in dieser Notfallsituation gewesen, wohnte im Nebenhaus. Ein Arzt für die Bessergestellten, seinem Namen nach Jude. (Ich habe lange überlegt, ob ich das wohl erwähnen dürfe. Aber ich mache ihm nicht den Vorwurf, dass er als Jude keine sorgfältige Erstversorgung geleistet hat, sondern dass er das als Arzt nicht getan hat, der für kleine Leute eigentlich nicht da war.) Als Zeuge wollte er im Prozess nicht aussagen, nur als Gutachter, und das Gericht gestattete ihm das. - Am 13. Januar abends gegen 10 Uhr, also eine ganze Woche nach dem Unfall, beginnt Helenes Wunde wieder zu bluten. Die Blutung wird aber durch einen trockenen Verband zum Stillstand gebracht, den nun ein Kassenarzt anlegt. Er wird am folgenden Tag morgens um 7 und gegen 11.15 Uhr nochmals gerufen, setzt auf zwei vom Ehemann laienhaft angelegte Verbände einen Druckverband und versieht die Patientin mit einem so genannten Dringlichkeitsschein zur sofortigen Aufnahme in die Chirurgische Universitätsklinik, wo beide, Helene und Paul, mit einer Droschke um 12.15 Uhr eintreffen. Der Dringlichkeitsschein "wurde übergeben", aber von den Ärzten "beiseite gelegt". So steht es in der Akte. Er taucht im gesamten Prozess im Original nicht auf und wird vom Gericht nicht angefordert.
Grund des Rechtsstreits ist es nach der Darstellung des Klägers, dass die Finger der linken Hand seiner Frau im Klinikum abstarben, weil der Notfall-Druckverband am Tag der Einlieferung von mittags bis 9 Uhr abends liegen gelassen wurde, obwohl die Verletzte, die schmerzfrei angekommen war, erst starke, dann fast unerträgliche Schmerzen bekam und auch Fieber. Der Verband sei nur oberflächlich angesehen und ihr Fall nicht als dringlich eingestuft worden. Zeitweilig seien nicht einmal Ärzte erreichbar gewesen. Auf den Straßen, das wird in den Prozessakten an keiner Stelle erwähnt, war Bürgerkrieg. Es ging, kurz vor den Reichstagswahlen am 19. Januar, letztlich um die Frage von Rätedemokratie oder parlamentarischer Demokratie. Am 15. Januar waren Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet worden. Es gab viele andere Tote und Verletzte. Die Ärzte waren vermutlich mit ihnen beschäftigt. Helene, die Untertanin des untergegangenen Kaisers, wurde also indirekt ein Revolutionsopfer.
Das Gericht folgte nicht der medizinisch natürlich laienhaft und sprachlich ungelenk formulierten Darstellung des Paul Zinke, die sein Rechtsanwalt zu glätten sich keine besondere Mühe gemacht hatte, sondern der des Gutachters des berühmten Geheimen Medizinalrats Prof. Dr. August Bier, des Leiters der Klinik und also indirekt mitbeklagt. (Warum hatte der Rechtsanwalt des Klägers gerade ihn zum Gutachter bestellt?? Warum hatte er seine eigene juristische Sachdarstellung nicht sorgfältig abgefasst?? Beginnt schon hier eine für Paul Zinke kaum zu durchschauende Kungelei der Gebildeten??)
Es ergibt sich, dass Paul Z. den Prozess verliert, weil sein Gutachter seine ärztlichen Kollegen schützt und die klar dargestellte, nur nicht in Medizindeutsch formulierte Wahrheit leugnet. Das Gutachten läuft auf das Folgende hinaus:
Der Erste Hilfe leistende Arzt habe die Schlagaderverletzung nicht bemerkt und auch nicht bemerken müssen. Dazu hätte es klinischer Untersuchung bedurft. (Hätte er denn nicht, wenn er schon kein Blut gesehen haben wollte, eine solche Verletzung wenigstens vermuten und Helene eben zu solcher Untersuchung schicken müssen?) Der Druckverband sei "das übliche Verfahren der vorläufigen Blutstillung", aber nicht die Ursache des Absterbens der Finger. Blutstauungen, die zum Absterben von Gliedern führten, seien so deutlich, dass sie gar nicht übersehen werden könnten, seien also (!) nicht vorhanden gewesen. Daher sei auch weder die Entfernung dieses Verbandes noch eine sofortige Operation nötig gewesen. (Die sich bis zur Unerträglichkeit steigernden Schmerzen der Verletzten, das erst im Krankenhaus auftretende Fieber?) In der dann doch folgenden Operation habe die Schlagader an zwei Stellen unterbunden und das verletzte Stück herausgeschnitten werden müssen. Nähen - dies sei, zugegeben, die modernere Behandlungsmethode - könne man nur bei nicht infizierter Wunde. Diese sei aber infiziert gewesen, und in solchem Fall führe die Methode stets zum Misserfolg. (Paul Z. hatte gegen das deutlich sichtbare äußere Zeichen der Infektion, eine starke Schwellung, ein Hausmittel angewandt, Essigsaure Tonerde.) Die Unterbindung der Ader sei daher nötig und richtig gewesen. Sie führe zwar häufig zum Brand mit der Folge des Absterbens der Gliedmaßen und habe - leider - auch in diesem Fall dazu geführt, nicht aber das "Zuwarten". Ohne eine Operation mit diesem Risiko wäre die Kranke an Nachblutungen gestorben. Die zweite, die Ellenarterie, übernehme zwar häufig in solchen Fällen die Versorgung der Extremitäten, sei aber mitunter dazu zu schwach ausgebildet, was bei dieser Patientin dem gemäß wohl der Fall sei. "Der Brand ist auch nicht die Folge eines abschnürenden Verbandes, denn die Abschnürung durch den Verband ist, wie ich schon auseinandersetzte, gar nicht zu übersehen. Es geht dies unzweifelhaft aus der Aussage der behandelnden Ärzte und der Krankengeschichte hervor. Man wird wohl Ärzten, die seit langen Jahren an einer chirurgischen Universitätsklinik tätig sind, zubilligen müssen, dass sie so klare Erscheinungen, wie sie ein abschnürender Verband mit sich bringt, erkennen können. Und andererseits zeigt die tausendfältige Erfahrung, dass Unterbindungen von Hauptarterien die Gefahr des Brandes mit sich bringen. Die Unterbindung war aber in dem vorliegenden Falle nicht zu vermeiden."
Paul Zinke schrieb unter die Abschrift dieses Gutachtens vom 7. Februar 1923, die sein 17-jähriger Sohn angefertigt hatte, mein Vater, das bekannte Sprichwort von der Krähe, die einer anderen nicht die Augen aushackt.
Sein Anwalt machte meinem Großvater pflichtgemäß Mitteilung über den Termin des Ablaufs der Berufungsfrist (21. Juni 1923). Der Verband der Polizeibeamten Preußens teilte ihm mit, Rechtsschutz für eine Berufung werde wohl nicht gewährt werden. Die Begründung lautet: "Es stehen sich hier ärztliche Gutachten gegenüber und kann gesagt werden, dass selten ein gewünschter Erfolg bei ähnlichen Klagesachen eingetreten ist." (!!)
Paul Z. erhielt also nicht, was er für sich und seine Frau hatte erreichen wollen und was er am 18. Januar 1920, ein Jahr nach dem Unfall (es herrschte bereits Inflation), so zusammenstellte:
"1. Als einmalige Entschädigung für die Verstümmelung,
Schmerzensgelder und dauerndes seelisches Unbehagen
beim Anblick der verkrüppelten Hand 10 000 Mark."
"4. Zum Nachteil im Fortkommen meines eigenen Daseins
[!] und der Verstümmelten selbst, weil sie ihrem
Beruf als Schneiderin nicht mehr nachgehen kann"
usw. "jährlich mindestens 1500 Mark."
"5. "Bitte ich die unentgeltliche Beschaffung einer
künstlichen Hand und deren dauernde Instandhaltung
zu erwirken."
Wichtig für die Lebensgeschichte der Tochter Hilde (der Sohn wird nicht genannt) sind die Punkte 2 und 3. Der zweite lautet:
"2. Für eine dauernde Aufwartung 120 M monatlich, zumal
meine 16-jährige Tochter dereinst ihren eigenen
Hausstand gründen muss und die Verletzte dann allein
auf fremde Hülfe angewiesen ist."
Die Verletzte war damals also auf die Hilfe ihrer in Wirklichkeit erst 15-jährigen Tochter angewiesen, die im Jahr zuvor, während der zwei Monate des Krankenhausaufenthalts ihrer Mutter, diesen Haushalt vielleicht zeitweise allein geführt hatte. Vielleicht war aber die Großmutter aus Stargard zu ihrer Anleitung gekommen. Darüber weiß ich wiederum nichts. Ich weiß auch nichts davon, wie die Familie seelisch mit dem Unfall fertig wurde, mit diesem aus ihrer aller Leben nie mehr zu entfernenden Schicksal. Besonders die Tochter war betroffen, wie der noch ausstehende Deutungsversuch von Punkt 3 zeigen soll.
Man wird sich die niemals zu beantwortenden und sich doch immer wieder in die Gedanken einfressenden "Was-wäre-gewesen,-wenn"-Fragen gestellt haben, die auch ich mir stelle: Wenn Helene richtiges Werkzeug gehabt hätte ... Wenn der Junge versucht hätte, den Baum zu zerlegen, oder sein Vater ... Wenn der Privatarzt mit schuldiger Aufmerksamkeit bei der Kleinbürgerfrau gearbeitet hätte ... Wenn die Verletzte oder ihr Mann oder ihr Arzt die Infektion der Wunde als ernsthafte Komplikation angesehen hätten ... Wenn, als das dann nach einer Woche geschah, der Arzt Helene einen Tag früher ins Krankenhaus geschickt hätte ... Wenn Helene selbst die Ahnung zugelassen hätte, dass der Stich in den Arm keine harmlose Fleischwunde, sondern eine lebensgefährliche Arterienverletzung bewirkt hatte ... Wenn genügend Ärzte in der Charité gewesen wären ... Und sonst?
Ich glaube, dass Helene klagte und anklagte. Ich war einige Male dabei, wenn sie die Geschichte ihrer linken Hand erzählte (und diese Geschichte aus der Familie erzählte sie und oft!), und immer war es Klage und Anklage, Klage über den Anblick der verkrüppelten Hand, Anklage gegen den Geheimrat Bier, den ich als Kind immer für schuldig hielt im Sinn einer von ihm verpfuschten Operation. Einmal hat sie die Geschichte einer Hausbewohnerin erzählt, der am folgenden Tag ein Auge entfernt werden sollte. Ich fand das schlimm, aber es war wohl als Trost gemeint: Sie werde wieder ein beinahe normales Leben führen können.
Nur wenige Fotos von Helene haben sich erhalten nach dem oben beschriebenen Familienbild, das sie als 28-Jährige zeigt. Es gibt erst wieder eines der Mittfünfzigerin, die mit aschenem Gesicht neben ihrer alten verhutzelten Mutter steht, wohl an der Ihna in Stargard, dann welche von der 60-jährigen Großmutter mit mir als Baby und von der 80-Jährigen, der 87-Jährigen, deren frühe Schönheit in ihrem Gesicht wieder zu erkennen ist, von der 90-Jährigen, die noch immer bei klarem Verstand und gesund ist, und von der 100-Jährigen an ihrem Geburtstag, die schon in eine andere Welt schaut, aber einen Sektkelch noch selbst in der rechten Hand hält und daraus getrunken hat. Dies Foto habe ich gemacht, denkend, wie es dann auch war, es sei das letzte. Immer hat sie darauf geachtet, ihren Handstumpf zu bedecken oder zu verstecken, auch noch bei diesem letzten Bild. Es war in über 60 Jahren eingeübt.
Wie schnell sie sich nach dem Unfall 1919 rehabilitiert hat, weiß ich nicht, jedenfalls vollständig. Im Haushalt und beim Schneidern gab es nicht eine einzige Arbeit einschließlich der feinsten Näharbeiten, die sie nicht sorgfältig und ohne jede Hilfe ausgeführt hätte. Aber 1920 kann das noch nicht absehbar gewesen sein. Bis Mitte 1923 zog sich ja der Prozess hin bzw. war die Entscheidung zu fällen, keine Berufung einzulegen gegen ein Urteil, das erbitterte.
Kann ich begründete, wenn auch nicht bewiesene Vermutungen anstellen darüber, was mit der Tochter Hilde in jenen Jahren geschah? Ich glaube, ja. 1923 war sie schon berufstätig als Kontoristin. Ihr Vater scheint das als Zurückbleiben seiner Lebensplanung für sie angesehen zu haben, denn die dritte seiner Forderungen im Prozess lautete:
"3. Für Entschädigung meiner Tochter selbst, die unter
diesen Umständen einem Beruf als Beamtin nicht
nachgehen kann und dadurch eines Gehalts von
monatlich etwa 350 bis 400 M verlustig geht zum
Schaden der Angehörigen und für sich selbst
ihr Leben lang."
In diesem Satz steckt die Vorstellung, als müsse die Tochter der Mutter nach dem Unfall zur Seite stehen - "ihr Leben lang". Und der fiktive Verlust eines fiktiven Gehalts wird beklagt - "zum Schaden der Angehörigen und für sich selbst"; in dieser Reihenfolge. Als sei es selbstverständlich, scheint der Vater die Tochter zur lebenslänglichen Pflegerin der Mutter bestellen, sie ihr aufopfern zu wollen.
Nun stehen diese Sätze in einer Neufassung der Aufstellung der Forderungen des Klägers innerhalb des Prozesses, angepasst an die zunehmende Inflation. Paul Zinke wollte möglichst viel herausholen. Und dennoch scheint mir die Forderung in 3) mit dem ungeschickt, aber eben dadurch emphatisch wirkenden nachgestellten "ihr Leben lang" etwas von seinem wirklichen, hilflosen Denken unfreiwillig zu offenbaren.
Widersprüchlich war es zudem. Denn entweder würde die Tochter nach 2) einen eigenen Hausstand gründen - dann hätte sie vermutlich Kinder großzuziehen und würde nicht arbeiten und ihrer Mutter nicht beistehen können. Oder sie würde "Beamtin" werden und dann wohl nicht heiraten, aber ihrer Mutter beistehen, oder sie würde nicht Beamtin werden können oder müssen (Beamtin welcher Art übrigens?), keinen Beruf haben, aber eine Art Rente, und sie würde ihrer Mutter beistehen. So ganz klar war das alles Paul Z. vielleicht selbst nicht. Aber was er hier niederschrieb, wird ja doch in der Familie besprochen worden sein, selbst in dieser Familie. Und Hilde muss bemerkt haben, dass über sie, das Mädchen, verfügt wurde. Und sie fügte sich, "ein Leben lang".
Helenes Tochter hat nicht geheiratet, stieg zur Büroleiterin der Berliner Niederlassung einer erst mittelständischen, dann sich sehr vergrößernden Firma auf, bekam Prokura, hatte zeitweilig mehr als 30 Angestellte "unter sich", blieb bei der Mutter wohnen, die nach ihrem schweren Unfall nie mehr krank war, arbeitete bis zu ihrer Rente noch spät am Abend im Büro und pflegte dann die Mutter bis in deren 101. Lebensjahr.
Dass ihr Leben so verlief, schien ihr kein Grund zu sein, mit ihrem Schicksal zu hadern, das, wie ich meine, am 6. Januar 1919 begonnen hatte, ihr auferlegt, ihr zugemutet wurde. Nach dem Tod ihrer Mutter schrieb sie mir: "Trotz allem Schweren, das die letzten Jahre mit sich brachten, kann ich noch nicht aufatmen. Oma fehlt mir sehr; schließlich ist es ja meine Mutter, mit der ich, seitdem wir beide allein waren, alles gemeinsam gemacht habe. Ursprünglich hatte ich ja meinen Beruf, der mich auch ausfüllte, viel von mir verlangte, aber Oma war immer für mich da, um mir alle häuslichen Wege zu ebnen und leicht zu machen. Als das Schicksal es forderte, habe ich ihr stets gern zur Seite gestanden, obwohl es körperlich manchmal recht schwierig war, und es war auch nicht leicht mit anzusehen, wie ihre Kräfte und das Augenlicht täglich weniger wurden. Sollte ich sie damit allein lassen? Das ging einfach nicht, und ich hatte auch niemals das Empfinden, von dem, was heute als selbstverständlicher Anspruch an das Leben gilt, etwas versäumt zu haben." Das ist der einzige Brief mit einer wirklichen Mitteilung, den ich je von ihr erhielt, gleichzeitig mit einem meines Vaters, der sie sicher zu dem ihren ermutigt oder aufgefordert hat. Oder könnte er ihn gar für sie formuliert haben? Und meinte sie wirklich, ohne eine Partnerschaft habe sie nichts versäumt? Und warum eigentlich schrieb sie mir das? Ich hatte doch nie etwas Verachtungsvolles gesagt.
Auch die Männer der Familie traf Helenes Unglück noch, verspätet. Der hochbegabte Sohn musste die Oberrealschule 1922 mit dem "Einjährigen", also der Obersekunda-Reife, verlassen. (Das Wort erhielt sich, obwohl die Sache in der Republik keine Bedeutung mehr hatte. Ursprünglich, im Kaiserreich, brauchten die Abgänger der 10. Klassen nur ein Jahr Wehrdienst abzuleisten, dagegen drei Jahre alle anderen.) Hier addiert sich Helenes privates Unglück (sicher glaubte man noch, sie werde nicht mehr mit Schneidern hinzuverdienen können) zu dem des gesamten Volkes, dem schleichend schon 1920 beginnenden Geldwertverfall. Ich nehme an, dass die Eltern mit ihrem Anliegen, den Sohn eine Lehre machen zu lassen statt das Abitur mit anschließendem Studium, zu den Lehrern gegangen waren und hörten, was sie zu hören wünschten: "Der macht seinen Weg auch so." Das tat er, wurde Bankangestellter und später sogar Bankdirektor, wenn auch untersten Ranges, einer, dem gerade noch kein Dienstwagen zustand. Die von Jaminets, die Hausbesitzer, die schon den Musikunterricht der Kinder bezahlt hatten, haben lange bei seinen Eltern für Herberts Studium geworben, auch monatliche Unterstützung in Aussicht gestellt, notfalls die gesamte Finanzierung. Das erzählte Hilde mir sehr spät in ihrem Leben, und dass Germanistik eines seiner Fächer hätte sein sollen, und Französisch und Geschichte. Er wäre gerne Lehrer geworden. Das wurde dann ich, die erste Studierte in der Familie. Seine Eltern Zinke hatten die Gönner von Jaminet vor der Entscheidung zur Banklehre des Sohnes nicht gefragt, die darüber sehr enttäuscht waren und mit Recht, meine ich. Es war wohl Kleinbürgerstolz, die Kinder alleine ehrbar großzuziehen, Unsicherheit vor der Schwelle zu den unbekannten Räumen der universitären Bildung, Sorge, dass ein zu sehr gebildeter Sohn ihnen innerlich verloren gehe. Etwas als geschenkt annehmen, das hat in dieser meiner engeren Familie niemand gekonnt, zu keiner Zeit. Immerhin für Herbert die Banklehre, eine in Schlips und Anzug. Seiner Familie entfremdet hat er sich dennoch.
Paul Zinke starb nur zwei Jahre, nachdem er hatte einsehen müssen, dass er zwar Recht hatte, sein Recht aber nicht bekommen würde. Man sagte mir, so meine ich mich zu erinnern, er sei an Herzversagen gestorben. Vermutlich ist das wahr. Darüber, ob er herzkrank war oder was er sonst für eine Vor-Krankheit hatte, weiß ich von Hilde nichts als dies mir seit je Bekannte, das sie als alte Frau wiederholte. Als Soldat und als Polizist kann mein Großvater nicht herzkrank gewesen sein. Seit ich mit dem Nachlass seiner Tochter umgehe, stelle ich mir aber manchmal die Frage, die natürlich an sämtlichen Familientabus rüttelt, ob er nicht vielleicht einen Jagdunfall inszeniert hat. Da ich ja schon aus Gründen der Wahrscheinlichkeit unterstellen muss, dass sich auch in dieser schweigenden Familie mehr ereignet hat, als mir mitgeteilt worden ist oder ich behalten habe - Helenes voreheliche Beziehungen zu ihrem Verlobten beispielsweise habe ich sozusagen "entdeckt" und ihre Fehlgeburt 1907 -, erlaube ich mir die Äußerung solcher Vermutung, und auch, weil ich wagen will, etwas ungeheuerlich Erscheinendes in die Ereignislosigkeit meiner Familie hinein zu denken. Ein Motiv hätte er gehabt: Er war zutiefst gekränkt worden. Vielleicht hatte die Herzkrankheit sich in den 20er Jahren erst ausgebildet, vielleicht ihn dienstunfähig gemacht mit vermutlich geringer Pension. Gegen meine Vermutung spricht: Er hätte dann wissentlich die Fürsorge für seine erst 46-jährige Witwe seinen Kindern auferlegt. Er starb mit 53 Jahren. Für die zurückbleibende Familie der zweite Schicksalsschlag innerhalb weniger Jahre. Und das Ende geselligen Lebens, das es gegeben hatte, wie einige wenige Fotos es zeigen, das aber wohl von Pauls Polizeikameradschaft ausgegangen war.. Die Witwe wurde nicht mehr eingeladen.
Der 20-jährige, jugendlich Melancholisches dichtende Sohn tröstete sich und die Familie mit den allenfalls vage christlichen Versen, die auf dem Grabstein seines Vaters eingemeißelt wurden und die er später auch den Todesanzeigen für seine Frau und seine Mutter voranstellte:
"Keine Träne, kein Schmerz
weckt dir die schlafenden Lider.
Stille doch, törichtes Herz,
Irgendwo sehn wir uns wieder."

Den nie gekannten Großvater auf einem der Pankower städtischen Friedhöfe zu besuchen mit Hilde, meiner Tante, war in meiner Kinderzeit ein übliches Ritual, das sagte ich schon. Für mich war es einfach ein Ausflug heraus aus dem Steinhaufen der Großstadt. Auf dem Friedhof entstand 1948 mit Hildes Agfa-Box mein erstes Foto: Sie im Nadelstreifenkostüm an einer Hecke stehend. - Habe ich denn auch bei den Friedhofsbesuchen nichts von meinem Großvater erfahren? Habe ich gar nicht gefragt? Oder habe ich das Mitgeteilte vergessen, weil es in meiner Lebenswirklichkeit nicht enthalten war? 22 Jahre war er tot, als das Foto entstand. Und seit wann von seiner Familie vergessen?
Herbert, hätte man ihn Abitur machen lassen, wäre im Todesjahr seines Vaters im ersten Studienjahr gewesen. Die nur fünf Jahre zwischen der Stabilisierung der Hyperinflation 1923 und der Weltwirtschaftskrise 1929 gelten als die 'goldenen' Zwanziger. Lebenssorgen hätte er dank ihrer und Gertraud und Ernst von Jaminets als Student nicht zu haben brauchen, hätten seine Eltern, hätte er selbst es annehmen können, dass sie aus ihrem Überfluss sein Studium finanzieren wollten. So teuer wäre es nicht gewesen, und am Lebensrausch dieser Jahre nahm der zurückhaltende und ernsthafte junge Mann nicht teil. Helene, Hilde und ihm ging es auch nach dem Tod des Ehemannes und Vaters finanziell nicht schlecht. Helene bekam eine Witwenpension, die Kinder blieben bei ihr wohnen, verdienten und wurden nicht arbeitslos; Hilde wenige Monate 1933. Doch, sie versuchte noch am Leben teilzunehmen. Ihr Fotoalbum zeigt Bilder von drei verschiedenen privaten Faschingsfesten, sie mit ihrer Freundin Fiddy und einer anderen besuchte, die Lenchen Balke sein könnte, auch eine enge Freundin, die aber später aus ihrem Leben verschwand. Leider sind alle undatiert, auch die, die von einem Firmenausflug stammen könnten. Zwei davon tragen auf der Rückseite Widmungen eines Mannes, die den Grad an Innigkeit in der Beziehung nicht erkennen lassen: " Für Hilde zum lieben Gedenken an Hans" und "Zum frdl. Gedenken an Deinen Hans." Von künftigem "Gedenken" wird bei Abschieden geschrieben, und es scheint mir dann beliebig zu sein, ob es sich um ein 'liebes' oder nur um ein 'freundliches' Gedenken handelt und ob sich, überkreuz dazu, "Hans" verabschiedet oder "Dein Hans" Immerhin ein Du, aber wohl nur ein 'Du' unter Kollegen.
Dann dokumentiert das Fotoalbum für 1925 eine erste Ferienreise, Hilde und Fiddy in einem kleineren Kreis am Strand des Ostseebades Ahlbeck auf Usedom und in einem größeren vor der Pension. 1926 sind Herbert und sein Freund Werner Potrafky im Thüringer Wald, 1927 Hilde und Fiddy in Krummhübel im Riesengebirge. Auf einer Postkarte nach Hause der Satz: "Gesellschaft haben wir bisher noch nicht gefunden." Lies: männliche. Deshalb fuhren ja die Freundinnen zusammen in Urlaub. Die Gesellschaft fand sich aber doch noch und hieß Herbert W., aber Weiteres wurde nicht daraus, und im folgenden Jahr empfahl sich Kurt A. zu freundlichem Gedenken, und es wurde auch nichts daraus. Mit Fotos von einer Reise an den Schliersee 1934 endet das Album.
Von der "Wanderfahrt durch Thüringen" im Mai/Juni 1926, ein halbes Jahr nach dem Tod des Vaters, schickte Herbert seiner Schwester aus Weimar eine Liliput-Ausgabe der Leiden des jungen Werthers, weimar-inspiriert oder werner-inspiriert? Von 1928 haben sich nämlich Fotos von einem Ausflug in die Umgebung Berlins mit Herbert und Werner erhalten: Hilde zweimal allein fotografiert, ihr schönes, ernstes Gesicht, einmal Herbert allein, einmal Werner allein, einmal die Geschwister. Das Foto, um das es recht eigentlich gegangen sein könnte, Hilde und Werner, ist nicht vorhanden, ist nicht gemacht oder nicht ins Album geklebt worden.
Werner P. hatte Hilde im Jahr zuvor den Liebesbrief geschrieben, jenen einzigen überhaupt, der im Nachlass erhalten ist. Es könnte allerdings mehr gegeben haben, wahrscheinlich sogar, nach dem Text dieses erhaltenen. Aber Hilde hat ja im Jahr vor ihrem Tod auch Briefe vernichtet. Diesen französisch geschriebenen aber hatte sie mir selbst zuvor zum Lesen und Übersetzen gegeben. Nun ist ja nichts Ungewöhnliches daran, dass ein Mann einer Frau einen Liebesbrief schreibt. Nur in Verbindung mit meiner Tante Hilde, die, in späteren Jahren sicherlich, immer mehr nicht lebte als lebte, die eine gehorsame Tochter war und ihr Leben ihrer Mutter widmete (nach ihrer Darstellung ja nicht: opferte), kommt ein Liebesbrief mir fast ungeheuerlich vor. Freilich: Ich las und lese ihn in der Kenntnis eines sehr langen Lebens oder dessen, was ich davon erfassen konnte. Und dadurch weiß ich jedenfalls, dass nichts von dem, was hier angedeutet ist, sich erfüllt hat.
Ich übersetze:

"Verdun, den 22. September 1927
Meine geliebte kleine Hilde,
Ich will mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, Dir einige Worte zu sagen, die sich leichter auf französisch als auf deutsch aussprechen lassen. Obwohl ich jeden Tag ungeheuer viel Neues kennen lerne, gibt es keinen, an dem ich nicht jeden Augenblick an Dich denke. Dabei weiß ich gut genug, dass das eine Dummheit ist, dass Du in den Händen eines jungen Mannes bist, der Dich nicht so leicht gehen lassen wird, wenn er wirklich Deinen sanften Charakter erkannt hat, Deine Güte, Deine Liebenswürdigkeit und die Weichheit Deiner Lippen. Aber ich kann und will nicht glauben, dass dieser verwünschte Junge Dein ganzes Herz besitzt. Ich werde nicht aufhören zu hoffen, dass es noch eine ganz winzige Ecke in Dir gibt, die noch frei ist und die ich vielleicht gewinnen kann, wenn ich mich unaufhörlich darum bemühe. Ich bitte Dich, mir die Gelegenheit zu geben, das gleich nach meiner Rückkehr nach Berlin zu tun, indem Du auf einen gemeinsamen Ausflug mitkommst.
Außerdem, rundheraus gesagt, sind diese Anfragen nicht nur Bitten. Du hast noch Schulden bei mir. Ich hoffe, dass Du sie bald bezahlst, und küsse Dich in Gedanken.
Immer Dein
Werner Potrafky"
Ich bitte Dich ausdrücklich, dies keinesfalls als einen Scherz anzusehen."
Ich weiß nichts über Werner Potrafky, außer dass ich ihn, das war schon nach dem 2. Weltkrieg, einmal zusammen mit Herbert, meinem Vater, seinem Freund, besucht habe. Er wohnte gar nicht weit von uns, und ich fragte mich, wahrscheinlich nicht den Vater, warum er seinen Freund nicht öfter sehe. Ich kann mich an ein Gefühl erinnern, als habe dieser Besuch einer Versöhnung gedient, und an meine Verwunderung darüber, dass mein Vater mich mitgenommen hatte. Das tat er allerdings in späteren Jahren weiterhin, wenn Versöhnungsbesuche bei seiner Mutter anstanden, wie sie einige Male nach missglückten Weihnachts'feiern' nötig wurden. Bald darauf starb der Freund, noch jung; ich glaube, an den Folgen einer Kriegsverletzung.
Natürlich weiß ich nicht, warum er im September 1927 in Verdun war. Suchte er das Grab seines dort gefallenen Vaters oder eines älteren Bruders oder Vetters? Das erscheint mir wahrscheinlich. Er denkt jeden Tag an Hilde, die noch "Schulden" bei ihm hat, die er aber in den Händen eines anderen sieht, den er verächtlich 'garçon' nennt und 'maudit'. Er hat sich jenem zunächst Erfolgreicheren überlegen gefühlt, von dem ich nicht weiß, ob er eine der Reisebekanntschaften Hildes gewesen ist. Aber es hat doch wohl eine feste Beziehung zwischen jenem und Hilde gegeben. Sie hat Werner P. vermutlich den erbetenen Ausflug "gewährt" oder sogar einige, zusammen mit ihrem Bruder. Daher doch wohl die oben beschriebenen Fotos. Diese Liebesgeschichte, denn das ist sie ja gewesen, ging mindestens von 1926 bis 1928. Aber Hilde hat sich weder mit Werner noch mit dem 'garçon maudit' verbunden. Wodurch endete diese Liebe, wodurch endete die zu dem Unbekannten (wenn es eine war)? Eine Vermutung kommt mir sehr glaublich vor: Hildes Mutter Helene, verkrüppelt und nun auch verwitwet, bestand darauf, dass die Tochter bei ihr bleibe oder sie in einen eigenen Haushalt mitnehme. Von ihr aus gesehen, hatte das Berechtigung. Eine Lebenssituation von einem anderen her sehen, das hat meine Großmutter nicht gekonnt. Wenn aber weder Werner Potrafky noch der andere, den er verachtet, Hildes Mutter mit in eine Ehe nehmen wollten, wenn damals eine Ehe daran scheiterte, dann könnte Hilde resigniert haben. Nicht ohne Grund hat die kluge Frau, über deren Hildes Leben resümierenden Satz ich nachdenke, über Helene auch gesagt, sie sei "eine Tyrannin" gewesen.

Ja, die tyrannische Mutter wird wohl ihre Hand, die amputierte linke, im Spiel gehabt haben bei Hildes Liebesangelegenheiten. Aber es könnte sein, dass sie dabei gar nicht allzu schweres 'Spiel' gehabt hat. Folgt man nämlich einem graphologischen Gutachten des Bruders über die Schwester aus späterer Zeit, das sie aufbewahrt hat, also kannte - ein ernsthaftes Gutachten, kein graphologisierendes Gedicht wie später -, so bietet sich an zu meinen, dass Hilde das 'Entsagen' nicht allzu schwer gefallen sein dürfte. Ich zitiere daraus:
"Der Lebensdrang der Schreiberin ist nicht besonders stark, und sie unterwirft ihn zudem der Kontrolle durch den Verstand und unterstellt ihn sachlichen Erfordernissen. Es scheint, als ob der Ausgleich zwischen Trieb und Verstand ohne gewaltsame Unterdrückung des Triebes erfolge. Von Liebeswünschen lässt sie sich nur schwer ergreifen. Haltung tritt an die Stelle von Hingabe. Von sinnlicher Lockung wird sie nicht erreicht. Sie ist im Grund mehr liebebedürftig als zu aktiver Liebe bereit.
In ihrem Selbstgefühl wird sie durch ein hohes Maß an Selbstdisziplin bestimmt. Sie vermag persönliche Wünsche um sachlicher Erfordernisse willen auszuschalten. In ihrer Grundstimmung ist sie gleichmütig. Auch Stimmungen der Heiterkeit und Freude gibt sie sich nicht leicht hin; sie sucht ihre Gefühle zu beherrschen.
In mitmenschlicher Hinsicht können Regungen der Bejahung, des Wohlwollens und Neigungen zum Sichöffnen sich immer nur durchsetzen gegen grundsätzliche Regungen, die sie zögern lassen, sich frei und freimütig zu geben. Sie wahrt Abstand.
Ihr Moralgefühl ist sehr stark ausgeprägt. Sie tut also, was sein soll, handelt rechtlich und redlich nach der Kraft ihres Gewissens, konsequent und zuverlässig. Ihr Weltbild ist ein Bild gesetzter Ordnung, wobei sie weder in der Phantasie noch gedanklich über den Rahmen des ihr in der Lebenserfahrung Zugänglichen hinausstrebt.
Pflichtgefühl bestimmt ihre Leistungsfähigkeit. Sie arbeitet sachlich und selbständig, sorgfältig und gewissenhaft, unablenkbar und unbeirrbar, aber nicht spontan und nicht kreativ. In den ihr gestellten Aufgaben disponiert sie klar und umsichtig und vermag auch andere anzuleiten. Obwohl die Schreiberin an sich nicht von besonders starkem Tätigkeitsdrang getrieben wird, sondern die Dinge mehr an sich herankommen lässt, packt sie doch im gegebenen Moment zu und wird durch Widerstände angespornt, sie zu überwinden."
Ich bin nicht unbefangen gegenüber solchen charakterdeutenden Aussagen, denn ich kannte "die Schreiberin" und auch den Schreiber, den Graphologen, meinen Vater, mit dem ich eine eigene schwierige Geschichte gehabt habe. Aber nach allem, was ich von beiden erkennen konnte, scheint es mir, dass der Bruder mit seinen Aussagen über die Schwester ganz und gar Recht hatte.
In diesem Fall wäre sie dem ihr von mir unterstellten Wunsch oder eher der Forderung der Mutter, bei ihr zu bleiben, nicht ungern gefolgt. Sie unterwarf sich der Stärkeren, blieb im Bekannten und deshalb Bequemen, blieb auch beim Bruder, der damals seinerseits noch bei der Mutter wohnte. Das war üblich. Man hatte nicht mit 20 eine eigene Wohnung.
Hilde muss sich also von zwei Freunden gelöst haben, von Werner und dem unbekannten Jungen, den dieser verwünscht, dem aber Hilde, wie es scheint, stärker verbunden gewesen war als ihm, dem Freund des Bruders. Zwei Männer, die gleichzeitig um Hilde geworben haben! Als ich der Greisin den Brief aus ferner Vergangenheit übersetzte, den sie mir ja nicht hätte zu zeigen brauchen, wurde sie rot wie ein scheues junges Mädchen, sah aber auch stolz darein, weinte ein wenig und lächelte dann schnell wieder. Das war ja in ihren letzten Jahren überhaupt oft so. Da sie von sich aus nichts erklärte, habe ich nicht fragen mögen. Vielleicht war dieses Vorlesen die Situation zwischen ihr und mir, die am offensten, die jedenfalls vertrauensvoll gewesen ist. Und sie hat diesen Brief nicht vernichtet, hat ihn mir hinterlassen. Ich denke gerne, es sei ein Gruß über den Tod hinaus - und dass sie damals, in ihren 20ern, am Leben teilgenommen hat, einerlei, wie nun die doppelte Liebe gelöst wurde, die in sich bestimmt schwierig gewesen ist und über der noch dazu die fast erstickende Belastung durch die mütterlichen Ansprüche gelegen haben muss.
Auf meine mehrfach gestellte Frage, wie Hilde zu meiner Mutter gestanden habe, hat sie mir ein einziges Mal etwas anderes geantwortet als ihr übliches: "Es ist doch alles schon so lange her", nämlich: Es könnte sein, dass sie und ihre Mutter bei Elfriede manches falsch gemacht hätten. Einzelnes zum Verhältnis der Geschwister weiß ich nicht, nur allgemein, dass Hilde an Herbert sehr "hing". In ihrer letzten Lebenszeit, als sie ja ein wenig offener wurde, sagte sie das mehrmals. Ihn hatte sie zuerst geliebt, das wurde mir da erst wirklich deutlich, soweit sie liebesfähig war. Ihre Vertrautheit mit dem Bruder hätte Hilde sicherlich gern weiterhin gelebt, die ihr schrecklich unerwartet eine Schwägerin zerstörte. Des Bruders verhältnismäßig späte, dann aber sehr plötzliche Heirat muss sie ihm als eine Art von Verrat ausgelegt haben, Verrat an einem gemeinsamen Leben von Helene, Hilde und Herbert. Es kann ja nicht ohne Grund so sein, dass die Kinder dieselben Initialen haben wie die Mutter, HZ, und dass sie jedes einen ungewöhnlichen dritten Namen erhielten: Magdalena die Tochter, Immanuel der Sohn; Helene hieß mit ihrem dritten Namen Maria. Biblisch sind alle drei, kirchlich war die Familie aber nicht. Hießen die Namen, dass Helene ihre Kinder als ihre reklamierte? Versteckt sich darin ein Eheproblem von Anfang an? Aber ich weiß nichts dazu.
An verbotene Geschwisterliebe glaube ich nicht. Sie scheint Hildes Wesen so gar nicht zu entsprechen, ihrer Neigung zur Ordnung und zum Überschaubaren, Nicht-Abenteuerlichen, Gebotenen, während ich mir da bei dem jungen Herbert zumindest hinsichtlich seiner Wünsche gar nicht sicher bin. Ich habe nach seinem Tod einige Hefte seiner sehr frühen Gedichte lesen können, die sich wohl nur versehentlich bei den graphologischen befanden. Wenigstens die Phantasie hatte in ihnen freies Spiel, und sie schweifte weit aus. Aber so mochte es Herbert genügen.

Hilde ging ihren Berufsweg, und der führte sie, ich habe es schon erwähnt, nach acht Jahren Volksschule und eineinhalb Jahren Handelsschule an einen Büroschreibtisch, immerhin. Auch bei ihr wie bei ihrem Bruder ein sozialer Aufstieg, verglichen mit der Ausbildung der Eltern.
Der erste Schreibtisch stand in einem Büro der Firma Max Ohnstein., Großhandlung in Holzwolle und Verpackungsmaterialien, wo sie unmittelbar nach Abschluss der Handelsschule begann, am 15. Februar 1920. Schon diese Arbeit hätte werden können, was man eine Lebensstellung nennt. Nach Ausweis ihres Zeugnisses vom 30. Juni 1932 war Hilde in dieser Firma zwischen ihrem 16. und ihrem 29. Lebensjahr in eine Position absoluten Vertrauens hineingewachsen. Der Inhaber war Jude und liquidierte seine Firma 1932. Er scheint früher als andere etwas vom unvorstellbar Schrecklichen geahnt zu haben, das kommen würde. Ich habe die alte Hilde einmal auch danach gefragt. Sie wusste aber nichts oder nichts mehr über die Gründe der Geschäftsaufgabe oder gab vor, nichts mehr zu wissen. "Es ist doch alles schon so lange her", hieß ja ihre Abwehr einer Antwort. Immer klang das so, als wisse sie durchaus noch etwas.
Nur ein Jahr, vom Juli 1932 bis Juli 1933, dauerte ihre Beschäftigung beim Bad Nauheimer Staatsquellenvertrieb, der unter der gleichen Adresse wie Max Ohnstein firmierte, Berlin O 17, Hohenlohebrücke 11a. Hier wurde sie "wegen Betriebseinschränkung" entlassen. Danach war sie fünf Monate arbeitslos.
Vom 1. Januar 1934 bis zum Erreichen der Altersgrenze am 31. 12. 1969 war sie dann beschäftigt bei der Firma Vorwerck und Co. in deren Berliner Verkaufsbüro, bis zur Zerbombung 1943 in der Leipziger Straße 109, das danach weitergeführt wurde bis 1949, anscheinend halb privat, von ihr und ihrem Chef allein in dessen Gartenhäuschen in Berlin-Spandau. Ihr Anfangs-Grundgehalt betrug M 120.-, wie schon erwähnt, mit einer geringen Umsatzbeteiligung. Bald stieg sie zur Büroleiterin auf.
Hilde liebte ihre Arbeit und verrichtete sie "sorgfältig und gewissenhaft, unablenkbar und unbeirrbar, aber nicht spontan und nicht kreativ", wie ihr Bruder es formuliert hatte. Sie tat das, gleich wie die politische Situation in Deutschland war, die sie so weit wie möglich ausblendete, einerlei, ob Krieg war oder nicht. Dass Krieg und Nachkriegszeit sie tatsächlich nicht berührt haben sollten, ein Krieg, in dem ja ihr Bruder schwer verwundet wurde, ist nicht glaublich. Doch ihr erhaltener Briefwechsel mit Gertraud von Jaminet, der Hausbesitzerin, aus den Jahren 1942 bis 1951 sagt davon wenig. Es war ein dienstlicher, ihrerseits mit der Schreibmaschine und Durchschlägen an die "sehr geehrte gnädige Frau" geschrieben, mit angehängten kurzen privaten Mitteilungen, niemals mehr als ein Absatz, immer der letzte. Nur weil der Briefwechsel dienstlich war und deshalb mit Durchschlägen geschrieben wurde, die büromäßig aufbewahrt wurden, sind die privaten Anhängsel-Mitteilungen erhalten. Mit berechtigter Furcht vor Postöffnung ist ihre Zurückhaltung in allen Formulierungen, geschäftlichen wie privaten, nicht ausreichend erklärt, sondern muss außerdem noch etwas zu tun gehabt haben mit der demütigen Haltung der Untergebenen, die nicht lästig fallen wollte. Und wie alles, was ihr beschieden war, nahm Hilde auch den Krieg hin, fragte nicht nach Ursachen und nur vage nach dem möglichen Ende, jedenfalls in diesen Briefen. Die "gnädige Frau" war da viel unbekümmerter. Frl. Zinke erstattete Bericht über die Hausverwaltung, die de facto längst sie übernommen hatte statt ihrer Mutter, ließ aber lange noch diese die Briefe unterschreiben. Für Frau von Jaminet blieb sie stets das "liebe Fräulein Hilde". Das versah diese Tätigkeit in derselben Haltung unbedingt zuverlässigen Dienens wie ihren Beruf, bestellte Handwerker, kassierte Mieten und überwies sie nach Schlesien und schrieb "brav", nämlich "Beruhigungskarten", wenn schwere Angriffe auf Berlin gemeldet wurden, aber "unser Haus" nicht betroffen war. Das Eckhaus Schönhauser Allee Ecke Kuglerstraße blieb tatsächlich fast unversehrt. Und Fräulein Hilde fürchtete, die von Jaminets könnten ihrer Mutter "böse" sein, als die über einen Mietzahlungstermin in Stargard bei ihrer sterbenden Mutter blieb. Sie nahm sich diesen Tag frei, um die Mieten zu kassieren.
Natürlich wünschte sie sich ein Ende des Krieges, aber etwas anderes als einen deutschen Sieg konnte sie sich nicht vorstellen. Das konnten allerdings die meisten Deutschen nicht. Im Oktober 1944 schreibt sie der Frau von Jaminet ausnahmsweise ziemlich ausführlich die angebliche Prophezeiung des schwedischen Hellsehers Swen Green auf, der zufolge die Alliierten im November ihre größte Niederlage erleiden würden. Die kannte das Gerücht auch: Es stamme aus dem Propagandaministerium, teilte sie lapidar mit.
Sonst enthalten Hildes Briefe Mitteilungen über schwere Angriffe neben solchen aus scheinbar ungestörtem Alltagsleben und dabei ein unterwürfiges Eingehen auf jede auch nur geringfügige Mitteilung der Dienstherrin, dass zum Beispiel Kirschen eingeweckt wurden oder das Ehepaar eine Radtour gemacht hat. Ratlos und tapfer enden die Briefe häufig so oder ähnlich: "Leider sind noch immer keine Aussichten auf einen baldigen Frieden." Oder: "In den letzten Wochen hatten wir fast keinen Alarm; wenn es doch nur so bleiben möchte." Oder: "Wir haben uns gestern Gasmasken abholen müssen. Also müssen wir vielleicht noch mit Gas rechnen. Hoffentlich geht doch bald alles vorüber." Oder: "Hoffen wir nur, dass unser Haus wie bisher verschont bleibt." Oder (am 14. Januar 1945): "Sonst haben wir hier nichts Neues zu berichten." Oder: "Ob die Russen nun bald aufgehalten werden? Hoffentlich kommt doch noch alles irgendwie zu einem guten Ende." Ein Satz wie: "So bangt ein Mensch um den anderen, und man sieht nicht, wann dieses alles ein Ende haben wird" steht mit seinem ausnahmsweise einmal nicht redensartlichen Anfang fast ganz allein.
So war Hildes Korrespondenz, und so war die Unterhaltung mit ihr, sofern nicht etwas "Neues" mitzuteilen war: redensartlich. Sich mitzuteilen hatte sie nicht gelernt und könnte sie für zudringlich gehalten haben. So öffnete auch ihr sich niemand; nur ein einziges Mal eine Frau. Davon wird noch die Rede sein.
Das Büro war der Ort von Hildes Leben. Wahrhaftig arbeitete sie "mit stets unermüdlichem Fleiß und Eifer" und verstand es, "das ihr unterstellte Personal geschickt zu leiten und zur vollen Entfaltung der Leistungsfähigkeit zu bringen" (wirklich eine besonders schöne Formulierung!), und natürlich war das Büro unter ihrer Leitung "stets in mustergültiger Ordnung".
Als ihr anlässlich ihres Ausscheidens nach Vollendung des 65. Lebensjahres ein Zeugnis mit diesem Text ausgestellt wurde, da war es längst schon die Zeit der aufwändig begangenen Weihnachtsfeiern im Wirtschaftswunderland, und ein Fotograf war immer dabei. So hat sich im Gegensatz zu dem sonstigen Mangel an solchen eine Fülle von Fotos erhalten von Hilde, der Büroleiterin. Hilde im Gespräch mit Kollegen, Hilde jemandem zuprostend, der zuerst ihr zugeprostet hat, Hilde umringt und an den Armen gehalten von ihren Damen, d.h. dem ihr untergebenen Büropersonal, Hilde tanzend, Hilde ein züchtiges Küsschen auf die Wange empfangend, Hilde einer Rede zuhörend, die offensichtlich sie preist, und, Aufregung der Aufregungen, Hilde dieser Rede antwortend, nämlich anlässlich ihres 25-jährigen Firmen-Jubiläums. Fast immer sieht sie leicht vom Fotografen weg mit einem scheuen Mädchenlächeln, die 50-Jährige, die 60-Jährige, die sie plötzlich ist. Es gibt kaum Bilder zwischen denen der schönen 23-Jährigen und denen, die die 36- bis 43-Jährige als Tante zeigen, und dann denen der Fünfzigerin als Büroherrin. Jeder Charme ist fort. Die Miene ist streng, die Brille entstellend, die Dauerwelle sieht stets aus wie frisch vom Frisör.
Diese allseits pflichtschuldig verehrte Büroherrin war sie nicht gleich. Vielmehr hielt sie ja, das habe ich schon kurz erwähnt, zwischen 1943 und 1949 die Interessen der Firma in Berlin hoch zusammen mit dem Verkaufsbüroleiter Josef Wedzicki., der in der Münchner Straße ausgebombt war, in einem Holzhäuschen in Spandau, Weinmeisterhornweg 8, wo Herr W. mit seiner Frau lebte. Kinder hatte auch dies Ehepaar nicht.
Wieder drängte sich mir bei der ersten Niederschrift eine dieser ungehörigen Fragen in den Sinn: Konnte es sein, dass Hilde Z. mit Josef W. ein Liebesverhältnis gehabt hat? Einen auch nur halbwegs deutlichen Anhaltspunkt dafür habe ich nicht. Nur dass sie ihn verehrt hat, das steht fest. Sie hat es selbst oft und gern erzählt, und solche Verehrung für einen viel älteren Mann, diese sonderbare Mischung aus Liebe und Sehnsucht, deren Unerfüllbarkeit sie bestimmt, könnte ihr Ersatz für eine Liebesbeziehung gewesen sein. Sie durfte ihr nachträumen, durfte sogar von ihr erzählen, und eine andere Hingabe als die der Arbeitskraft wurde nicht gefordert oder brauchte nicht gewährt zu werden. Die kriegsbedingte berufliche Zusammenarbeit in seinem Häuschen im Grünen über Jahre hin erlaubte beständige Nähe, hielt ihre verehrungsvolle Zuneigung stets wach. Sein Verheiratetsein andererseits führte sie in keine ernsthafte Versuchung, die ja eine Bedrohung des Festen, Soliden, immer schon so Gewesenen hätte werden müssen. Diese Verehrung kam mir immer vor wie nicht mehr zu ihrem Alter passend, backfischhafte Schwärmerei wie die meine für verschiedene Lehrer. Dass Frau W. (Josef W. war 1953 gestorben) mir zu meiner Konfirmation 1954 etwas schenkte und das Geschenk sogar selbst überbrachte, ein geradezu ungeheuerlich großartiges, eine lederne Aktenmappe, war mir völlig unerwartet und eigentlich unverständlich. Die Einladung zu meiner Konfirmation könnte aber, das ahnte ich damals schon, eine vielleicht von Hilde erbetene nachträgliche Demonstration der Reputierlichkeit ihres Verhältnisses zu Josef und Rita W. gewesen sein wie auch die gelegentlichen Einladungen für meine Großmutter und mich und meine Eltern in den sommerlichen Garten in Spandau.
Nach Josef W.s Tod hing hinter Hildes Büroschreibtisch sein Foto, sehr groß vergrößert, mit einer Trauerschärpe. Auf einem Tischchen darunter standen stets frische Blumen. Einen kleinen Kult betrieb sie also um den Toten, Verehrung, die sie zeigen durfte. Hinter ihrem Rücken, so schien es mir bei gelegentlichen Besuchen in ihrem Büro, wurde darüber ein wenig gelächelt.
Ich hörte aber noch eine andere Version von Hildes Verhältnis zu ihrem verehrten Chef. Natürlich stammt sie von ihrer Freundin Fiddy. Die behauptete ganz einfach, ich sei naiv, wenn ich nicht an eine heimliche auch sexuell gelebte Liebe zwischen den beiden glauben wollte, die sie eben gut getarnt hätten. Nicht, dass sie etwas von Hilde direkt erfahren hätte, das behauptete sie nicht, außer, und auch das weiß ich nur von Fiddy, dass Rita W. Alkoholikerin gewesen sei. Nach ihrer, Fiddys, Lebenserfahrung gab es das einfach nicht, die liebende Verehrung einer Frau zu einem Mann und nichts als das. Für Hilde dagegen könnte es eine ihrem Ideal nahe gekommene Beziehung gewesen sein: Sie war über viele Jahre mit einem Mann sehr vertraut. Wahrscheinlich hat er ihr, väterlich und nur gerade so erotisch getönt, wie sie es eben zulassen konnte, Sicherheit im Leben geboten. In den knapp 20 Jahren, die sie ihn kannte, hatten sie vermutlich eine Art Partnerschaft, und Rita W. wurde nicht verstoßen. Deshalb stellte sich die Frage einer Ehe nicht und damit nicht Hildes Lebensfrage, wo in diesem Fall ihre Mutter leben würde. Je mehr ich über Hilde und Josef nachgedacht habe, umso sicherer bin ich geworden, dass diese Verbindung gerade die richtige für beide gewesen ist, wie auch immer sie gelebt worden ist, was auch immer an den langen Büroabenden geschah. Und in diesen 20 Jahren hat meine Tante Hilde am Leben teilgenommen, meine ich. Nur hat sie eben Erika Brandt niemals davon erzählt.
Morgens erschien Hilde vor allen anderen an ihrem Arbeitsplatz und verließ ihn abends lange nach ihnen. Das blieb auch so nach Josef Wedzickis Tod. Es war ja eben der Ort ihres Lebens. Ich habe sie dort als Jugendliche einige Male besucht in den Zeiten der Vorbereitung der jeweiligen Umzüge der Teil-Familien von "unserem" Haus Kugler Ecke Schönhauser nach Westberlin, die legal waren mit allem Hausrat, der aber penibel deklariert werden musste. Da versuchte man doch, einzelnes vorher "rüber" zu bringen. Der Kurier dafür war ich, fuhr mit der U-Bahn von der Schönhauser Allee zum Wittenbergplatz damit, in ihr Büro, das nach den Spandauer Behelfszeiten und nach dem Ende der Blockade Berlins 1949 zuerst in der Bleibtreustraße war, dann an der Tauentzienstraße. (Inzwischen gibt es diese Linie wieder, Ruhleben/Vinetastraße, verlängert bis "Pankow" mit Anschluss an die S-Bahn, meine Kindheitsstrecke. Ich bin sie voller Rührung gefahren, einfach einmal diese ganze U-Bahn-Linie.) Erstaunlicherweise wurde ich bei meinen Grenzfahrten in der U-Bahn 1954 und 1956 niemals kontrolliert, und was ich in den Westen gebracht hatte, kam daher vollständig im Büro der Tante an.
Noch heute ist mir für diesen Ort eine ganz andere Hilde in Erinnerung, als ich sie von Sonntagsbesuchen und Familiengeburtstagen und von den jahrelangen Samstagsabendeinladungen für mich allein zu Wiener Würstchen und Kartoffelsalat her kannte. Am Arbeitsplatz war sie eine kühle, knapp Anweisungen gebende, eine selbstsichere Herrscherin in ihrem Reich. Nur wenn sie angerufen wurde, konnte ihre Stimme auch unterwürfig klingen. Zu Hause befahl die Mutter, hier befahl sie. Über ihren 12-Stunden-Tag klagte sie vor ihren Kollegen bzw. Untergebenen nicht. Das gehörte sich so. Und auch in Wahrheit erledigte sie die Arbeit gern, ja, sie liebte sie.
Dass ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sie als Person liebten, wird man sicher nicht sagen können. Aber "die Vertreter" wussten sich bei ihr in Gunst zu setzen. Und so ließ jeweils zu ihrem Geburtstag und zu Weihnachten ein jeder ein großes Blumenangebinde bei ihr zu Hause anliefern, teuerste Ware, die vor allem auch so aussehen musste. Den Anblick des ausgezogenen Esstisches im Wohnzimmer von Helene und Hilde kann ich mir noch heute vor Augen rufen und mich an mein Entsetzen über die aberwitzige Zahl dieser Angebinde und ihrer zu schnellem Verwelken bestimmten unpersönlichen Pracht gut erinnern, in deren Nähe sich außerdem noch vielpfündige Pralinenschachteln stapelten. Wahrscheinlich haben auch einzelne Männer Hilde Blumen geschenkt, der garçon maudit wahrscheinlich oder Werner Potrafky und sicherlich Josef Wedzicki. Hier schenkten ihr mehr als ein Dutzend Männer mehr als ein Dutzend Blumenarrangements einzig aus dem Grund, dass, es nicht zu tun, dem Fräulein Zinke hätte unangenehm auffallen können. Es handelte sich sozusagen um die Abgaben, die der Lehensfrau zu entrichten waren.
Das war in den späten 50ern und in den 60ern, eben den Wirtschaftswunderjahren, in denen auch das Berliner Geschäft der Firma Vorwerck und Co. boomte. Davor hatte es für Hilde eine Gelegenheit gegeben, 1948, aus dem russischen Sektor von Berlin wegzugehen und doch bei ihrer Firma zu bleiben. Das war während der Berliner Blockade gewesen. Sie hatte schon "in Anbetracht der völligen Unsicherheit der Lage" in der Stadt, die die Firma veranlasste, ihre Kosten in Berlin bis auf ein Mindestmaß zu senken, die vorläufige Kündigung erhalten, wenige Tage später aber ein Angebot, als Privatsekretärin eines der Chefs in die Firmenzentrale nach Wuppertal zu gehen, Anerkennung ihrer bisherigen Tätigkeit und Aufstiegsmöglichkeit. Eine Zuzugsgenehmigung werde die Firma wohl erwirken können, hieß es.
Hilde lehnte dieses Angebot ab. Sie war nicht beweglich. Ihre Begründung überrascht dennoch - und belegt nochmals, wie sehr Helenes Unfall in ihr Leben eingegriffen hatte. Sie erklärt nämlich, sie lebe mit ihrer Mutter in gemeinsamem Haushalt und "dass meine Mutter seit Jahren ihre linke Hand verloren hat und somit in vielem auf meine Hilfe angewiesen ist". Wie denn das? Helene brauchte überhaupt keine Hilfe und hatte ja auch keine durch Hildes vielstündige Abwesenheit an sechs Tagen der Woche. Sie führte den gemeinsamen Haushalt allein. Das hätte sie auch in einer anderen Stadt gekonnt. Hildes Begründung, das Angebot nicht zu akzeptieren, statt dessen Arbeitslosigkeit in Kauf zu nehmen, war mithin völlig unsinnig. Sie wurde dann in Berlin nach Beendigung der Blockade wieder eingestellt, und danach ging es wirtschaftlich aufwärts, aber das wusste sie zunächst ja nicht. Ich nehme an, dass Helene ganz einfach sinngemäß gesagt hat: "Ich will da nicht hin. Du nimmst die Stelle nicht an." Es kam sicher hinzu, dass beide die erneute Trennung von dem Sohn und Bruder nicht wollten, der zur Zeit der Kündigung entweder noch nicht oder gerade erst nach Berlin zurückgekehrt war. Ein Umzug nach Wuppertal hätte für Mutter und Schwester bedeutet, ihren Herbert, der acht Jahre fort gewesen war, auch künftig nur selten zu sehen. Dass sie außerdem nicht gerade dorthin ziehen wollten, woher die ungeliebte Schwiegertochter und Schwägerin gekommen war, ins Rheinland, ins Bergische Land, mag hinzugekommen sein. Herbert seinerseits konnte damals als Berliner aus seinem Interimsort Rendsburg, aus jedem Ort, erst gar nicht fort, dann nur nach Berlin ziehen. Schon das wurde erst 1948 möglich. Nein, beweglich waren sie beide nicht, Mutter und Tochter. Und so schreibt Hildegard Zinke in naiver Offenheit während der Berliner Blockade: "Am schönsten wäre es, wenn für Berlin bald wieder ein reguläre Verkaufsmöglichkeit gegeben wäre und ich dann wieder meiner jahrelang gewohnten Arbeit nachgehen könnte." Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass diese zuverlässige und entsagungsvolle Bürokraft für höhere Aufgaben nicht gemacht war, dann war er hier aufgeschrieben worden.
Nur einmal musste sich Hilde doch bewegen, 1956 beim Umzug von Ost- nach Westberlin. Bis dahin war sie "Grenzgängerin" gewesen wie Zehntausende. Damals hat die Firma so massiven Druck für ihren Umzug nach Westberlin ausgeübt, dass der 52-Jährigen der tatsächliche und unwiderrufliche Verlust ihres "Postens" als reale Möglichkeit erschien. So erklärte sich auch Helene, ihrerseits 76 Jahre alt, mit einem Umzug einverstanden, immerhin nur in derselben Stadt. Sie gewöhnte sich in der neuen Gegend ein, in der Helmstedter Straße in Wilmersdorf, und lebte dort noch 24 Jahre.

Für Hilde hielt das Leben zu dieser Zeit seine vorletzte Aufforderung bereit, an ihm teilzunehmen. Die erreichte sie in einer Weise, mit der sie vermutlich nie gerechnet hatte und die sie für unerlaubt hielt: in der Liebe einer anderen Frau zu ihr. Hildegard Schwaneck war in die Firma, die Hildegard Zinke "meine" nannte, im Oktober 1952 eingetreten und hatte sich wohl sofort in ihre Büroleiterin verliebt - mit dem Wunsch nach gemeinsamem Leben. Wie sie ihr das klargemacht hat, wie meine Tante Hilde reagiert hat, das weiß ich nicht. Natürlich konnte sie sich, mit ihrer Mutter zusammenlebend und befangen in nie befragten Moralvorstellungen, solchem Ansinnen nicht öffnen. Bei meinem allerletzten Besuch bei ihr in ihrer Wohnung sprach sie plötzlich kurz davon: Ich wisse doch wohl, dass "Fräulein. Schwaneck" mehr gewollt habe als "Bekanntschaft" oder Freundschaft; ich wisse wohl auch, was gemeint sei. Aber das sei doch nicht möglich gewesen. Es schien mir Bedauern mitzuklingen.
Briefe und Karten von Hildegard Sch. an Hildegard Z.. gibt es nur aus dem Jahr 1957. Es müssten mehr gewesen sein, frühere und auch spätere. Aber meine Tante hat ja Briefe weggeworfen, vielleicht darunter solche von H.S. Eigentlich ist es erstaunlich, dass sich überhaupt Schriftliches aus dieser Beziehung erhalten hat. Vielleicht war es ein Versehen.
Dem Fräulein H.S. wurde 1957 von der gemeinsamen Firma gekündigt. Den diesbezüglichen Briefwechsel, den Hilde in Kopien von ihr erhielt und der in einem Nachlassteil sich fand, der Geschäftliches enthielt, kann ich nur so deuten, dass der eigentliche, aber nicht ausgesprochene Grund dieser Kündigung die im Büro verbreitete Ansicht gewesen ist, dass sie, also Hildegard Sch., "wohl homosexuell veranlagt wäre", was sie selbst, sie hatte sich ja anzupassen, "eine ehrenrührige Beleidigung" nennt. Der Sachverhalt ihrer lesbischen Neigung war richtig, nur durfte sie sich nicht klar zu ihm bekennen. In einem Brief an Hilde Z., die vergebens Geliebte, spricht sie von der "in moralischer Ansicht freieren Auffassung" eines Freundes über ihre "intimste Einstellung". Die für die Kündigung von der Firmenleitung aufgeführten Gründe erscheinen ganz eindeutig als vorgeschoben. Die Betroffene wies sie geschickt zurück und erreichte wenigstens, dass man es ihr ermöglichte zu kündigen. Der Chef, das wird aus diesem Briefwechsel auch deutlich, macht sexistische Bemerkungen und Annäherungsversuche (es ist nicht mehr Josef W.), und die Angestellte 'darf' gehen. Auf eine arbeitsgerichtliche Auseinandersetzung verzichtete sie - meiner Tante Hilde wegen, die dann vermutlich als Zeugin hätte aussagen müssen und dies, bliebe sie bei der Wahrheit, für Hildegard Sch. und gegen den gemeinsamen Chef. Das durchzuhalten traute Hildegard Sch. Hildegard Z. anscheinend nicht zu, wohl auch deshalb nicht, weil daraus ein Entlassungsgrund auch gegen Hilde Z. hätte konstruiert werden können. So ersparte Hilde Sch. beiden eine vermutlich unwürdige Situation und verzichtete sogar auf eine Abfindung, auf die sie Anspruch hatte, wie ein Rechtsanwalt meinte. Hildegard Z. nahm das so an. Für sie war es die einfachste Lösung, eine feige, wie ich meine, falls beide nicht eine Lösung gefunden haben, von der ich nur eben nichts weiß.
Eine Freundschaft, gar eine Liebesbeziehung hat meine Tante Hildegard nie entstehen lassen. Immer blieb es auch beim 'Sie', nur "Mein liebes Fräulein Zinke" erlaubte sich die Jüngere als Anrede, einmal auch "Mein liebstes Fräulein Zinke", Grenzüberschreitungen, gerade noch stumm duldbare, schon diese; niemals ein 'Du', auch nicht in den späteren Jahren, als sie nicht mehr im selben Büro arbeiteten und, tatsächlich, einander gelegentlich besuchten. Als Bekanntschaft, sicherlich nie mehr, wurde die Beziehung bis zu Fräulein Sch.' ziemlich frühem Tod anfangs der 80er Jahre fortgeführt.
Nur einmal hatte sich H.S. erlaubt, auf eine Postkarte, eine entsetzlich kitschige übrigens, zu schreiben: "Von Hilde für Hilde", oder sie nahm ihre Zuflucht zu gedruckten Spruchkarten mit einem 'Du' in poetischer Lizenz, die aussagen, was H.S. ihrer spröden geliebten Hilde in eigenen Worten nicht zu sagen wagte. Und das, was sie sich gewünscht hatte: "Und was auch/ kommen mag,/ sei es ein dunkler Tag,/ sei es Glück und Freude:/ Wir tragen es Beide.", war "ein Traum, der allzu schnell vorbei war". Hilde Z. aber hatte ihn nicht mit geträumt, ließ sich nicht zu Träumen verlocken, und sie liebte nicht oder erlaubte sich keine Liebe, die ihre Mutter nicht gestattet hätte.
Die "glückliche Zeit" für H.S. hatte am Anfang der Bekanntschaft gelegen, im ersten halben Jahr. Sie erinnert sich einmal an "all die schönen Stunden, die wir gemeinsam verlebten", und dankt für "all Ihre Liebe" (Liebe?). Was geschah damals? Ich erkenne nur einen einzigen Anhaltspunkt für eine mögliche Erklärung dazu, die wohl zugleich eine Verklärung gewesen ist. Dies glückliche halbe Jahr der H.S. fiel etwa zusammen mit der Anfangszeit von Hildes Trauer über ihren am Jahresanfang 1953 gestorbenen Chef und Lebensfreund Josef W. Vielleicht konnte sie der anderen Hilde diese Trauer mitteilen und die ja fortbestehende Verehrung, und diese, die zur selben Zeit um eine geliebte Schwester trauerte, konnte sie verstehen. Hildegard Z. war in ihrem Leben vielleicht selten von solcher Offenheit gewesen wie damals, und die mitfühlende Hildegard Schwaneck., die den verehrten Toten gar nicht mehr kennen gelernt hatte, konnte ihre Liebe erwidert glauben, obwohl sie doch mehr sein wollte als nur die hingebungsvolle Zuhörerin von Hildegard Zinkes Erinnerungen.
Was sonst, was später geschah, ist aus den erhaltenen Briefen von Hildegard Sch. nicht zu entnehmen, die für eine erwachsene Frau viel zu kindlich-beflissen-neckisch sind, voll überschwänglichen Danks für einen gemeinsamen Einkaufsbummel (mir völlig unverständlich, dass meine Tante so etwas auch nur in Erwägung gezogen haben konnte, ob mit oder ohne H.S., aber es steht da), voll unterwürfiger Vorschläge für einen Besuch bei sich in ihrem Haus und Garten in Lichterfelde, als werde ihr mit der Annahme einer solchen Einladung eine Art Gnade erwiesen.

Danach ereignete sich fast nichts mehr im Leben der Hildegard Zinke. Seit sie 1969 den Ruhestand nicht mehr länger hatte vermeiden können, war sie täglich und stündlich mit ihrer Mutter zusammen, die mit 89 Jahren völlig rüstig war und herrschsüchtig wie immer. Sie müssen einander bis zur Unerträglichkeit auf die Nerven gegangen sein, die beiden nun Alten, die noch immer das Bett teilten. Jetzt bestand für Hilde nicht mehr die Möglichkeit, das Büro zum Distanz ermöglichenden Lebensmittelpunkt zu machen. Nachbarn haben mir erzählt, man habe es durch die Wände hören können, wie Helene Hilde tyrannisierte, als sie ihr das Kochen beibrachte. Und nie, tatsächlich nie, durfte Hilde die Uralte allein lassen außer für die notwendigen Besorgungen.
So wurde die Mutter 100 Jahre alt, gepflegt von ihrer Tochter Hilde, die im Leben nur die Rollen der Tochter und der Büroleiterin hatte lernen dürfen und heimlich die einer diskreten Lebenspartnerin, die ich mir eher als die einer Tochter und Dienerin denn als die einer Geliebten vorstelle. Am 100. Geburtstag ihrer Mutter raunte sie mir zu, Herbert, dessen Frau, meine Mutter, im selben Jahr gestorben war, habe ihr eine gemeinsame Reise angeboten, wenn sie "frei" wäre. Daraus wurde allerdings so wenig etwas wie aus dem kurze Zeit erwogenen Plan der alten Geschwister, wieder zusammen zu wohnen. Eine Ausführung des Plans muss schon daran gescheitert sein, dass jeder seine Wohnung behalten wollte. Bis zum Tod meines Vaters sieben Jahre später sahen sie sich allenfalls ebenso viele Male, d.h. die Schwester besuchte den Bruder zu seinem Geburtstag, er sie niemals zu ihrem, aber sie telefonierten täglich. Beide hatten ihren jeweiligen Wohnpartner bis zum Tod gepflegt - ja, mein Vater mit den zwei linken Händen und der Jahrzehnte alten Einsicht, die falsche Frau geheiratet zu haben, hatte sie gepflegt! -, und sie fürchteten eine Wiederholung.
Bei Hilde begannen ziemlich exakt ein Jahr nach dem Tod der Mutter die Krankheiten. Um die Jahreswende 1981/82 war sie zehn Wochen im Krankenhaus mit diffusen Herz-Kreislauf-Beschwerden. Dort lernte sie die tapfere Bertl Engesser kennen. Ihr ging es objektiv viel schlechter als Hilde, aber sie klagte nicht, während bei Hilde, seit sie Rentnerin und dann auch Pflegerin geworden war, aber durch den Tod der Mutter auch diese Aufgabe verloren hatte, alle Tatkraft dahin war. Sie jammerte und weinte, wenn man sie besuchte, und lächelte in der nächsten Sekunde wieder und redete über Gleichgültiges. Das war nun seit Jahren so. Nur halbherzig versuchte ich mit ihr über ihre letzte Lebenszeit zu sprechen, und war ganz erleichtert, wenn sie sagte: "Ach, lass doch."
Jener anderen alten Frau, der zufälligen Zimmergenossin im Krankenhaus, die zufällig in einer Parallelstraße zu ihrer wohnte, der Prinzregentenstraße, verdankt Hilde die letzten Aufforderungen, Verlockungen, Mahnungen, am Leben teilzunehmen; einmal zusammen zu verreisen; manchmal zusammen mit der Taxe einen Ausflug an den Wannsee zu machen und dort Kaffee zu trinken; gemeinsam zum Altenkreis der Kirchengemeinde zu gehen; hin und wieder zu einem Abendessen in einem nahe gelegenen Lokal sich zu treffen; Weihnachten im Johannesstift in Spandau zu verbringen, wo man in genau dem Maß versorgt und betreut werden konnte und kann, wie man es wünscht, auch durch Arzt und Pfarrer. Die Einladung in einen Altenkreis hatte sie schon Jahre zuvor ausgeschlagen, als sie 78 war. "So alt bin ich doch schließlich noch nicht", hieß damals die Erklärung dafür. Eine gemeinsame Reise mit Bertl. E. nach Bad Pyrmont gelang tatsächlich, und hinterher war Hilde dankbar dafür. Die kleineren Aktivitäten, die Frau E. vorschlug, gelangen nicht oder selten. Vor allem dazu, die Tage über Weihnachten und Neujahr im Johannesstift zu verbringen, zusammen mit dieser ihr doch lieben Bekannten, vermochte sie sich nicht aufzuraffen. "Ich bin am besten in meiner Wohnung aufgehoben", sagte sie ja oft und klagte im selben Atemzug übers Alleinsein.
Es war in Hildes hohem Alter einzig sie, Bertl E.,. die ihr einmal die Wahrheit über sie zu sagen, zu schreiben wagte. Mein Vater hatte es Jahrzehnte zuvor mit seinem graphologischen Gutachten gewagt, ich niemals. Es ist mir auch in ihrer letzten Lebenszeit nicht gelungen, "die Autoritäten umzukehren". Diese Frau schrieb ihr aus der Kraft ihres Glaubens in ihrem Weihnachtsbrief 1988 und schickte ein Büchlein von Jörg Zink mit:
"Was kann, was soll ich Ihnen für die kommenden Feiertage und das Neue Jahr wünschen? - Ich habe in letzter Zeit viel an Sie gedacht; wir haben auch manches gute Gespräch geführt, doch bin ich unbefriedigt, weil ich nicht weiß, wie man Ihnen helfen kann! Denn nicht Ihr körperlicher Zustand ist es in erster Linie, der sie so verzagt sein lässt. Ich denke, es ist mehr der 'Bruder Innerlich', der sie - oft ganz spontan - in Tränen ausbrechen lässt! Ich habe daher gedacht, vielleicht kann Ihnen ein 'Berufenerer' als ich einen Weg weisen, der Ihnen hilft, 'positiver' zu werden. Das Buch, das ich beilege, hat mir vor Jahren selbst schon einen Weg gewiesen, um zu mir selbst zu kommen. Und Sie wissen, dass ich nicht aus Ablenkungsbedürfnis wieder im Johannesstift gewesen bin, sondern versuche, die Zeit, die noch verbleibt, mit Wesentlichem zu füllen. Vielleicht gibt auch Ihnen dieses Buch etwas, woran Sie sich halten können. Im Grunde bedeutet es auch Arbeit an sich selbst - aber nur mit Gottes Hilfe, wenn wir selbst zu schwach sind! Versuchen Sie es bitte, denn ich habe Sie noch anders in Erinnerung! Das so oft hilflos weinende 'kleine Mädchen' und auch die 'Prinzessin auf der Erbse' - sind Sie das wirklich!? Ich kann und will es nicht glauben - Sie haben doch einmal 'Ihren Mann' gestanden - und das kann nicht spurlos verschwunden sein!"
Doch, es war und blieb verschwunden. Das Büchlein zeigt, wie ihr Gesangbuch, keine Gebrauchsspuren. Mit ihrem sterben müssen setzte meine Tante Hilde sich nicht auseinander. Es geschah nichts mehr in ihrem Leben. Es kam mir manchmal vor, als meinte sie, wenn nichts geschehe, geschehe auch der Tod nicht.
Bertl E. ist vor ihr gestorben. Die ihr sonst beistanden, bezahlte Hilde. Darin schien ihr Rest an Lebenszugehörigkeit zu bestehen. Hilfe als Geschenk anzunehmen war ihr nicht möglich. Hilfe geben konnte sie nicht, auch nicht durch einen Telefonanruf. Die erwartete sie bei sich selbst, und es gab eine treue Nachbarin, Frau Agnes Sodeikat, die jeden Morgen um 9 Uhr bei ihr anrief, für sie einkaufte, für sie Geld von der Bank abheben durfte. Das ist erstaunlich, weil Hildes Argwohn, jemand wolle sich an ihr bereichern, mit den Jahren ihres Alleinseins ins fast Groteske wuchs.
Frau Brandt brachte den Gemeindebrief der Auenkirche und bat um Geld für die Gemeinde, an deren Leben Hilde nicht teilnahm, bekam auch welches, vor allem sprach sie mit Hilde. Diese aber sagte mir: "Sie kriegt immer noch 20 Mark auch für sich, sonst würde sie ja nicht kommen." Das war der Anlass für mich, bei einem meiner Berlin-Besuche Frau B. zu bitten, sie besuchen zu dürfen. Sie ist eine kluge Frau gewesen, kaum jünger als meine Tante, die ganz ungewöhnlicherweise hatte Psychologie studieren dürfen, und eine sehr tapfere Frau, die über ihre Dialyse dreimal in der Woche nicht klagte. Bei diesem meinem einzigen Gespräch mit ihr fiel der Satz: "Ihre Tante hat am Leben nicht teilgenommen." Dass sie, Erika Brandt., meine Tante nicht besuchte, um sich dafür bezahlen zu lassen, dass diese Unterstellung sie beleidigte, dass sie es ihr auch mit allem Nachdruck gesagt, aber kein Gehör gefunden hatte und darüber sehr traurig war, das konnte ich meiner armen Tante nicht vermitteln. Sie weigerte sich, an soviel Uneigennützigkeit zu glauben.

Ihre Krankenhausaufenthalte wurden häufiger. Zuletzt bekam sie soviel Morphin, dass sie keine Schmerzen litt. Meine Familie und ich besuchten sie einige Male, telefonierten täglich, solange es möglich war. Aber jeder Besuch von Hamburg aus war eine Überwindung für mich. Wo ein Leben lang kein wirkliches Gespräch möglich gewesen war, wurde es das auch angesichts des Todes nicht. Das ist die bittere und nicht schön zu redende Wahrheit.
Beim letzten Telefongespräch - der Hörer musste ihr schon gehalten werden - stellte sie mir unter vielen kaum noch verständlichen Sätzen und Halbsätzen eine klare Frage: "Was geschieht mit mir?" Ich habe nicht zu antworten vermocht: "Tante Hilde, du stirbst, und es wird so leicht sein, wie du es dir gewünscht hast", und auch nichts anderes Wahres, Tröstendes, durch Wahrheit Tröstendes, nur das Übliche, Allgemeine, Unverbindliche. Auf diese Frage habe ich also geschwiegen. Selbst ihr gegenüber, mit der ich zeit ihres Lebens von allen Mitgliedern meiner Familie am wenigsten zu tun hatte und die mir, als ich ein Kind war, am wenigsten angetan hat, habe ich den Herkunftssumpf aus Schweigen und Verschweigen nicht verlassen können.
Sie ist dann tatsächlich leicht gestorben, meine Tante Hilde, das uralte Fräulein in Berlin. Sie starb nach einem fast 90-jährigen Leben, an dem sie - ja, ich denke, dass an diesem Satz sehr viel Wahres ist -, nach den misslungenen Liebesgeschichten ihrer 20er Jahre und der ihr angetragenen in ihren Fünfzigern nicht intensiv teilgenommen hatte. Ihre Beziehungspunkte waren die Mutter und das Büro, zwischen denen sie im Taxi hin und her fuhr. Vergnügen gönnte sie sich nicht bis auf wenige Reisen. Eigenständig zu denken hatte sie nicht gelernt. Was sie las, waren die empfohlenen Bücher des Bertelsmann Leserings. Theater zu genießen und Musik hatte sie niemals erprobt. Der Fernseher tröstete sie an den einsamen Abenden ihres Alters.
Was Hilde tat oder nicht tat, unterwarf sie der Beurteilung durch ihre Mutter, am wenigsten wahrscheinlich in den 20 Jahren, in denen sie Josef Wedzicki kannte. Zwischen Josefs Tod 1953 und dem Aufhören von Hildes beruflicher Tätigkeit 1969 lebte sie gewissermaßen noch in seiner Sphäre. (Noch einmal möchte ich ihn so nennen, wie ich ihn nie genannt habe; er ist mir lieb geworden während des Schreibens; aber hat Hilde ihn wohl so genannt?) Danach pflegte sie elf Jahre eine anfangs noch immer herrische Mutter. Nach deren Tod 1980 blieb sie ohne Aufgabe zurück und wurde wieder zum hilflosen Kind, das die ihr hilfreich hingestreckten Hände der Frau Brandt, der Frau Engesser, der Frau Sodeikat, des Pfarrers Wolfgang Barthen nicht zu ergreifen vermochte.
Bertl Engesser und Erika Brandt haben wahrscheinlich von Josef Wedzicki nichts anderes erfahren, als dass er Hildegard Zinkes, seiner Büroleiterin, Chef war. Die Beziehung zu ihm hat ihr die Sicherheit geboten, derer sie bedurfte, wie ein Vater oder ein älterer Freund sie bieten kann. Bestimmt ist diese Beziehung keine gewesen, die man gering achten dürfte. Wahrscheinlich war es sogar so, dass die Verbindung mit Josef und mit Rita Wedzicki ein Glück gewesen ist im Leben meiner Tante Hildegard Zinke, und deshalb eine Zeit, in der sie mehr am Leben teilgenommen hat, als Erika Brandt und ich haben wissen können.

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