Samstag, 28. Juli 2007

DAS ROSENHÄUSCHEN

Doch, ich hatte auch schöne Kindheitserlebnisse. Die Erinnerung an das Rosenhäuschen, die ich heraufkommen lasse, hat noch heute für mich eine Aura, wie Märchen sie haben. Der Vorspann freilich ist noch nicht erfreulich, denn die Grundmelodie meines Kinderlebens ist als ganze ja nicht fröhlich und beschwingt gewesen.
Eigentlich verlebte ich meine Sommerferien 1951 wie in jedem Jahr auf dem Balkon nahe der Hochbahn, jedenfalls an warmen Tagen. Der Waschzuber der Mutter, mit Wasser gefüllt, stellte meine Ostsee oder meine Nordsee dar. Ein Oleander vertrat in stetem Überlebenskampf die Pflanzen südlicherer Zonen, die ich aber, außer dem Mittelmeer, gar nicht zu benennen gewusst hätte. Doch, eine Zeit lang gab es auch eine Bougainvillea, wer weiß, woher. Die bewunderte ich am meisten, weil das Wort so schwierig zu schreiben war und weil sie noch schwerer am Leben erhalten wurde als der Oleander. Aber allein diese Namen, wie die klangen! Nach verlässlicher Wärme, nach dunkelblauem Sonnenhimmel, nach sanften Gerüchen von Pinien. Kiefernähnlich seien die, aber mehr wie ein Schirm, so hatte es mir jemand gesagt, und so ähnlich sei auch der Duft ihres Harzes. Daher waren sie mir ein wenig vorstellbar; und ihr Name klang nach dem unaufhörlichen Zirpen von Grillen, nach Tempelsäulen und Inseln und Meer. Aus einem Bildband nährten sich diese Vorstellungen, der meiner Tante gehörte, auch einer Gabe ihres Chefs bzw. des Ehepaares Wedzicki wie der kostbare japanische Paravent. Diese stammte von einer Ägäis-Kreuzfahrt. Es gab bei ihr auch noch einen Bildband von Rumänien und ein Buch mit Stereo-Bildern aus ganz Deutschland. So kostbare Dinge besaß meine Tante Hilde!
Meine Gartenliebe seit Kleinkinderzeiten ist in ihrem tiefsten Grund immer die Suche nach einer bergenden Höhle gewesen. Das war nicht aus allgemeiner Menschenscheu so. Die hatte es in frühen Jahren zwar gegeben, aber ich überwand sie mit eigener Anstrengung. In den frühesten Jahren gab es sie noch nicht, scheint mir: Siehe das Prunken der noch nicht Dreijährigen in der U-Bahn mit auswendig aufgesagten Gedichten. Ich suchte Höhlengeborgenheit,. weil ich mit den Menschen, mit denen ich lebte, lieber nicht gelebt hätte. Das brauchte aber niemand zu merken. Und so überdauerte ich in meiner Provinz Utopia im Land Balkonien und hatte in meiner Phantasie Umgang mit Menschen, die in Griechenland wohnten, in einfachen weißen Häusern mit Bougainvilleen davor auf fernen Inseln in einem tintenblauen Meer, das ich nicht kannte. Ich stellte mir diese Menschen anders vor als meine Familie, so wie sie da, die Männer allerdings nur, auf Dorfplätzen saßen und miteinander redeten. Und sie hatten christliche Kirchen und antike Tempel, die als Ruinen noch schön waren. Dass ich alles dies einmal selbst sehen würde, erschien mir schon als Wunsch so übergroß, dass ich ihn immer schnell wieder zurückdrängte. Das Buch, die Nahrung für meine Phantasie, durfte ich nicht mit in unsere Wohnung nehmen, aber z.B. sonntags bei Großmutter und Tante ansehen und lesen, wenn ich den Kuchen hinter mich gebracht hatte. Es gehörte zu den wenigen Schätzen in meiner Umgebung, die alle (alle vier) meiner Tante gehörten und alle Geschenke von Josef W. waren. Davon besitze ich heute nur noch die Sammlung der Stereo-Fotos von deutschen Landschaften und Städten.
Meine Eltern verreisten nicht mit mir und auch nicht miteinander allein. Nachkriegszeit eben. Die erste Ferienreise ging 1957 nach Österreich, schon von Westberlin aus. Ich allein hatte "im Osten" nicht mit einer Kindergruppe verreisen dürfen, als mir das angeboten war. Es war eine kirchliche, und es wäre nur nach Buckow in der Mark gegangen. Aber die Eltern hatten irgendeine Angst um mich, die sie nicht erklärten. Ich denke heute: Sie kannten die Begleiter nicht, und daher konnten sie ihnen mein Leben nicht anvertrauen. Im Übrigen gingen sie ja auch in der Stadt Berlin nirgendwohin, nicht ins Theater, in kein Konzert, nicht mal ins Kino. Aber das könnte ja zu den Abmachungen vor ihrer Ehe gehört haben: dass Elfriede Herbert alle Zeit für seine graphologische Arbeit ließ. Er fuhr zu seiner Erwerbsarbeit und kam von da wieder, und niemand, immer wieder einmal muss ich es sagen, niemand kam zu ihnen außer Großmutter und Tante aus der unteren Wohnung. Nur sonntags machten mein Vater und ich manchmal Ausflüge, Wanderungen am nördlichen Rand der Stadt oder auch Spaziergänge im Lietzenseepark, der am Bahnhof Witzleben lag, am S-Bahn-Ring, leicht zu erreichen.
Es kam auch niemand von den Gleichaltrigen zu mir, es sei denn, um sich Schulaufgaben erklären zu lassen. Nur zu meinem Geburtstag durfte ich mehr als ein Kind einladen, nämlich gerade zwei, meine Ur-Freundin Hilde und Ingrid aus meiner Klasse und von gegenüber. Jedenfalls ist das auf zwei Fotos aus verschiedenen Jahren so festgehalten. Da war ich sieben und dann acht Jahre alt geworden, und die ganze so genannte Geburtstagsfeier bestand aus Kuchenessen und, sagen wir mal, Mikado spielen, oder vielleicht spielten wir noch Mensch ärgere dich nicht. Jedenfalls blieben wir in der Wohnung. Natürlich war es bei diesen Geburtstagen nicht stumm zugegangen, und die Mutter des Einzelkindes war erst dauernd ins Wohnzimmer gekommen und hatte geschimpft und war dann drin geblieben und hatte jeden Freudenjuchzer niedergezischt. Sie lebte in beständiger Angst vor den Nachbarn und wusste sicherlich auch nicht, wie sie mit drei Kindern zugleich umgehen sollte. Ich fand sie schauderhaft, ich schämte mich, dass ich eine solche Mutter hatte, und will überhaupt nicht behaupten, dass sie mir damals zugleich auch leid getan hätte. Da beschloss ich in kindischem Trotz, meinen Geburtstag fortan niemals mehr zu feiern. Ich habe aus meiner Kindheit nicht das Empfinden mitgenommen, ich sei es wert, als ich selbst geliebt zu werden, und viele Jahre lang hatte ich das Gefühl, ob es mich gäbe oder nicht, das sei vollkommen gleichgültig, ein Zufall der Zeugung, den "ich" nicht gewollt hätte, hätte man "mich" fragen können, den ich aber mit Am-Leben-Sein auszubaden hatte. - Das Feiern suchte ich erst spät im Leben nachzulernen und auszuhalten, dass Trauerfeiern darunter sind. Nicht durch den Tod in meiner Familie, erst durch den Tod von Freundinnen habe ich gelernt, was der Schmerz um den Verlust geschätzter, verehrter, geliebter Menschen ist.

Als Kind feierte ich meinen Geburtstag nicht mehr nach den beiden misslungenen Versuchen, weil meine armselige Familie nicht feiern konnte. Aber dreimal im Jahr war ich, waren wir eingeladen, die Geburtstage anderer, mir eigentlich fremder Kinder mitzufeiern, der Kinder des Chefs meines Vaters, die in dem Jahr, als ich das Rosenhäuschen sah, sieben, sechs und zwei Jahre alt wurden. Ich selbst war damals elf. Ich vermutete, nein, ich wusste, dass ich nicht um meiner selbst willen eingeladen wurde, sondern weil mein Vater eben ein Angestellter des Herrn Braun war und irgendwie gut behandelt werden sollte. Das konnte mir jedoch, dachte ich, egal sein. Ich tauchte bei den Brauns in eine andere Lebenswelt ein, die für mich als Kind faszinierend und fragwürdig zugleich war. So vielleicht könnte damals meine Empfindung gewesen sein, unklar jedenfalls und natürlich ohne diese Worte, die ich noch nicht kannte. Aber wie bei allen nicht bloß oberflächlichen Eindrücken oder, wenn es sie denn gegeben hat, Erlebnissen: Es war selbstverständlich, dass ich solchem Frag-Würdigen nicht nachzufragen hatte. In ziemlich früher Zeit muss man mir das verboten haben. Als "vorlaut" und "altklug" galt ich dennoch immer. Die Dressur des "artigen" Kindes kann also nicht ganz gelungen sein.
Stets fuhr ich, immer zusammen mit meinen Eltern, immer mit etwas Angst zu diesen Geburtstagen in die große Wohnung der Brauns in der Sonnenallee, Angst, die wohl von ihnen her auf mich übergriff. Denn hier waren die beiden isoliert Lebenden genötigt, etwas zu tun, was ihnen zutiefst lästig, ja widerlich gewesen sein muss, was aber zu geschehen hatte. Für den Vater war wohl die an langer Kaffeetafel mit small talk vertane Zeit das, was ihn ärgerte, für die Mutter die Unsicherheit darüber, wie sie sich in großbürgerlicher, neureicher Umgebung zu verhalten habe. Seit drei Jahren etwa müsste es 1951 diese Fahrten mit der S-Bahn von der Schönhauser zur Sonnenallee gegeben haben, ein Stück den östlichen S-Bahn-Ring entlang. Ganz zu Anfang hatte es den Jüngsten, Thomas, noch nicht gegeben.
Nie hatte ich gewusst, ob mein Knicks bei der Begrüßung tief genug ausfiel, und nie, ob ich die Fragen der unbekannten Erwachsenen nach deren Erwartung beantwortete, höflich genug, aber nicht unterwürfig, mit dem richtigen Maß an Auskunft über mein Leben, also nichts ausplaudernd, und andererseits nicht verschlossen wirkend. Das wäre als eine Art Hochmut ausgelegt worden, dachte ich mir, denn mit den gleichfalls unsicheren Eltern darüber reden konnte ich ja nicht. In Wahrheit ist es aber einfach nur Unsicherheit bei allen Zinkes gewesen, denn sie hatten ja niemals Gelegenheit, dergleichen zu üben. Hier trafen sie auf Verwandte und Freunde der Brauns und Eltern anderer Kinder. Ich konnte es anfangs gar nicht begreifen, dass es Menschen gab, die so etwas hatten: Freunde, also Leute, mit denen sie freiwillig zusammen kamen und nicht nur, weil sie verwandt waren.
Seit ich elf Jahre alt geworden war, die Sterbensangst des Jahres zuvor hinter mir hatte und von der Blutspur noch nichts wusste, die ein paar Monate später beginnen würde, versuchte ich mich manchmal in Kessheit. So hatte ich beschlossen, einen Knicks nur noch anzudeuten. Wie die Zopfschleifen und Rüschenkleidchen des Sonntags war er in den plüschigen frühen Nachkriegsjahren noch völlig üblich als Begrüßung von Mädchen gegenüber Erwachsenen wie bei den Jungen die Verbeugung, der "Diener". Außerdem hatte ich durchschaut, dass fast alle Erwachsenen auf ihre Fragen an Kinder gar keine wirklichen Antworten erwarteten. Darum probierte ich aus, was bei der Kindergeburtstagsfeier Braun eigentlich passieren würde, wenn ich auf die Frage, ob meine Mutter das hübsche Kleid genäht habe, das ich trug, höflich lächelnd antwortete: "Mein Teddybär trägt nie Kleider", oder, kühner geworden: "Meinem Teddybär fehlt das rechte Ohr", oder, mit allerfreundlichstem Lächeln zu einer alten Dame: "Ich glaube, viele Kinder aus meiner Klasse würden jetzt auch gern hier sein." So etwa vielleicht. Es passierte daraufhin ganz einfach gar nichts. Die alte Dame mag bei sich erschrocken gewesen sein, dass ihre "Schlechthörigkeit", wie sie sagte, zu ihrer Nachbarin gewandt, anscheinend doch schon wieder zugenommen habe, und die beiden anderen suchten auch keine Fortsetzung der Unterhaltung. Das hatte ich mir also bewiesen. Ob ich mit einer kaum durchschaubaren Maske des Lächelns vor eiskaltem Verfolgen der eigenen Meinungen oder der eigenen Interessen oder Boshaftigkeiten mein Leben leichter hätte führen können, weiß ich nicht. Ich wollte das jedenfalls nicht und glaube, dass ich unter der Maske erstickt wäre. Es ging mir nicht um eine gefällige Art des Verbergens meiner tiefsten Gedanken, außer einmal im Spiel wie mit den alten Damen, sondern um das, was hinter der Maske sein musste, die ich nun bei anderen zu erkennen glaubte. Mit elf begann ich mich danach zu sehnen, vertrauen zu können, zu sehnen nach wirklichem Gespräch, nach Wahrheit. Ja, mit der Entschiedenheit von Kindern und Sektierern glaubte ich, dass es zu jeder Lebensfrage eine einzige wahre Antwort gäbe. Nur musste man vielleicht lange danach suchen. Und ein wirkliches Gespräch hatte ich ja tatsächlich im Jahr zuvor mit Frau Reiter schon erlebt. Es gab das also auf der Welt!
Bei diesen Geburtstagen der drei Braun-Kinder Monika, Marita und Thomas ereignete sich übrigens schier Ungeheures: Die Gäste-Kinder nämlich, die doch eigentlich Geschenke mitzubringen hatten und das auch taten, erhielten auch selber welche! Ein Knäuel Wolle zum Beispiel (ich hatte noch gar keine Verwendung dafür, denn ich hatte mich bisher geweigert, stricken oder häkeln zu lernen), eine Schachtel Buntstifte (ich benutzte sie, um Muster auszumalen, frei zu zeichnen versuchte ich erst später, ohne Erfolg) und noch ein Buch, alles auf einmal! Eines dieser Bücher hieß übrigens, das hat das Kind Ursa und hat die Erwachsene nie vergessen, Jutta will ein Junge sein, und ich überlegte mir damals lange und sehr ernsthaft, ob das nicht vielleicht mein Fall auch sei. Aber ich kam dann zu dem vorläufigen und vernünftigen Schluss, nichts zu wollen, was doch nicht möglich sei, und hegte weiterhin die Hoffnung, aus mir könne vielleicht trotzdem etwas werden, also obwohl ich ein Mädchen war. Was das sein würde, war mir zeitweise ganz klar,: eine Astronomin nämlich, die neue Sterne entdecken würde, die dann nach ihr benannt werden würden. Das kam von einem Buchauszug im Reader's Digest, das mein Vater meiner Mutter jeden Monat "aus dem Westen" mitbrachte. Denn das war das Niveau ihrer und zum Teil auch meiner Lektüre, wenn ich mich nicht aus dem Bücherschrank des Vaters bediente und mich an noch Unverstandenem abarbeitete. Hätte ich mich nun aber nicht darum kümmern müssen, mir zumindest ein wenig Wissen über Astronomie anzueignen? Ich tat es nicht. Das Ganze war nicht mehr als ein zeitweiliger Tic, wie wenn Jungs Lokomotivführer werden wollten (ein Wunsch, der oft viel ernsthafter ist und wirklich zu dem Beruf führt) oder Mädchen Filmstar, auch meist eine vorübergehende kindliche Grille. Nur ich bildete mir auf meine Grille, ganz für mich allein, versteht sich, ungeheuer viel ein. Und war mit dieser Grille auf Rückzug und Verschwinden in Höhlen-Sicherheit bedacht, wenn die auch nur gebildet wurde von Ranken von Wildem Wein, an Bindfäden quer über eine Balkonecke geführt. Es musste ja nicht das Weltall sein, dachte ich manchmal. Aber Griechenland, das würde ich doch vielleicht zu sehen bekommen.
Übrigens habe ich Jutta will ein Junge sein in einer Nacht auf dem S-Bahnhof Sonnenallee in einem Rutsch gelesen. Wie das? Die letzte S-Bahn war uns weggefahren, Geld für ein Taxi war natürlich nicht vorhanden, kalt war's, aber der Aufsichtsbeamte ließ uns in seinem überheizten Dienst-Kabäuschen auf den ersten Zug des neuen Tages warten. Die Eltern schoben sich erst wechselseitig die Schuld zu für den verspäteten Aufbruch, doch irgendwann nickten sie ein. Ich aber war hellwach, las das Buch durch und fing an, mir ein neues auszudenken: Ursa will andere Eltern.
Bei Kuchenessen, Topfschlagen, Flaschendrehen verliefen die Kindergeburtstage bei Brauns immer erfreulich und sehr fröhlich. Herr Braun war meistens nicht zu sehen, dieser Trubel schien seine Sache nicht zu sein. Frau Braun war überall zugleich, und ich wusste darum nicht, wie sie eigentlich war, gewann aber aus manchen Gesten, manchem Lächeln den Eindruck, dass ich sie wohl gern haben würde, wenn ich sie je kennen lernen könnte. Es freute mich im Übrigen diebisch, dass meine eigene Mutter, die sonst über mich herrschte, hier dem beim Spielen vieler Kinder natürlich entstehenden beträchtlichen Lärmpegel nicht Einhalt gebieten konnte und einmal sogar von allen anderen Erwachsenen ausgelacht worden war, als sie es doch versucht hatte. Zu sehen, wie sie sich in den Augen anderer lächerlich machte, das gefiel mir zu und zu gut.
Zwar lernte ich die Braunschen Geburtstagskinder inmitten der Schar ihrer Gäste ebenso wenig kennen wie ihre Mutter, auch die anderen Gastkinder nicht, verlor aber die Angst vor dem Neuen, mit der ich anfangs zu den Brauns gekommen war. Ich erprobte mich im Spielen mit den Allerkleinsten, den Gästen des kleinen Thomas, wurde sehr gelobt dafür und kehrte mit neuem Selbstbewusstsein nach Hause zurück zu Büchern, Farbstiften und Gedanken und zu dem Oleander und der Bougainvillea auf dem Balkon und einer potentiell unsterblichen Zimmerlinde drinnen, der immer noch rechtzeitig, bevor eine als Einzelexemplar einging, ein Setzling entnommen wurde, aus dem sich eine neue Linde fürs Zimmers entwickelte. O Griechenland! Einen Olivenzweig hätte ich gern gehabt, nicht dieses staubige Stubengewächs!

Dann geschah in jenem Sommer 1951 etwas bisher Unerhörtes, nicht Geheures: Mein Vater brachte an einem Sonnabend eine Einladung für mich ins Sommerhaus der Brauns in Kladow auf dem Spandauer Havelufer mit nach Hause, für einige Tage und Nächte wenigstens oder solange ich eben Lust hätte; bis zum Ende der Sommerferien, wenn ich wollte. Erkennbar überbrachte der Vater dem Kind die Einladung ungern, aber korrekt, sie war schließlich eine Chefsache, und deshalb kam ein Verbot nicht in Frage wie bei der Reise, die die Kirchengemeinde für ihre Kinderkreise angeboten hatte. Und die Tochter würde ja auch nur mit den eigenen Kindern der Brauns zusammen sein, also sorgfältig gehütet werden.
Das Kind seinerseits, ich also, Ursa, das ja gesellige Kontakte bisher nicht gekannt hatte außer denen bei den Braunschen Kindergeburtstagen, jeweils einen Nachmittag und frühen Abend lang, das Kind, das gerade erst Johanna Brander begegnet war und in ihr - es wagte das noch immer kaum zu glauben – einem Menschen aus seiner Wunschwelt von Offenheit und nicht Maske, es wurde zunächst doch von seinen alten Ängsten überfallen: Wie würde es sich zu den Kindern zu verhalten haben, wie zu den Eltern, nun allein mit ihnen und für Tage? Würde es Gast sein, ältere Schwester oder beides oder was sonst? Und wie würde das sein? Wo Eltern niemals Gäste hatten, wie konnte ein Kind wissen, was das war, ein Gast? Sollte oder musste es anbieten, Frau Braun im Haushalt zur Hand zu gehen? Freilich: es hatte keine Ahnung von allen diesen Rollen, gerade eben neu von der einer älteren Schwester. Aufregend genug war das, wenn Felix Brander das wirklich manchmal fragte, eigentlich sagte: "Bist du meine große Schwester?" Allein schon das Wort zu hören von einem kleinen Jungen, der nicht wissen konnte, was für ein Geschenk er mir machte! Durch ihn hatte das Wort "Schwester" für mich Leben erhalten und auch das Wort "Bruder", zu dem bisher nur das Wort Tod gehört hatte. Würde das Kind, ich, Ursa, außerdem alles essen müssen, was man ihm auftat, wie bei seiner Mutter, oder würde es selbst bestimmen dürfen, was und wie viel es zu sich nahm? Und wo würde es schlafen? Würde es an einem fremden Ort überhaupt einschlafen können?
Eigentlich zuviel an Neuem, dachte ich in meiner Bedenkzeit über einen Abend hin, zuviel, um mich mit allen diesen Fragen zugleich herumzuschlagen. Und unmöglich, noch Johanna um ihren Rat zu fragen, die damals für mich noch Frau Brander war. Am liebsten wäre ich in die mehr imaginierte als wirkliche Laube unter dem Wildem Wein zurückgekrochen, wäre geblieben in der Ereignislosigkeit der Familie, die aber doch wenigstens bekannt war, wäre geblieben in der mir zunehmend schauerlich vorkommenden Einsamkeit meiner Balkonferien, hätte mich gern in die Zinkwanne gesetzt und wäre mit ihr als Schiff unter den Segeln meiner Phantasie diesem zugleich abschreckenden und verlockenden Knäuel an möglichen Problemen im Sommerhaus Braun an der Havel zu fernen ägäischen Inseln entkommen.
Doch beschloss ich, ganz mit mir allein, wie sonst, die so unerwartet mir gebotene Gelegenheit zu den ersten wirklichen Ferientagen meines Lebens nicht aus Feigheit verstreichen zu lassen, es mir nicht zu erlauben, das verlockende Verkriechen, das Verharren im Sprachlosen. Ich suchte inzwischen das Gespräch ja geradezu mit Sucht. Und ich hatte begriffen, dass meine Familie dazu nicht geeignet war. Es war die Zeit, in der die Liebe zum wiedergekehrten Vater in Ambivalenz überging.
"Ja", sagte also das Kind, ich, nach nur zwei Stunden Bedenkzeit zu seinem Vater und nahm all seinen Mut zusammen, "ich möchte gern, dass du mich zu Brauns bringst." Es spürte unklar, dass nicht es selbst die Angst vor dem Neuen hatte, sondern, wie vor den Kindergeburtstagen, seine Eltern; dass es heraus musste aus ihrer ängstlich-engen Sphäre und dass dieser Besuch bei Brauns in Kladow vielleicht ein erstes Stück des Weges dazu sei. Und an die Branders würde sie von dort aus bestimmt eine Karte schreiben können, erklären, warum sie so plötzlich verschwunden sei - ihre erste Ferienkarte!
"Du musst sicher das Zimmer mit den beiden Mädchen teilen oder bei dem kleinen Thomas schlafen", versuchte die Mutter ein Festhalten. Das freilich war ein Eigentor. Denn da konnte Ursa antworten: "Und? Hier hab' ich ja auch kein eigenes Zimmer, und der Paravent kommt von Tante Hilde. Ach, und überhaupt."
"Sei nicht so frech, Kind," sagte der Vater, dem der private Kontakt mit seinem Chef, der ihm nun bevorstand, sichtlich unangenehm war, "aber hol ihr einen Koffer, Friedel, wenn das nun mal alles nicht vermeidbar ist." Ein kleiner Koffer wurde also gebracht, uralt, mit Schnappschlössern, die nicht mehr schnappten. Das mir von der Mutter gepackte Gepäckstück musste mit einem fast ebenso alten Ledergürtel zusammen gehalten werden. Das war dem Kind peinlich. Wie würde das denn vor den Brauns aussehen? Außerdem, dachte es, hätte es wohl seine Sachen selbst zusammenpacken können, auch wenn es das noch nie getan hatte. "Einen Badeanzug habe ich gar nicht", sagte Ursa. "Was macht das? Hier auf dem Balkon sitzt du doch auch im Höschen. Und überhaupt: Sei artig bei den fremden Leuten", ermahnte die Mutter. "Sprich nur, wenn man dich fragt. Iss auf, was man dir auf den Teller tut. Hilf mit beim Aufdecken und beim Abwaschen. Oder nein, hilf nicht mit. Sag, dass du es gern würdest, aber dass du leider alles hinfallen lässt. Aber Staub wischen könntest du anbieten." Und so weiter, bis der Vater ihr ins Wort fiel: "Nun ist es aber gut, Friedel. Lass sie in Ruhe." 'Und überhaupt', dachte ich still für mich. Er selber ging zu einer öffentlichen Telefonzelle, um in der Sonnenallee anzurufen und zu hören, mit welcher Fähre wir denn am folgenden Tag kommen sollten. Ein Treffen in der Wohnung der Brauns und Autofahrt nach Kladow über die Glienicker Brücke samt Kaffeeeinladung für sich und seine Frau hatte er abgelehnt. Das erfuhr ich aber erst später. Es wäre ja ein ihm gänzlich gestohlener Sonntag geworden. Und auch allein in einem fremden Auto hätte er mich keinesfalls mitfahren lassen, und außerdem wollte er wohl wissen, wo ich denn sein würde da draußen vor seiner Stadt, wo er nie vorher gewesen war. Aber nicht um den Preis von Kaffee und Kuchen.
Am folgenden Tag fuhr der Vater mit seiner Tochter also erst einmal durch ganz Berlin mit S-Bahn und Bussen und dann auf einer Fähre über die Havel nach Kladow. Die ganze Zeit war er stumm, so stumm, wie bei den unfriedlichen Sonntagszusammenkünften der Familie. Das war seine Art, der Tochter sein Unbehagen darüber auszudrücken, dass der Sonntag für ihn natürlich auch auf diese Weise hin war.
Sie ließ ihn aber nicht in Ruhe, fragte nach Namen von Bahn-Stationen, die sie eigentlich aus dem Heimatkundeunterricht kannte: "Was heißt Spittelmarkt? Und was heißt Hausvogteiplatz? Und wieso gibt's 'ne Mohrenstraße?" Da fuhren wir wahrscheinlich gar nicht, aber die Namen der Stationen kannte ich. "Und was heißt Witzleben, wo wir zum Lietzenseepark aussteigen, oder Pichelsberg, wird da immer gepichelt?" Und ich gackerte. Aber da sagte der Vater: "Lass mich in Ruhe mit deinen Albernheiten. Wenn du dich da auch so aufführst, werden sie dich schnell wieder zurückschicken. Denn vorwitzige Kinder kann der Herr Braun nicht leiden."
Ja, so war das mit unserer liebenswerten Familie, wenn es einmal etwas Neues gab: Die Mutter ermahnte in einem fort, der Vater verfiel in Schweigen oder keilte aus, mit Worten oder auch mit Ohrfeigen, und ich, das gab ich mir inwendig immerhin zu, ich wurde albern.

Herr Braun und seine Kinder kamen gerade in ihrem Auto angefahren, als die Fähre anlegte. "Kleine Badewiese" hieß die Station oder vielleicht auch "Große Badewiese". Und ich konnte nicht schwimmen und sollte ein Höschen anziehen, wenn ich, "aber ganz vorsichtig", ins Wasser gehen wollte! Und die Brauns kamen mit einem Auto! Sie mussten also reich sein wie die Eltern meiner Freundin Hilde, die das nun schon nicht mehr war, meine Freundin. Die besaßen das einzige Auto, in dem ich schon einmal hatte mitfahren dürfen, sogar mit Chauffeur, vorn mit einer Kurbel zum Anlassen, mit Winkern, die man von Hand ausstellte und mit zwei Stufen ins Wageninnere, noch sehr postkutschenmäßig. Die Freundschaft mit Hilde, die ich mir mit Kinderernst fürs Leben gedacht hatte, war getötet worden von einer Schar Kopfläuse. Sogar Hilde hätte die doch, hatte ich unbedacht zu anderen Kindern gesagt, als wir alle sie hatten. Ich hatte irgendwen trösten wollen: Es konnte doch nicht so schlimm sein, Läuse zu haben, wenn sogar Hilde welche hatte.
Aber ehe sich die Bitternis des armen Kindes wieder in mir festsetzen konnte, dem von der Älteren die Freundschaft gekündigt worden war, sprangen die Braun-Mädchen fröhlich aus dem Auto heraus und liefen auf mich zu und umarmten mich beide, jede von einer Seite, tanzten um mich herum, so dass ich fast vergessen hätte, mich von meinem Vater zu verabschieden, der mich so stumm und widerwillig hierher gebracht hatte. Ich gab ihm die Hand, machte einen mitteltiefen Knicks, halb aus alter Gewohnheit, halb aus Bosheit, und war ganz erstaunt, als ich meinerseits einen Kuss auf die Stirn erhielt. Solche Zärtlichkeiten gab's eigentlich nicht in meiner Familie. Da musste ja schon, dachte das Kind, wenn auch sicher mit anderen Worten, fast die Welt aus den Fugen sein.
Herr Braun, der seinen kleinen Sohn auf dem einen Arm trug, hob mit der anderen Hand mein Köfferchen auf und sagte zum Vater der mutigen Elfjährigen, er werde ihn im Büro anrufen, um ihm zu sagen, wann sie wieder abgeholt werden wolle. Denn er selbst bleibe ja nun da und mache auch Ferien. Das alles ging so schnell, dass mein Vater mit derselben Fähre wieder zurückfahren konnte, mit der er gekommen war. Das versöhnte ihn vielleicht ein wenig über die entgangene Schreibzeit. "Doch wenigstens eine Tasse Kaffee" hatte er gleich abgelehnt. Herr Braun ging also mit Thomas zum Auto.
Monika und Marita kamen dann, jede mich an einer Hand haltend, auch beim Auto an. Wir hatten etwas länger gebraucht wegen der vielen getanzten Schleifen, die wir zurückgelegt hatten. Sie setzten sich auf die Rückbank, dann nahm Monika den kleinen Bruder auf ihre Knie, und sie ließen mir den Platz vorn neben ihrem Vater. Da es ja erst das zweite Auto in meinem Leben war, in dem ich saß, hätte ich wohl sehr beeindruckt davon sein müssen und auch eingeschüchtert, jedenfalls nach dem, wie ich mich bisher kannte. Aber das Auto war überhaupt nicht das Wichtige. Das wirklich Wichtige war: Noch nie war ich irgendwo so voller Freude und Fröhlichkeit empfangen worden. Neulich bei Frau Brander mit großer Freude, ja, und das war noch gar nicht lange her, und mit viel Verständnis bei Frau Reiter und Frau Dr. Bruhns, aber hier waren es Kinder, die tanzten, weil ich gekommen war. Solche gab es also auch und nicht nur eine wie Hilde Heidbrink, die nichts mehr von mir wissen wollte, und nicht nur solche wie Monika und Ingrid aus meiner Klasse, die sich manchmal beim eigentlich gemeinsamen Rückweg von der Schule die Ranzen nach vorn schnallten und mich mit ihnen in die Privatstraße zwischen Kugler und Wisbyer drängten, so dass ich einen Umweg nach Hause machen musste. Das war nicht besonders böswillig, aber es war auch kein Spaß. Und zwei Tage später kamen sie wieder nachmittags zu mir und wollten Russisch oder was erklärt haben, und ich erklärte es, weil ich wusste, dass meine Mutter zu feige war zum Vermitteln. Also hatte ich ihr von solchen mittäglichen Ärgernissen gar nichts erzählt.
Nach kurzer Fahrt hielt das Auto vor einem grün gestrichenen Holzhaus an, das durch mehrere Anbauten an beiden Seiten etwas unproportioniert lang geraten war, wie es sich dann von der Gartenseite her zeigen sollte. Frau Braun stand schon vor der Haustür, die über einen mit Eisbegonien eingefassten Kiesweg zu erreichen war und zu der ein paar Treppen hoch führten, und erwartete alle. Anders als bei den Kindergeburtstagen in der Stadtwohnung umarmte sie auch mich, das fremde Kind. Wieder war ich erstaunt darüber, dass sich jemand anscheinend wirklich freute, dass ich gekommen war, nun auch die Mutter der beiden fröhlichen Mädchen. Und ein sonntägliches Kleid hatte sie an, genäht nach demselben Schnittmuster, wie ich eins besaß, das mein allerliebstes Lieblingskleid war und das deshalb das einzige Kleid aus meiner Kindheit ist, an das ich mich genau erinnern kann: ärmellos, aber mit einem üppigen übergroßen gerüschten Kragen, der sogar die Oberarme wieder ein Stück bedeckte, und mit einem weiten Rock, der in großen Falten locker eingelegt war. Mein Kleid war hellblau mit unregelmäßigen weißen Flächen und schwarzen Schlängellinien darin. Ich hatte es nicht mit, denn es war ja ein Sonntagskleid. Sie aber hatte ihres an, obwohl es erst Sonnabend war. Aber sie war ja erwachsen und zog eben an, was sie mochte. Der Stoff war ein anderer als bei meinem Kleid, weiß mit dicken schwarzen Punkten. Der Kopf schwirrte mir vor all den neuen Eindrücken.
Dann zeigte mir Frau Braun, die inzwischen den kleinen Thomas auf dem Arm trug, das Haus. "Usa, Usa", piepste er immer wieder. Monika und Marita wirbelten zwischen uns, erklärten immer wieder etwas, das ihrer Meinung nach vergessen worden war, und durften das auch, ohne zur Ordnung gerufen zu werden. Links von der Haustür waren also die Küche, das Elternschlafzimmer und das Klo, ursprünglich nur von außen zu erreichen gewesen und ein Plumpsklo, rechts ein Wohnzimmer. So hatten die Brauns das Haus bald nach dem Krieg gekauft. Für Eltern und zwei Kinder war es zu klein. Sie hatten aber Geld genug, um anzubauen, an jeder Seite ein Zimmer für jedes der Mädchen und am Ende des Ganges noch ein drittes neues, ein Gästezimmer oder ein Zimmer für ein drittes Kind. Und dahinein führte mich Frau Braun, dort sollte ich schlafen! Noch nie hatte ich ein eigenes Zimmer gehabt! Es war ein Raum mit Fenstern nach zwei verschiedenen Seiten hin, eines zur Havel gerichtet und eines, das auf ein Nachbargrundstück hinausging. Ringsherum standen lichte Kiefern, so dass man meinen konnte, man lebe im Wald. In das große Fenster scheine vom Fluss her die Morgensonne, sagte Frau Braun. Welche Seligkeit! Menschen, die mich mochten, ein eigenes Zimmer, Wald, Wasser, Sonne. Natürlich konnten die Bäume keine griechischen Pinien sein und der Wannsee nicht die Ägäis, aber selbst hier im Haus duftete es nach dem Harz der Kiefern. Welche Freude, als ich meinen Teddy auf das rot-weiß-gewürfelte Bettzeug setzte! Abgeschabt war er und überhaupt nicht mehr vorzeigbar nach Meinung der Mutter, die dem Kind eine Puppe hatte mitgeben wollen, die sie behäkelt und bestrickt, benäht und mit Zopfschleifen versehen hatte wie das Kind selbst noch vor gar nicht langer Zeit. Die war ansehnlich, weil unbenutzt. Das Kind hatte ja mit Puppen nie etwas anfangen können.
Ich konnte kaum den Blick von diesem noch unbekannten Bett abwenden, auf dem nun mein eigener Teddy saß. Dann aber, als ich das doch tat, als ich aus dem Fenster meines Zimmers sah, das auf die Havel ging, wirklich auf diesen dort seebreiten Fluss, also den Wannsee, da sah ich gar nicht die Terrasse, die sich noch ans Haus anschloss, sah also auch nicht, dass das Fenster eine Terrassentür war, unten mit weiß gestrichenem Holz wie die Fensterrahmen alle, sondern sah etwas weit Aufregenderes, das kaum zu fassen war: Eine Holzhütte, eine Laube, ein Häuschen mit weißen Gardinen, achteckig wohl, stand im Garten, noch unter den Kiefern am Rand des Rasens, fast schon da, wo er abbrach wie ein kleines Steilufer und wo der Ufersand begann! Und dies Häuschen war über und über mit roten Kletterrosen bewachsen.
"Darf ich dahin gehen?" fragte ich Frau Braun, die mit ihren Kindern auf der Terrasse stand. Denn ich hatte gelernt, um Erlaubnisse zu fragen. "Natürlich." Aber schon war ich losgelaufen, klinkte die Tür auf, sah innen eine Bank mit Kissen, roch das sommerwarme Holz und den Duft der Rosen und kuschelte mich hinein in die üppigen Kissenpolster.
Es konnte niemand wissen, dass hier das stand, was das Balkonkind sich phantasiert hatte, die Vollendung alles dessen, eine Höhle und ein Dornröschenschloss und auch noch ein Traumflugzeug und eine Unterwasserkugel, die Erfüllung seiner tiefinnersten Geborgenheits-Sehnsüchte.
Wenn das Kind später an diese erste Begegnung mit dem Rosenhäuschen dachte, dann vor allem voller Dankbarkeit, dass man es darin allein gelassen hatte, dass also Frau Braun, die liebe Frau Braun, etwas gespürt haben musste von seiner aufgewühlten Freude, die noch anders war als Ferienfreude sonst, die sie ja kannte, ich aber nur in der Form der Balkonien-Phantasien. Auch die Mädchen, die doch ihrerseits voller Erwartung steckten, wie es sein würde, das Leben mit einer großen Schwester, kamen mir nicht nach ins Häuschen, wahrscheinlich sanft von ihrer Mutter zurückgehalten, und ich schlief ein und wachte erst wieder auf von Stimmen und Lachen und von klapperndem Geschirr. Da sah ich, dass es dämmerte, spät jetzt erst im Anfang des Hochsommers. Ich verließ mein Refugium halb unwillig, halb auch erleichtert, dass ich hier ja nicht allein war sie sonst immer, und sah, wie im Ufersand schon ein Feuer brannte und ein großer Teller mit Würstchen bereitstand, die darin auf Stöcken geröstet werden sollten.
Doch hatte ich einige Mühe, in die Wirklichkeit zurückzukehren, und hatte plötzlich das Gefühl, dass ich mich durch mein Weglaufen und Einschlafen im Rosenhäuschen vielleicht - nein, ganz bestimmt! - fürchterlich falsch benommen hätte. Aber ich hatte ja mutig sein, hatte ja Neues lernen wollen. So rückte ich näher zu Frau Braun hin, die sich zu mir gesetzt hatte, und versuchte mich an einer Entschuldigung.
"Aber nein, Ursa", sagte diese, und das Kind hörte das Verstehen in ihren Worten und gar keinen Tadel, "wir haben alle gesehen, dass dies Häuschen für dich irgendetwas Besonderes bedeuten muss. Wenn du möchtest, kannst du uns davon erzählen. Aber du musst es nicht. Übrigens hab' ich dir ein paar Rosen abgeschnitten und in dein Zimmer gehängt. Da trocknen sie, und du kannst sie mit nach Hause nehmen. Die frischen siehst du ja hier noch so viele Tage, wie du willst."
Das Kind, ich, Ursa, der letzte Spross vom Stamm der zänkischen Zinkes, das pubertär schwankte zwischen dem Hochmut der intellektuellen Alleskönnerin und dem Unterlegenheitsgefühl der Unsportlichen, zwischen der Sehnsucht nach Menschen, die es verstehen würden, und seiner stolzen Einsamkeit, weil es solche Menschen bisher nicht verlässlich gegeben hatte, die Freundin Hilde nicht, den zurückgekehrten Vater nicht - es fühlte sich bei der Familie Braun geborgen wie selten. Unter allen Adoptivfamilien, die es sich suchte und immer wieder auch zeitweise fand und einmal sogar fürs Leben, Johanna und Clemens und ihre Kinder, war diese die erste und die Zeit mit ihr die kürzeste. Aber alles erstmals Gelungene vergisst man nicht wie die erste Liebe.
Das Gastkind, das sich so sehr hatte überwinden müssen, den Aufbruch ins Unbekannte zu wagen, saß nun am Lagerfeuer an der Havel, am Wannsee, und hielt den Stock mit seinem daran aufgespießten Würstchen mit der linken Hand ins Feuer, damit Frau Braun ihren linken Arm nicht von seiner rechten Schulter nehmen sollte. Die verstand das. Dann hörte das Kind sie eine Melodie summen, die es auch kannte, ein altes Lied: "Kein schöner Land in dieser Zeit als hier das unsre weit und breit ...". Das Kind wusste den ganzen Text, denn es hatte ihn im Schulchor gelernt und hatte angefangen, Liedertexte zu sammeln, und liebte besonders die schwermütigen. Frau Braun und ich, wir sangen alle Strophen. Und als ich gerade anfangen wollte zu weinen, vor Rührung, vor Glück, ja, vor Glück, da sagte Monika sehr bestimmt:
"Morgen bringst du uns das bei, Ursa, dies Lied, da in deinem Rosenhäuschen, damit wir mitsingen können."
"Ja, und wenn ihr wollt, auch noch andere Lieder. Ich kenne viele."
Aber dazwischen würde die Nacht liegen, die erste Nacht in einem fremden Zimmer, das zugleich ein eigenes war. Das sei ein Widerspruch, huschte es mir flüchtig durch den Sinn. Nein, es sei keiner, antwortete eine andere Stimme: Denn solange es kein eigenes Zimmer gebe, könne eben nur das fremde ein eigenes sein, für eine Weile. Seit Bombenkellerzeiten konnte ich schlecht einschlafen, hatte auch deshalb das 'fremde' Zimmer gefürchtet, aber nun war das nicht mehr wichtig.
"Und vorlesen kann ich euch auch", sagte ich, aus meinen Gedanken in den Tag, vielmehr nun schon die Nacht zurückkehrend, zu Monika und Marita, als wir zu Bett gingen und ich bei jeder noch auf der Bettkante sitzen sollte, die große Schwester, und jeder noch ein Lied vorsingen, das heißt natürlich beiden zwei, denn jede war schnell noch vor mir im Bett der anderen, wenn ich kam.
In meinem Zimmer sah ich die Rosen mit einem breiten Band am Fensterriegel hängen. Noch dufteten sie, und es tat mir ein wenig leid darum, dass sie abgeschnitten worden waren, ums Leben gekommen gerade in ihrer schönsten Pracht. Gern wäre ich durch die Terrassentür wieder in den Garten gegangen und hätte vor dem Einschlafen noch einmal das Rosenhaus besucht. Aber ich fürchtete, jemand zu wecken, und tat es nicht. Mit Mühe rief ich mir Bilder aus der elterlichen Wohnung ins Gedächtnis zurück, die ich doch erst am Vormittag desselben Tages verlassen hatte. Gar keine Sehnsucht hatte ich danach, stellte ich fest, recht verwundert erst und dann sehr zufrieden. Und bald schlief ich ein in seliger Gegenwart.
Am anderen Morgen wurde ich geweckt von flackernden Sonnenstrahlen, die durch die Terrassentür in mein Zimmer fielen, gewiegt von den Ästen der Grunewald-Kiefern. Es war ein goldenes Licht, wie ich es so vollkommen seither nur noch einmal erlebt habe, und da wirklich in der geliebten Ägäis, wo ich vor unserem Bungalow nachts in zuverlässiger Wärme und wie in himmlischem Frieden auf der Terrasse schlief, nur mit einem Laken bedeckt, und aufwachte, wenn die Sonne erstmals um die Ecke eines Gebäudes schien und mich mit ihren rosigen Fingern streichelte, und das war auch das Zeichen zum Aufstehen. - Hier aber, da ich im ganzen Haus kein Geräusch hörte, war ich sicher, dass ich noch nicht aufzustehen brauchte, sondern mich dieser Vollkommenheit und der süßen sonntäglichen Stille hingeben durfte, die ich um mich empfand.
Dann tobten die Schwestern herein, sie wollten ein Morgenlied hören, und dann würden wir frühstücken und dann sollte ich ihnen neue Lieder beibringen und dann ... und dann ... Und ich gab den Mädchen Anschwung auf der Schaukel und auch dem kleinen Thomas, dem natürlich sehr vorsichtig, und ich wollte auch selber schaukeln, eigentlich schaukeln lernen, denn ich konnte es gar nicht, und wollte einfach nur im warmen Sand liegen und mit den Blicken die Kiefernstämme hinaufsteigen und Rad fahren lernen und schwimmen lernen und Thomas ein Bilderbuch zeigen und mit ihm Sandkuchen backen und natürlich wieder im Rosenhäuschen sitzen. Und alles das versuchte ich auch.
Das Rad fahren musste ich wieder wie neu beginnen, erinnerte mich aber daran, dass ich es ja in der Kuglerstraße schon einmal so weit gebracht hatte, mit dem Rad einer Besucherin meiner Großmutter, dass ich meinen konnte, ich würde es lernen. Und nun lernte ich es. Dann kamen aber wieder Jahre, in denen ich nicht üben konnte, weil niemand ein Rad hatte, auch Johanna nicht mehr; es war ihr gestohlen worden. Und meine Eltern hielten ihr Versprechen nicht, dass ich beim Umzug in den Westberliner Vorort Mariendorf endlich ein Rad bekommen würde. Angeblich war es auch dort zu gefährlich. Mein schwimmen lernen gelang nur halb. Zu groß war die Furcht vor dem Wasser. Und zuallererst schämte ich mich, denn natürlich hatten die Braun-Kinder Badehosen, ich aber nur meine schlabberige Unterhose und war doch die "Große", der schon deutlich der Busen wuchs. Da kaufte mir Frau Braun einfach einen Badeanzug, und ich bekam einen Schwimmgürtel aus Kork, aber nur mit dem und jemand neben mir lernte ich ein Stück hinaus zu schwimmen. Die Braun-Mädchen mit ihrem Sommerhaus auf einem Wassergrundstück konnten natürlich beide schwimmen. Mein Element ist Wasser nie geworden.
Die Tage in Kladow waren erfüllt von einer dem Kind kaum begreifbaren Seligkeit, einer Empfindung der Zeitlosigkeit, der es sich eine Weile einfach überließ. Oder ich könnte sagen, nochmals: Damals habe ich zuerst empfunden, dass es das gibt, Glück. Immer war der Himmel von üppigem Blau, so sagt es meine Erinnerung jedenfalls, immer war das Wasser der Havel warm, immer wieder schwangen wir Kinder uns auf der Schaukel für Sekunden aus der Schwerkraft, saßen zusammen im Rosenhäuschen, und die Große las den Kleineren vor, wie es in Glindow eine viel kleinere Große einst getan hatte, das wusste sie noch, und sie brachte ihnen Lieder bei, die wir abends den Eltern vorsangen.
Dann sagte an einem Freitagabend Herr Braun, der seit zwei Wochen nur noch zu den Wochenenden zu seiner Familie herausgekommen war, zu mir, in zwei Tagen werde mein Vater kommen und mich abholen. Auch die Familie Braun werde in ihre Stadtwohnung zurückkehren. Das machte dem Kind den Abschied erträglich. Denn seit Herr Braun offensichtlich wieder arbeitete, hatte es begonnen, jenen Tag zu fürchten, der das Ende der Ferienfreude ankündigen würde. Aber es hatte schon erraten, alles müsse ein Ende haben.
Das Kind, ich, Ursa, das nun wieder zum Balkonkind in Utopien und bald auch wieder zum Schulkind werden musste, keinen Wannsee mehr haben würde, nur die alte Zinkbadewanne, keine Schaukel, kein Rosenhäuschen und nicht den Geruch der Kiefern und das Gefühl des warmen Sandes zwischen den Zehen, Ursa also schenkte zum Abschied ihren Teddybär dem kleinen Thomas, der schon die ganze Zeit damit gespielt hatte. Mit den Mädchen und der ganzen Familie sang es in der letzten Nacht, wieder an einem Lagerfeuer, wieder mit Grillwürstchen vom Spieß, alle nun gemeinsam gewordenen Lieder. Sie schenkte beiden Mädchen eins von ihren mitgebrachten, aber gar nicht gelesenen Büchern und bekam dafür jeweils eins im Tausch. Sie standen zum Abschied zu dritt umschlungen am Seeufer und sangen ein anderes von den schwermütigen, eigentlich unverstandenen Liedern: "Jenseits des Tales standen ihre Zelte,/Zum hohen Abendhimmel quoll der Rauch ..." Ein NS-Lied. Sie wussten es Gott sei Dank nicht. Felsenfest verabredeten sich die Drei für den nächsten Sommer wieder in Kladow im Rosenhäuschen.
Doch dazu kam es nicht mehr, denn der Vater des Balkonkindes nahm eine andere Stelle an oder richtiger: Er bekam wieder eine bei der Bank, bei der er gelernt hatte, und da ja die beiden Elternpaare nicht befreundet waren, sahen sich auch die Kinder nicht wieder. Fast war ich froh darüber. Ein solches Sommerglück, das hatte ich ja schon geahnt, während ich noch die letzten Tage davon erlebte, konnte nicht wiederkehren.
Die getrockneten Rosen hängte ich am kleinen Fenster der Speisekammer auf. Es gab keinen anderen Ort, wo sie hängen durften, nicht einmal in der Küche am oberen Fenstergriff. Da hegte und hütete ich sie lange. Wie? Ich sah sie an, wenn ich sicher war, dabei allein zu sein. Die Erinnerung an jenen Sommer, in dem ich Schwestern und einen lebendigen kleinen Bruder hatte, bewahre ich noch immer.

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