Samstag, 28. Juli 2007

DER TOD DER TÖPPERSCHEN

DER TOD DER TÖPPERSCHEN

Natürlich hatte sie auch einen Namen, wie alle Welt einen Namen hat, so einen ganz normalen bürgerlichen. Anna Lankau hieß sie. Aber niemand in der Kuglerstraße und in unserer ganzen Gegend sprach so von ihr. Und die ich fragte nach ihrem richtigen Namen, diesem, die wussten ihn alle nicht. Sie sei die Töpfer-Anna, das kriegte ich noch heraus oder eben: die Töppersche. Es lag überhaupt keine Verachtung in dieser berlinischen Bezeichnung, sondern offenbar Bewunderung, Bewunderung für ungewöhnliche Tapferkeit. Das habe ich schon als Kind so empfunden.
Und ich kannte sie, seit ich als kleines Kind war, drei Jahre alt vielleicht. Es gibt einige so frühe Erinnerungen. Die vom auswendig aufgesagten Weihnachtsgedicht in der Hochbahn, die vom Stolz, wie eine Große in den Luftschutzkeller gehen zu müssen, mitten in der Nacht. Und noch die heiteren: Wie ich auf dem Liegestuhl liege und fotografiert werden soll, aber nicht will, auf dem Balkon natürlich, wo alle Fotos gemacht wurden, die Augen zumache und denke, wenn ich nichts sehe, können auch die anderen mich nicht sehen,. also auch nicht fotografieren. Und natürlich: ich im Margaritenwald bei Frau Wilke in Heinersdorf.
Mit drei Jahren nahm ich zuerst Außergewöhnliches wahr und behielt es, und da fiel sie eben auf, die Töppersche, weil sie alltags in Handwerkerklamotten ging, in einer Latzhose wie ihr Mann. Denn meine früheste Erinnerung an sie ist es, wie sie neben einem Mann hergeht, der einen hoch bepackten großen Leiterwagen zieht, einen Wagen, der mit Kacheln, Mörtelzutaten und Werkzeugen beladen ist. So ein Wagen hieß auch Bollerwagen. Sie geht leicht nebenher, trotz der männlichen Kleidung. Oben auf der Wagenladung läuft meistens ein weißer Spitz im Kreis, der hell und giftig bellt. Manchmal aber läuft er nebenher, und wenn ich dann auf der Straße bin, habe ich Angst vor ihm.
Es muss noch zu den Kriegszeiten gewesen sein, als ich beide Lankaus so sehen konnte. Sie war seine Gesellin. Der Beruf, dem sie nachgingen, hieß richtig Ofensetzer. Und sie hatten zu tun, im Krieg beide, danach sie allein: Öfen setzen, die nicht allzu viel Heizmaterial verbrauchten, denn Öfen, wie sie zum Beispiel in den Wohnungen unseres Eckhauses Kugler/Schönhauser standen, Kunstwerke des Ofensetzerhandwerks, die bis unter die hohe Stuckdecke reichten, sahen eindrucksvoll aus, aber heizten weniger eindrucksvoll. Meine Großmutter hatte einen solchen Ofen noch in den 30er Jahren ersetzen lassen durch einen, der niedrig war, aber ordentlich breit und lang, aus einfachen braunen Kacheln, von dem man sich wärmen lassen konnte, wenn man durchgefroren von draußen kam. Aus seiner Bratröhre roch es öfter nach Äpfeln mit Zucker und Zimt, jedenfalls als die Nachkriegszeiten wieder etwas besser geworden waren. Ein Ofen zum Umarmen.
Sonst bauten die beiden Lankaus oder später die Töppersche alleine auch primitive Kochstellen in Ruinenwohnungen und auf Balkons oder in Höfen. In den Wohnungen waren es wohl solche, deren Abzüge durchs Glas der Fenster oder durch die Pappe der Fenster geführt wurden, wenn man denn Rohrstücke in den Ruinen gefunden hatte.
Von der frühen Ofensetzung her kannte meine Großmutter die Lankaus und wusste ihre richtigen Namen. Anna Lankau war zudem wie sie selbst aus Stargard in Pommern nach Berlin gekommen, nur 20 Jahre später. Das begründete eine etwas nähere Bekanntschaft, doch immer noch distanziert genug, nicht freundschaftlich. Bis 1942 fuhr meine Großmutter immer wieder in ihre Heimatstadt, um ihre Mutter zu besuchen, später zu pflegen, die in dem Jahr starb nach kurzer Krankheit. Helene war bei ihr, meiner Urgroßmutter Ernestine Krüger, von der ich nicht weiß, ob sie noch nach Berlin gekommen ist, um mich zu sehen, ihr erstes Urenkelkind. Aber eher nicht, denn das wäre doch fotografiert worden. Aber die rheinische Großmutter war einmal da, "die andere Oma". Das Foto davon, das ich als Kind kannte, ist verloren gegangen.
Nach dem Krieg zog die Töppersche allein den Bollerwagen. Irgendwann fiel mir das auf, als ich von unserem Balkon auf die Straße sah. Vielleicht war ich damals acht, vielleicht auch schon neun. Zwischen den Petunien in den grünen Holzkästen, die sich an allen vier Ecken vom Regen aufbogen und an Farbe schon reichlich verloren hatten, war viel Platz zum Runtersehen. Denn zwischen je zwei Petunien hätte leicht noch eine dritte gedeihen können, so weit standen sie auseinander. Vom zweiten Stockwerk her, von unserer Wohnung, erschien die Töppersche ziemlich weit unten, wenn sie über die Straße zog, nun selbst vor den Wagen gespannt, der Hund noch immer oben drauf oder drum herum rennend und verschreckte Leute anbellend. Und verschreckt waren eigentlich alle, nicht bloß ich, denn Spitze bellen nicht nur, sondern kneifen auch ganz schön gemein. Ich konnte also gut nach unten sehen, übrigens auch gut mit der Gießkanne die Vorübergehenden nass machen und dann schnell wegtauchen. Eigentlich müssten die Petunien große Pflanzen gewesen sein, denn sie wurden mit Pferdemist gedüngt, den man damals mit Kehrblech und Schaufel von der Straße holen konnte. Pferdewagen waren noch ganz üblich. 'Man' holte ihn aber nicht, den Mist, sondern ich hatte ihn zu holen, jedenfalls so lange, bis ich vor Ekel einmal die Treppe im Haus voll kotzte. Wie dagegen eine Petunien-Pracht aussah, das konnte man am Balkon meiner Großmutter sehen. Aber das nur nebenbei. Es war mit den Petunien in beiden Familien wie mit den Weihnachtsbäumen.
Von der Wohnung der Großmutter aus gesehen, aus dem ersten Stock, war Anna Lankau, die Töppersche, ziemlich nah. Da sah man die Spuren der Schufterei in ihrem Gesicht. Immer noch trug sie den 'Blaumann' oder sonst Nietenhosen. Ihre Haare waren fast igelkurz, dichte, kräftige grau melierte Haare. Außerdem hatte sie derbe Arbeitshandschuhe und Stiefel an. Im Winter waren noch über allem eine dicke Jacke und ein dicker Schal und auf dem Kopf eine selbstgestrickte Mütze mit Ohrenklappen. Niemand sonst auf der Straße sah so angestrengt aus wie sie, nicht einmal die Trümmerfrauen, die das eine zerstörte Grundstück Kugler/Ecke Greifenhagener abräumten und andere in der Gegend. Die tauchen zwar auch mit Handschuhen aus meiner Erinnerung auf, aber in Röcken, im Winter mit Röcken über Trainingshosen, wie ich sie bei großer Kälte auch tragen musste, und mit einem turbanartig auf dem Kopf drapierten Schal, der schon fast wieder ein Modeartikel geworden war. So etwas trug die Anna Lankau nie.
Wenn sie meine Großmutter auf dem Balkon stehen sah, rief sie ihr einen Gruß hinauf. Und manchmal kam sie auch selbst sonntags zu einer Tasse Muckefuck. Dazu wurde ich nicht eingeladen. Aber ich war neugierig geworden auf die Töppersche, die arbeitete wie ein Mann, und auf die Stadt, aus der beide Frauen nach Berlin gekommen waren, sie und die Großmutter, war neugierig auf Stargard, das nach dem Krieg nicht mehr zu Deutschland, sondern zu Polen gehörte und wohin man nicht mehr fahren durfte, vermutlich nie mehr. Und von wo man, die Russen, die Sieger, die deutschen Einwohner vertrieben hatte, auch den Onkel Ernst aus Belgard, bei dem wir noch 1944 gewohnt hatten, die Mutter und ich. Denn da waren wir ja in Sicherheit, bis dahin würden die Bombenflugzeuge nicht kommen. Dachten wir, also dachten die Erwachsenen.
Es kam ja anders. Deutschland, schwer zu verstehen, gab es nicht mehr, sondern so genannte Zonen, oder in Berlin Sektoren. Von denen hatten wir eindeutig den miesesten abgekriegt, den russischen, wo alles bloß plünnig war, was man zu kaufen bekam, lieblos entworfen, wenig haltbar, wo es manches gar nicht gab oder mit noch längerem Anstehen, als man sonst schon aufwenden musste, wo man nicht alles sagen durfte, was einem einfiel; wo man, ich, Ursa, ein Schulkind dann schon, am "Tag der Befreiung" und am Tag der Republik in Aufmärschen zum Alexanderplatz strömen musste, aber sich drücken konnte, indem man am Straßenrand vorgeblich die Schuhe neu band. Nur glaube ich nicht, dass mein Entwischen auf diese Art nie jemand gemerkt haben soll. Es wird schon einer von mehreren Gründen dafür gewesen sein, weshalb ich nicht auf die Oberschule gedurft hätte, wenn ich dann noch da gewesen wäre in der Arbeiter- und Bauernrepublik.
So war für das Kind Ursa der Ostsektor, wo es wohnte, grau und voller Mangel. Und weil die Tante und, als er wieder da war, auch der Vater, im Westen arbeiteten, weil es auch selbst manchmal in den Westen mitgenommen wurde, wusste es, dass es da besser war, dass es das aber nicht sagen durfte. Vielmehr groteskerweise das Gegenteil behaupten musste im Unterricht. Der eigene Mangelstaat war angeblich der historisch beste, den es auf deutschem Boden je gegeben hatte. Statt Englisch oder Latein lernte das Ost-West-Kind Russisch, das war eben so. Es fiel ihm leicht wie alles, was die Schule bot, aber es fragte sich doch, wozu Russisch? Und es kriegte dann auch englischen Privatunterricht, nur war der jämmerlich schlecht, aber das Kind wagte nichts zu sagen, weil der Unterricht doch Geld kostete und irgendwie für eine Zukunft gedacht war, die sich nicht auf alle Zeit im russischen Sektor abspielen sollte, anscheinend. Nur dass es den immer geben würde, das schien dem Kind klar und unvermeidlich.. Eher würde es die Berliner Westsektoren einmal nicht mehr geben. Die brauchten die Russen doch nur einzusacken, wenn sie wollten, denn drumrum gehörte ihnen doch schon alles. Aber umgeben vom Osten saßen die Insulaner auf ihrer Insel und hörten im Radio das Durchhaltekabarett vom Insulaner und seiner unbeirrten Hoffnung, dass seine Insel wieder'n schönes Festland würde, und wir im Osten hörten es auch. Und schließlich brach nicht der Westen zusammen, sondern der Osten, der fortschrittlichste deutsche Staat seit je.
Also die Töppersche aus Stargard. Auch sie konnte nicht mehr in ihre Heimat zurück wie meine Großmutter, die mitunter darüber weinte. Wie gut, dass ihre Mutter die Vertreibung nicht mehr erlebt hatte, sagte sie manchmal, aber ihre Brüder hatten alles verloren. Erst nach dem Tod ihrer Tochter, meiner Tante Hilde, las ich, dass sie sich aber nach dem Krieg mit beiden überworfen hatte. Die Streithammelei ist anscheinend eher ein Krügersches als ein Holtzsches Erbe gewesen. Alles jedenfalls, was meine Großmutter sagte, woran sie sich angeblich erinnerte, was sie auch nur gehört hatte, das war so, darauf beharrte sie, dafür stritt sie, ohne Argumente, nur mit Sturheit. Ob denn von den Polacken (ja, sie sagte so, immer), die da nun wohnten, in Stargard, auch welche in dem Haus wohnten, wo sie groß geworden war, falls es noch stand, ob denn da irgendjemand das Grab der Mutter, der Eltern pflegte? Ich dachte mir: Warum sollten sie denn, die Polen, die da nun lebten? Sie waren ja auch Heimatvertriebene, das hatte ich mühsam von meiner Geschichtslehrerin erfragt, hatte mir auf einem alten Atlas angesehen, woher sie gekommen sein konnten. Sie durfte das so nicht sagen: von den Russen vertriebene Polen. Wer pflegte denn die Gräber, die sie hatten zurück lassen müssen? Das hatte Grete Heuwagen einmal gefragt, das Dienstmädchen bei Heidbrinks, auch sie durch den Krieg eine Heimatvertriebene.
Mein Geschichtssinn begann zu erwachen, als ich zehn war und den ersten Geschichtsunterricht bekam, nicht mehr Heimatkunde. Die Lehrbücher, Historischer Materialismus von der so genannten Urgesellschaft bis zur kommunistischen Gesellschaft der Gleichen, habe ich aufbewahrt. Faszinierend war das schon, dieser geschichtsphilosophische Entwurf aus einem Guss, auch irgendwie ähnlich wie die Sache mit dem einst wiederkehrenden Christus. Auch das sollte ja das Ende der Geschichte sein. Natürlich verstand ich beides nicht.
Aber ich wollte etwas von dem wissen, was gerade gewesen war. Man sagte, ich sei über mein Alter hinaus verständig, aber auch vorlaut. Das betraf meinen Wissensdrang, mein Fragen. Besonders interessierte mich, wie die Dinge geworden waren, die so und so waren. Und wie sie angefangen hatten. Bei den meisten, die ich solches fragte, stieß ich auf Unverständnis, in der eigenen Familie sowieso. Vielleicht würde Anna Lankau über Stargard und die Polen etwas anderes wissen als Helene Zinke, die nur auf "die Polacken" schimpfte. Ich fragte die Großmutter, ob sie mich nicht dazu laden würde, wenn die Töppersche einmal wieder bei ihr wäre. Und warum war die Töpfer-Anna nun seit Jahren immer allein zu sehen, wo ihr Mann doch nicht im Krieg gewesen war? Und ob sie wohl einen Rock anzog, wenn sie Besuch machte bei Zinkes unten?
Ja, einladen würde sie mich, sagte die Großmutter, wenn die Frau Lankau einverstanden sei. Aber "nicht vorlaut" sollte ich sein, also keine von meinen eigenen Fragen stellen. Genau das wollte ich aber. Und nun?
Frau Lankau, so zeigte sich, als sie zu Besuch kam, besaß einen Rock, mindestens einen, denn einen hatte sie an. Sie besaß auch Halbschuhe, wie man damals sagte, hatte auch die an, braune, schon sehr abgetragene, das in den Gehfalten gebrochene Leder dick mit Schuhcreme bedeckt. Eine weiße Bluse trug sie wohl zu dem Rock, und über dieser schlichten Bluse sahen sogar ihre grauen Igelhaare natürlich weiterhin ungewöhnlich, aber sogar so etwas wie chic aus. Ihr Gastgeschenk - ja, ohne das ging's anscheinend nicht - war eine Kachel, selbst für mich erkennbar keine gewöhnliche, sondern ein handgefertigtes, bemaltes Unikat. Aber meine Großmutter, die mit Sinn für Ungewöhnliches, für Schönes, aber nicht Notwendiges, nicht Praktisches, nicht begabt war, legte sie ziemlich achtlos beiseite. Die Bewegung sehe ich noch, den kargen Dank höre ich noch. Es gab aber schlimmere Fälle dieser Art, unsere Weihnachtsstreitereien und ihren Höhepunkt: das Nussknacker-Eichhörnchen-Geschenk.
Eine von meinen Kinderfragen wurde ich los bei der Töpfer-Anna, eben weil es eine Kinderfrage war, nehme ich an: Ob man denn auf der Ihna im Winter Schlittschuh laufen konnte. Denn von der Ihna schwärmten sie beide, Großmutter und Tante, dem Flüsschen in Stargard. Ja, sicher, fast in jedem Winter habe man da Schlittschuh laufen können, sagte Anna Lankau. Und hatte denn jedes Kind Schlittschuhe? Natürlich, die wurden unter die Schuhe geschraubt, alle hatten welche. Ich fragte die Großmutter: Ob denn sie auch Schlittschuh gelaufen sei? Ja, sicher. Und Tante Hilde? Ja. Und mein Vater? Auch der. Ich fasste es nicht. Die hatten es gekonnt, und es war ganz selbstverständlich gewesen, auch auf erst überschwemmten und dann überfrorenen Wiesen, einfach ein Wintervergnügen wie seit Jahrhunderten. Nur ich, ich konnte so was nicht und lernte es nie. Ich konnte nicht Schlittschuh laufen. Nun gut, es gab keinen See in der Nähe. Vielleicht gab es eine Eisbahn, aber niemand ging mit mir dahin, auch nicht zur Panke, vielleicht wäre die ja breit genug gewesen, eher aber nicht. - Und die Rollschuhe, die ich hatte, ein Westgeschenk, aber ein allzu billiges, brachen immer wieder in der Mitte zusammen, wo sie geschraubt waren. Niemand konnte diese Schrauben fest genug anziehen. Und woher sollte gar ein Fahrrad kommen? Einen Holzroller hatte ich irgendwann, lächerlich. Das einzige Spielzeug, mit dem ich etwas anfangen konnte, war als solches gar nicht gedacht, war auch ein Bollerwagen, kleiner als der von Frau Lankau. Mit dem holten wir Kartoffeln, aber mit dem konnte ich auch rollern. Die Vorderachse war beweglich, die Deichsel konnte nach hinten gelegt werden, ein Fuß passte zwischen die Stäbe. Es ging flott. Aber es galt als gefährlich, war es wohl auch, also verboten wie auf dem Handlauf im Treppenhaus nach unten zu rutschen. Alles, was Spaß machte, war verboten. Ich ahnte ein wenig, was das war, ein Großstadtkind, ein Nachkriegskind zu sein, vor allem: ein Zinke-Kind zu sein. Meine Großmutter im langen Rock hatte Schlittschuh laufen können!
Dann aber begann sie, die Großmutter, der Töpperschen die Fragen zu stellen. Meine waren damit ausgeknipst, das merkte ich, versuchte mich vom großen Esstisch, wo man ja sonst immer einen ganzen Besuch lang saß, in die unauffälligere der beiden Sofa-Ecken zu verkrümeln, hinter ihren Rücken, um jedenfalls weiter zuzuhören. Was denn eigentlich genau sie, die Töpfer-Anna, von Stargard nach Berlin gebracht hätte, fragte die Ältere die Jüngere. Das sei eine lange Geschichte, sagte die. Sicher habe doch meine Großmutter schon den Korso gekannt, das sonntägliche spazieren gehen, spazieren sehen der jungen Männer und der jungen Mädchen, die Friedrichstraße rauf und runter, am Rathaus hin und her, um die Marienkirche. Ja. Allerdings habe sie ihren Mann auf einem Ball seiner Garnison kennen gelernt. Ach, dergleichen hatte ich natürlich auch wissen wollen. Mir erzählte ja niemand etwas. Aber jetzt erzählte Anna Lankau. Keine schöne Geschichte war das, ihre.
Ihre Eltern hätten ein Wäschegeschäft auf der Friedrichstraße gehabt, kannten die Ladenbesitzer in der Nähe und hatten immer schon gefunden, ein Wäschegeschäft und ein Kurzwarengeschäft (Galanteriewaren hieß das noch), die könnten sich doch gut verheiraten. Die 16-, 17-, 18-jährige Anna war empört gewesen über solche Reden, kannte natürlich den, von dem die Rede war, als seine Kundin, einen schmierigen 30-Jährigen, also Uralten. Über solche gedachte Verbindung konnte sie nur lachen, und zum Glück durfte sie sie ja auch für gänzlich absurd halten.
Hingegen war auf dem Korso ein neuer junger Mann aufgetaucht, der ihr so deutlich Augen machte, dass es nicht zu übersehen war, und nochmals äugelte, als sie einander wieder begegneten, jeder in einer Clique von jungen Mädchen und jungen Männern. Wie aufregend! Bei der dritten Begegnung überreichte er ihr eine Rose, bei der vierten zitierte er Goethe: "Mein schönes Fräulein ..." Nun, was das meinte, das wusste der junge Herr vom Gymnasium, nicht die Volksschülerin, die mit 14 zur Handelsschule hatte gehen dürfen und mit noch nicht 16 angefangen hatte, im Geschäft der Eltern zu bedienen. Aus Stettin sei er, werde im folgenden Jahr das Abitur machen, 1924 dann. Hier sei er zu Besuch bei einem Onkel. Ob er sie wiedersehen dürfe? Ja, gerne, in Begleitung ihres Bruders sicherlich. Das würden die Eltern erlauben. Und es folgte die Verabredung, Ort und Uhrzeit.
Da erschien der junge Mann mit seinem Onkel, und das war der Anna längst bekannte Galanteriewarenladenbesitzer. Der hatte mit ihren Eltern Kontakt aufgenommen, war eingeladen worden, just an jenem Sonntag, der Herr Abiturient natürlich auch, der nur den Lockvogel abgegeben hatte. Anna tobte. Diese Heuchelei! Niemals werde sie sich mit jenem verbinden, das mochte dem und den Eltern noch so gut passen. Dem Abiturienten klebte sie eine, dem Verlobungskandidaten auch und stürzte aus dem Haus. Der Bruder ging mit ihr. Ihm sagte sie, wohin sie gehen wollte, weit, weit weg. Ohne Geld? Ohne Sachen? Ohne Klärung der übel eingefädelten Angelegenheit? Es ging ihm zunächst nur darum, die Schwester zu besänftigen. Und wenn es die Nacht hindurch sein würde, hatte er später gesagt, wäre er bei ihr geblieben oder mit ihr gegangen. Und es war die Nacht hindurch. Ihm sei es vorgekommen, als sei sie damals zu allem fähig gewesen, auch dazu, sich umzubringen.
An dieser Stelle atmete ich vielleicht etwas zu laut, schließlich war das Erzählte ja wahnsinnig aufregend, jedenfalls wurden die beiden Stargarderinnen auf mich aufmerksam. Die Großmutter sagte: "Ursa, das ist nun wirklich kein Gespräch für dich. Du gehst jetzt." Ich protestierte, ich sei eingeladen worden. Es half nichts. Der Befehl wurde schärfer wiederholt, die Großmutter war schon aufgestanden, um mich sicher zur Tür zu bringen. Anna Lankau aber sagte leise zu mir, als ich an ihrem Stuhl vorbei kam: "Du besuchst mich zu Hause, wenn du möchtest. Am besten gleich am kommenden Sonntag. So was soll man nicht aufschieben!"
Mit solcher Einladung war ich glücklich. Ich suchte damals ja schon Menschen, mit denen Gespräche möglich waren. Bald wurde ich geradezu süchtig danach, nach Erklärungen, nach Argumenten und sehr nach Trost. Lange hatte ich geglaubt, es sei eben so auf der Welt, reden könne man mit niemandem irgendetwas anderes als dummes Zeug, außer mit dem Vater damals noch. Aber er schickte mich auch oft zum Lexikon, wenn ich eigentlich wissen wollte, was er von irgendeiner Sache hielt. Aber jetzt gab es vielleicht Anna Lankau, die Töppersche, die ich nicht mehr nur von oben betrachten musste, die ich würde fragen können.
Noch niemals war ich irgendwohin allein eingeladen worden, zu Erwachsenen. Die Großmutter sprach für mich bei ihrem Sohn: Ich hätte doch nur etwas über die Stadt erfahren wollen, aus der sie beide kamen, wohin sie nie mehr zurückkehren könnten, erstens weil sie fast gänzlich zerstört und zweitens weil sie nun polnisch sei. Ich hatte nur Fotos gesehen, unscharfe schwarz-weiße Postkarten, aber ich hatte auch gelesen, Stargard sei einst die schönste und reichste Stadt Pommerns gewesen, und ich fügte zu den gesehenen Bildern die Farbe hinzu, machte den Mühlenteich zum flimmernden See mit Seerosenblättern darauf von einer Größe, dass ich darauf liegen und in die ziehenden Wolken schauen konnte, machte aus der Marienkirche ein Schiff, das jeden Augenblick ablegen und anderswo neuen Grund suchen konnte, und besetzte die fein gegliederte Fassade des gotischen Rathauses mit Gold. Mein Vater kannte diese Art von Träumereien von mir. Sie hatten mir schon von ihm den Namen "Traumlieschen" eingebracht. Deshalb fand er es schließlich gut, wenn eine jüngere Frau als seine Mutter den Goldglanz, mit dem ich die unbekannte Stadt übergossen hatte, wieder entfernte.

Es war einer dieser öden Sonntage im Februar, an dem er sich nicht zu einem Spaziergang aufraffte, zu dem ich ihn hätte begleiten müssen, sondern er saß bei seiner Lampe am Schreibtisch und trieb Graphologie, während meine Mutter strickte oder stickte oder nähte. Es war keiner der monatlichen 'Kuchensonntage' mit und bei der unteren Familie, die ich bei mir allein 'Streitsonntage' nannte, und es war noch nicht sein Geburtstag am 17. Ich erhielt also die Erlaubnis zu diesem Besuch, obwohl meine Mutter, wo sie schon nicht verbieten durfte, wenigstens ein Drama daraus machte, was ich denn 'mitnehmen' konnte oder sollte; ein Akt aus dem Dauer-Drama: Wer schenkt wem was für wie viel Geld, und ist es auch praktisch und teuer genug für den Anlass? Nun hatte ich kein Geld, denn ich erhielt kein Taschengeld, und die kleinen Beträge, die manchmal von der Großmutter kamen, gab ich für Eis aus. Also wurde ich kühn und sagte, ich würde nichts mitnehmen, und von einem Kind würde man, also in diesem Fall Frau Lankau, auch wohl nichts erwarten. - Zweieinhalb Stunden längstens wurden mir zugebilligt, von 3 bis ½ 6, damit ich noch im Hellen nach Hause käme.
Ich war aufgeregt und neugierig. Würde ich mich richtig benehmen? Müsste ich mit zusammen gepressten Knien sitzen, wie das Mutter und Großmutter, erstaunlich einhellig, verlangten, weil, anders zu sitzen, "unanständig" war? Frau Lankau würde wohl dieselbe weiße Bluse und denselben dunkelblauen Rock anhaben wie bei meiner Großmutter. Mit zusammen gepressten Knien hatte sie übrigens nicht gesessen, fiel mir ein.
Sie begrüßte mich nicht unfreundlich, aber auch nicht aufmunternd oder gar herzlich. Noch war Winter, und der Raum, in den sie mich führte, war wie bei meiner Großmutter und Tante das Schlafzimmer, und der Ofen, der darin stand, etwa in der Mitte der einen schmalen Wand, sah dem sehr ähnlich, den ich von dorther kannte. Nur die Kacheln waren heller, und oben lief rundherum ein Fries mit einer rot-grünen Ranke. Ihr Gesellenstück sei das gewesen, sagte Anna Lankau knapp. Sehr willkommene Wärme gab er ab, dieser Ofen. Rechts davon stand ein breites Bett mit rotem Bettüberwurf, auf dem zwei rot bezogene Kissen lagen, links an der Wand standen ein Sofa, auch rot bezogen, und zwei Sessel. Vor dem Ofen schließlich drei Korbstühle und ein Korbtisch, eine Teekanne und drei Teetassen und etwas selbst gemachtes Gebäck. Also würde ich schwarzen Tee herunterwürgen müssen, den ich sonst nicht trank. Um etwas anderes zu bitten, wagte ich nicht. Es war aber Früchtetee, wie sich beim Eingießen zeigte, und also erträglich.
Auf dem dritten Stuhl saß schon jemand, eine Frau, der Anna Lankau mich vorstellte und deren Namen sie mir nannte: Frau Nerger war es, Nachbarin und Freundin. Sie habe auch von Stargard noch nicht viel gehört und würde gern mehr wissen, sagte Frau Lankau. Und im Übrigen sei es richtig gewesen, dass mich meine Großmutter weggeschickt hatte, als sie von dem Widerling zu erzählen begonnen habe, dem fettigen Gewaltmenschen, den sie hätte heiraten sollen und dem es doch nur darum gegangen sei, zwei Ladengeschäfte zusammenzubringen.
Aber dann erzählte sie wiederum gar nichts mehr von Stargard, sondern dass sie aus der Stadt habe weg müssen, wo sie ihm doch dauernd wieder begegnet wäre, und dass ihr Bruder ihr eine Stelle als Ladenmädchen in Berlin besorgt habe, in einem Stoffgeschäft. Das ihrer Eltern sei ja ein Wäschegeschäft, und während allgemein doch Unterhosen oder Schlüpfer, wie man sie nenne, die 'Unaussprechlichen' seien, habe sie sie dort auf den Ladentisch packen müssen, wollene, baumwollene, seidene, und die schönsten seien immer von einzelnen Herren gekauft worden, die seidenen und die mit Spitzen, und bestimmt nicht für die eigenen Ehefrauen. Ich verstand diese Anspielung noch nicht, doch blieb sie haften, denn natürlich musste sie mit "da unten" zu tun haben, dem Tabu-Bereich ohne Namen.
Die Arbeit hier in Berlin sei viel besser gewesen als die in Stargard, sagte Anna Lankau. Auch ein Zimmer habe ihr der Bruder noch gesucht, mit einer freundlichen Frau Wirtin, und langsam, langsam habe das Heimweh sie verlassen, habe sie die fürchterlich große Stadt Berlin ertragen und habe begonnen, sie zu erkunden. Nicht die Innenstadt, die sei ihr noch lange zu bedrohlich erschienen. Das Aufhören der großen Stadt habe sie gesucht. Irgendwo musste doch die allergrößte Stadt einmal aufhören. Mit der S-Bahn sei sie bis an die Endstationen gefahren, nach Bernau zum Beispiel, wo es, ähnlich wie in Stargard, eine Backsteinkirche auf einem Hügel gebe wie ein Schiff, das gerade eine Reise antrete.
"Und wie hast du deinen Jochen kennen gelernt?" fragte da die Nachbarin Frau Nerger. "Ja, der Jochen", sagte die Töpfer-Anna, und dabei ging ein Schatten über ihr Gesicht, "der Jochen, du weißt es ja, war meine große Liebe." Sie sprach, als sei nur die Frau Nerger im Raum, und ich bemühte mich also auch hier, wohin ich doch eingeladen worden war, unauffällig zu bleiben, um nicht wieder rausgeworfen zu werden. "Also, ich floh aus der großen Stadt, sonntags, trieb mich auch in Potsdam rum, am Wannsee, auf der Pfaueninsel, in Glienicke, und sah da vom Berliner Ufer aus drüben in Sacrow dies Kirchlein - und das sieht ja wieder aus wie ein Schiff, das gleich ablegen will, nur dies hier hat wirklich Wasser unter dem Kiel, es ist in den Fluss hinein gebaut. Am nächsten Sonntag fuhr ich dann dorthin. Und rechts und links daneben ist je eine kleine Bucht, wirklich ganz klein, und da setzte ich mich auf den Sand und sah übers Wasser, über den Wannsee, und es ging mir gut. Warum die Kirche so fremd aussieht, wie sie aussieht, warum der Kirchturm allein steht, das alles wusste ich damals noch nicht. Es hätte mich auch nicht interessiert. Aber da an der kleinen Bucht neben der Kirche packte ich den mitgenommenen Apfel und die Klappstulle aus, aber vor lauter Sehen vergaß ich zu essen. Da habe ich mich zum ersten Mal in Berlin, na ja, am Rand von Berlin, zu Hause gefühlt.
Und dann fiel ein Schatten über mich. Jemand stand neben mir und fragte, ohne zudringlich zu sein: "Darf ich mich auch hierher setzen?" Ich sah zu ihm auf, sah ihn an und sagte einfach: "Ja."
Das war Jochen, du ahnst es. Ich will nicht erzählen, wie wir zusammen kamen. Aber es war schon an dem Nachmittag klar. Jochen war Töpfer, genauer: Ofensetzer, Allroundhandwerker oder eher ein Kunsthandwerker. Er arbeitete mit Ton, mit Erde, mit Handfestem. Er machte etwas, das ohne ihn nicht da gewesen wäre. Zu Hause in Stargard hatte ich auch getöpfert, war zu einer alten Töpferin gegangen, die Bauerngeschirr machte, und hatte sie gebeten, mich mitmachen zu lassen, mir etwas beizubringen. Heute weiß ich: Das sollte ein Gegengewicht sein gegen dies schreckliche Umgehen mit seidenen Unterhöschen, die man nur mit Handschuhen anfassen durfte. Einiges vom Getöpferten war gelungen, und ich hatte es gebrannt, und es stand damals noch in meinem winzigen Dachkämmerchen im Haus meiner Eltern. Nur einen Kerzenleuchter hatte ich mitgenommen und einen Pott für Tee, weil ich die zarten, zerbrechlichen Porzellantässchen nicht mag. Das passte zusammen. Und wir passten zusammen, Jochen und ich, wie selten zwei Menschen zusammen gepasst haben, scheint mir, und wir blieben zusammen.
Ich wollte aber aus meinem Laden weg und lernte Ofensetzerin bei einem seiner Kollegen, machte richtig eine Lehre, verkaufte auf Märkten meine Töpfereien, die mir mein Bruder aus Stargard brachte, und neue, pommersche Bauernkeramik, in Berlin hergestellt. Sonst lebten wir von seinem Geld und etwas, das meine Eltern zugaben. Sie hatten eingesehen, dass ihr geschäftlicher Eheplan für mich ein Fehler gewesen war. Ich stellte ihnen Jochen vor, und er gefiel ihnen. Wir heirateten ganz bürgerlich in Weiß, ich mit dem Myrthenkränzchen der Unschuld in meinem damals noch dunklen, beinahe schwarzen Haar, das ich dank unserer Liebe nicht mehr verdiente. Aber wir wollten kein Gerede.
1924 war ich nach Berlin gekommen, die Zeiten wurden für ein paar Jahre besser. Aber es gab schon den Schnauzbärtigen, den die meisten nicht ernst nahmen, es gab bald die Braunhemden, die Straßenschlachten zwischen Kommunisten und Nazis. Jochen fand die nicht harmlos, und dass dann der Gefreite Reichskanzler wurde, das erst recht nicht. "Der ist nicht gezähmt", sagte er, "Hitler, der bedeutet Krieg." Er selbst war in der SPD, aber die Republik, die die aufbauen wollten, die wollte das Volk nicht. Es wisse gar nicht richtig, was das sei, eine Republik, sagte Jochen.
Und als dann '33 die Parteien verboten wurden, 'gleichgeschaltet', da war ihm klar: eigentlichen Widerstand dagegen zu leisten, das vermochte er nicht. Er war ein sanfter Mensch. Organisieren unter konspirativen Umständen konnte er nicht. Er hätte sich bei einer Gruppe anschließen können, denn er selbst war kein 'Kopf' dafür, eine zu gründen, aber er fand keine Gruppe, und im Grund war ihm das recht so. Denn um unserer Liebe willen wollte er nicht das Leben aufs Spiel setzen, auch nicht durch konspirative Arbeit. Und so traf er mit Jürgen, seinem besten Freund aus der Partei, die Verabredung: Einen Monat nach Kriegsende, also am gleichen Datum, morgens um 10 bei ihm in der Wolliner Straße; wenn es die dann noch gäbe und uns alle noch gäbe.
Und so hat er sich auf den Weg gemacht am 8. Juni 1945. Die russischen Eroberer von Berlin waren wieder einigermaßen diszipliniert worden. Sie vergewaltigten seltener, klauten aber noch viel. Wir hatten an dem Tag schon Wasser geholt an der Pumpe auf der Kugler, die ein Sowjetoffizier mit seiner Tellermütze bewachte. Er sprach deutsch, irgendwie altertümlich und irgendwie gelehrt. Aber das erweckte Vertrauen. Es schien uns, Jochen konnte ihn wagen, den Gang zu Jürgen. Und er sagte: "Spätestens zur Sperrstunde bin ich zurück." Ich umarmte ihn mit einem Gefühl, ihn eigentlich nicht weglassen zu wollen, unterdrückte es aber, und er ging.
An dieser Stelle hörte Anna auf zu sprechen, schnaufte nach Luft, warf sich auf das Doppelbett zur Rechten des Ofens und rollte sich da zusammen wie ein Fötus und heulte laut. Martha Nerger kniete vor ihr am Bett und streichelte sie, aber sie war nicht zu trösten und schob die streichelnde Hand weg.
"Geh, Ursa", sagte Martha zu mir, "sie wird nicht die Einzelheiten erzählen, wie Jochen erschossen wurde, im Frieden oder dem, was wir statt dessen hatten, seit einem Monat Waffenstillstand. Du wolltest doch auch eigentlich, dass sie von Stargard erzählte, das du dir irgendwie so vorgestellt haben musst wie eine Traumstadt mit weißen Häusern und weißen Kirchen mit goldenen Kuppeln, so wie russische Kirchen manchmal sind. Sie kommt aber immer auf Jochen, sie will von ihm erzählen, aber nicht von seinem Tod und will es eigentlich doch, aber kann nicht. Jetzt wird sie es dir nicht mehr zu erzählen versuchen. Aber eigentlich: du musst es doch auch gar nicht wissen, ein 11-jähriges Mädchen, das als kleines Kind Jochen und Anna mal hat über die Straße gehen sehen. Versuch es zu vergessen."
"Nein, ich will versuchen, es herauszukriegen. Alle sagen immer, das geht dich nichts an, das ist schon so lange her. Die Erwachsenen, die diesen Krieg gemacht haben, wollen nichts über ihn sagen, als wäre er dann nicht gewesen. Dabei sieht man doch die Ruinen und die Russen. Ich will es wissen. Nicht mal unbedingt wegen diesem Jochen, sondern weil ich an irgendeiner Stelle mal eine Wahrheit herausfinden will. So klein bin ich nicht mehr. Wie heißt der Jürgen weiter, zu dem Jochen gegangen ist? Und wo wohnt er? Wissen Sie es? Sagen Sie es mir?"
"Jürgen Kammer heißt er, Wolliner 8, glaube ich, wohnt er, wenn er da noch wohnt. Wenn du wirklich solche schrecklichen Dinge wissen willst, geh' hin, sieh nach, ob er da noch lebt und ob er sie erzählt. Aber hierher komm' nicht wieder. Du hast sie schwach gesehen, die Anna, und eigentlich will sie immer stark sein. Jochen war die Liebe ihres Lebens, falls du das schon verstehst. Sie wird seinen Tod nie verwinden. Geh jetzt, bitte". Sie hatte 'bitte' gesagt, wie zu einer Erwachsenen.
Im Weggehen sah ich noch, wie Martha sich zu Anna auf das Doppelbett legte und wieder begann, sie zart zu streicheln. Wieder schob Anna ihre Hand weg.
Vom Erzählten hatte ich vieles nicht verstanden. Aber das war wohl unvermeidbar, denn sie hatte es ja Martha erzählt, was sie hatte erzählen können, und nicht mir. Und schon als sie mich einlud, das fiel mir ein paar Tage später ein, hatte sie eigentlich Martha gemeint und die wahrscheinlich auch schon eingeladen. Mir allein hätte sie über Jochen sicher gar nichts sagen wollen. Nur als die einer stummen Zuhörerin hatte sie meine Anwesenheit ertragen können. Und ich hatte das Gefühl, dass es richtig war so.

Damals war ich vorlaut und scheu abwechselnd, scharfzüngig und ängstlich, ungeübt jedenfalls im Umgang mit Bekannten oder gar Unbekannten, denn meine Eltern hatten ja keine Freunde. Nur einmal im Jahr besuchte meine Tante ihre Cousine Gertrud, uns alle im Schlepptau. Das setzte sie durch. Ich langweilte mich tödlich und hasste es, dass ich mich um meinen fetten jüngeren Cousin kümmern musste. Zur Töpperschen in die Wohnung zu gehen war etwas, was ich mir mit Mühe abverlangt hatte. Aber die Neugier hatte mich getrieben.
Nun zu Jürgen Kammer zu gehen, von dem ich nicht wusste, ob er überhaupt noch lebte und an der Adresse lebte, die Martha eingefallen war, also Jürgen Kammer zu suchen, sechs Jahre nach Kriegsende, das war noch etwas anderes, war noch schwieriger. Ich kannte ihn ja nicht einmal. Und vor allem: Man ging doch nicht als Mädchen zu fremden Männern in die Wohnung. Hätte ich um Erlaubnis dafür gebeten, hätte ich sie natürlich nicht bekommen. Also fragte ich nicht, durchaus mit schlechtem Gewissen. Aber ich konnte ja erst einmal nachsehen, ob das Haus in der Wolliner Straße überhaupt noch stand. Denn ich wollte die Geschichte möglichst ganz hören, die die Töpfer-Anna selbst nicht hatte zu Ende erzählen können, weil sie der Gewalt der Erinnerung nicht entkommen konnte. An dem Tag jedenfalls nicht. Vielleicht kannte Martha Nerger sie inzwischen ganz. Ich aber, nur wusste ich das damals noch nicht, fing zum erstenmal an, so etwas wie historische Forschung zu betreiben. Jedenfalls suchte ich erstmals einen Zeitzeugen. Das Wort aber gab es noch lange nicht, denn die Menschen wollten die eben vergangene Zeit möglichst vergessen.
In der Familie habe ich wohl nur so ungefähr gesagt, dass die Töpfer-Anna ein wenig mehr von Stargard erzählt hatte als bei der Großmutter, aber nichts von dem Mann, dessentwegen sie es verlassen hatte und von dem ich nicht hatte hören sollen, und nur wenig von ihrem Mann in Berlin, der, nach Kriegsende noch, ums Leben gekommen war. Ich konnte natürlich nicht sagen, dass es schien, als ob sie mit einer Freundin zusammen lebte, irgendwie anders als nur nachbarschaftlich, aber wie, das verstand ich nicht. Und irgendwie war es ungleich zwischen den beiden, denn Martha wollte streicheln, aber Anna schob ihre Hand weg.
Ich wusste, dass ich zur Töpperschen nie wieder würde eingeladen werden, wie man manche Dinge zuvor weiß. Und das war dann auch so. Wenn ich ihr auf der Straße begegnete und grüßte mit dem angedeuteten Knicks, den ich mir so schwer abgewöhnen konnte, murmelte sie: "Tach" oder antwortete gar nicht. Wenn ich Martha Nerger traf, grüßte sie freundlich zurück, blieb aber nie stehen, gab nie die Gelegenheit zu einem Gespräch. Wenn ich also die angefangene Geschichte zu Ende hören wollte, musste ich mich tatsächlich aufraffen, einen fremden Mann danach zu fragen. Das war noch, bevor unerwartet und unverstanden Blut aus mir lief und Kühnheiten wie diese mir erst einmal vergingen.

Jürgen Kammer fand ich ohne Mühe. Er wohnte tatsächlich noch immer in seiner alten Wohnung in der Wolliner Straße, Gartenhaus links, 1. Stock. In die Häuser kam man damals und noch lange tagsüber ohne Schlüssel. Also klingelte ich an der Wohnungstür, aber die Klingel ging nicht. Daher klopfte ich. Ich hörte durchaus, was ich nicht hören sollte, dass jemand an die Tür kam und vermutlich durch den 'Spion' mich ansah. Ich begann zu sprechen: "Ich heiße Ursa Zinke, ich wohne ..., und ich bin gewesen bei ..., und von Anna Lankau wollte ich eigentlich etwas über Stargard hören, wo sie herkommt und woher auch meine Großmutter gekommen ist, nur früher, 1904 schon. Aber Frau Lankau hat begonnen, die Geschichte von ihrem Mann Jochen zu erzählen, sicherlich gar nicht mehr mir, sondern ihrer Freundin Martha Nerger, die auch da war. Hört mir jemand zu?" Da wurde eine Kette weggeschoben, und ein Ehepaar stand vor mir. "Was möchtest du, Kind?" "Die Geschichte von Jochen Lankau zu Ende hören. Denn Anna Lankau ist zusammengebrochen, als es um seinen Tod ging. Die Freundin hat mir Ihren Namen gesagt. Ich bin erst elf. Aber ich möchte gerne wissen, wie das geworden ist, was jetzt ist. In meiner Familie erklärt mir niemand, warum es Krieg gegeben hat. Mein Vater war selbst dabei, aber er will nichts erzählen. Ich habe ein paar eigene Erinnerungen, aber auch über die will niemand mit mir sprechen. Wie die Russen kamen und ich im Keller im Bett lag zum Beispiel und ein Offizier meiner Mutter Fotos von seinen Kindern zeigte und mir dicke braune Bonbons gab, so groß, dass sie den ganzen Mund ausfüllten, so groß, wie Bonbons eigentlich gar nicht sein können. Und nun weiß ich eine angefangene Geschichte, die nur noch Sie mir zu Ende erzählen können, wenn Sie wollen. Bitte!"
Jürgen Kammer, der SPD-Mann von vor 1933, damals gleichgeschaltet, und dann der SPD-Mann von 1945, im Jahr danach mit der KPD zwangsvereinigt, schaute misstrauisch nach der 11-jährigen Göre, die die Geschichte seines Freundes Jochen hören wollte. Aber ich sah ihm wohl ernsthaft genug aus, und seine Frau machte ihm ein Zeichen und nickte und sagte: "Gut, komm." Und da sagte er auch: "Ja, du kannst reinkommen. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben - man erzählt den Mädchen ja nicht ohne Grund, dass Männer ihnen was tun wollen. Dass du hierher gekommen bist, ist ziemlich leichtsinnig. Aber meine Frau ist ja da." Natürlich hatten sie mir das auch gesagt, die Eltern, die Familie: "Geh nie mit einem Mann mit, der dich anspricht. Geh vor allem nie mit einem in seine Wohnung oder sonst in einen geschlossenen Raum." Das ist richtig, weil es im Notfall vielleicht das Leben retten kann. Damals wurde die Frage nach dem Warum, falls ich sie überhaupt noch gestellt hatte, nicht beantwortet oder so, wie bei uns üblich: "Weil ich es sage." Dass ich an dem Tag nicht in den Jugendkreis von Pfarrer Wolbrandt (und seiner Frau!) gehen würde, das sagte ich natürlich zu Hause nicht. Angeblich war ich also dort.
Jürgen Kammer wies mir das Wohnzimmer, bescheiden möbliert, in der Mitte ein raumfüllender Esstisch wie bei uns. Dorthin setzten wir uns. Auf einer Kommode standen Familienbilder, darunter das Hochzeitsfoto, auch das von Jochen und Anna Lankau, das Herr Kammer mir in die Hand gab. Zu seiner Frau sagte er: "Du hast ja gehört, warum sie gekommen ist, Louise. Wir wollen es unterstützen, wenn die Jugend was wissen will. So viele möchten nichts wissen vom Vergangenen. Sie möchten in einer ewigen Gegenwart leben, und in der Schule kriegen sie nur was vom zwangsläufigen Fortschritt zu hören. Der Sozialismus wird kommen, und alles wird gut werden, weil alle das Gute erkennen und wollen, und alles wird für immer gut bleiben. Nee, Louise, so sind die Menschen nich. Na, lass man jut sein. Lass sie mal fragen.
Und du, Kleene, was weeste denn? Wo soll ick anfangen?"
"Genau einen Monat nach Kriegsende waren Sie und Jochen Lankau bei Ihnen verabredet", sagte ich, sehr bemüht, nichts zu vergessen. Sie beide kannten sich aus der alten SPD. Sie waren dort sein bester Freund. Er machte sich auf den Weg zu ihnen, das war vor Jahren verabredet worden, für nach dem Krieg, obwohl seine Frau ein ungutes Gefühl hatte. Aber sie fand das selbst - wie hat sie gesagt: 'weibisch' vielleicht - und hielt ihn nicht zurück."
"Ja, auch ich hatte die Verabredung nicht vergessen und erwartete ihn unten im Hof an der Haustür, nachdem die Nachtsperre aufgehoben war. In unserm Hof war eine Gulaschkanone von den Russen. Deshalb waren da immer viele. Wir waren gewöhnt an sie. Aber sie durften sich mit uns nicht abgeben, außer um zu plündern - Fraternisierungsverbot hieß das, Verbrüderungsverbot. Jochen kam aus der rückwärtigen Tür des Vorderhauses. Ich ging ihm entgegen, aber er drehte sich kurz um, von mir weg, um zu sehen, wer da hinter ihm kam. Und hinter ihm kam ein besoffener Russe. Der war sicher noch besoffen von der Nacht. Und ballerte in die Luft und schrie: 'Gitlerr kaputt, Gitlerr kaputt'. Und dann ballerte er nicht mehr in die Luft, sondern direkt auf Jochen, aus ganz kurzer Entfernung ihm direkt in die Stirn. Jochen fiel um wie ein Stein. Er war sofort tot. Ehe der Besoffene auch auf mich anlegen konnte, nahmen ihm seine Kameraden die Pistole weg, stießen ihn zur Erde, legten ihn auf den Bauch und banden ihm die Hände auf dem Rücken. Dann holte einer einen Offizier, und der ließ ihn wegbringen. Mich beachtete er nicht. Alle beachteten mich nicht, beachteten auch Jochen nicht. Von einem Moment auf den anderen war er zur Leiche geworden, also nur noch ein Gegenstand. Der Offizier befahl einigen seiner Leute, ihn in unserem Hof zu begraben, eigentlich zu verscharren, also da ein Grab auszuheben, da in dem Stück Garten in der Mitte oder wie man das nennen soll, wo niemals was gewachsen war und jetzt erst recht nicht, weil da ja nun die Gulaschkanone stand. Die wurde auch gleich weggefahren, in einen Hof ein paar Häuser weiter. Ich ging in unsere Wohnung und sagte meiner Frau, was geschehen war, aber dass sie besser nicht rauskäme. Die Leiche wurde nur an eine Hauswand gelegt, bis das Grab fertig war, was lange dauerte, weil die Erde hart getrampelt war. Und das Grab musste tief sein, wegen der Seuchengefahr, die von der Leiche ausgehen konnte. Aber es gab trotzdem sehr viele solcher Gräber damals in Berlin.
Ich nahm ein Laken und versuchte mit Gesten, den Russen klar zu machen, dass sie ihn, also den Jochen, doch wenigstens darin einwickeln sollten. Das taten sie dann. Jemand hatte ihm inzwischen die Augen geschlossen. An zwei Seilen ... Nein, das erzähl' ich nicht. Dann schaufelten sie die ausgehobene Erde wieder auf ihn und trampelten die Stelle so fest wie möglich. Aus allen Fenstern sahen die Leute zu. Ein Nachbar kam und hatte zwei Latten zusammen genagelt, so in Kreuzform. Sie wollten erst nicht, dass er das Kreuz am Kopfende einsetzte, aber ließen ihn dann doch. Kreuz oder sonst ein Zeichen: Bald musste er ja wieder ausgegraben werden, und der Ort musste bezeichnet sein. Bestattungen so nahe bei Wohnungen sind eigentlich ja nicht erlaubt.
Ich musste nun den schweren Gang tun, der Anna die Todesnachricht zu überbringen. Meiner Frau sagte ich, dass ich sicher über Nacht bei ihr bleiben würde. Man kann doch einen Menschen nicht allein lassen, dem man so was zu sagen hatte wie ich nun. Da hat man einen Krieg überlebt, ich in einem Werk, wo Panzerzubehör gefertigt wurde, da fängt man gerade an, einmal durchzuatmen, da ist es Sommer geworden, und der Frühling und der Sommer 1945 waren geradezu unglaublich schön, da sieht man seinen guten Freund wieder in Freiheit, wie man meint, man will sich in die Arme stürzen, und statt dessen sieht man gerade noch, wie er umgelegt wird von einem Besoffenen. In den 1000 Jahren der Hitlerei - du weißt, dass die Nazis vom 1000-jährigen Reich geredet haben? - hatten wir uns nur selten gesehen, zusammen mit den Frauen, auf Ausflügen. Wie würde die Anna das ertragen, diese Nachricht? Meine Frau gab mir etwas Brot mit, viel hatten wir nicht.
Anna hat mir sofort angesehen, was ich ihr zu sagen hatte, so bleich muss ich ausgesehen haben. "Jochen ist tot", sagte sie. "Wie? Wo?" Ich erzählte, was ich zu erzählen hatte. Da schrie sie auf und warf sich auf das Doppelbett mit dem roten Überwurf neben dem Ofen, du kennst es ja. Und rollte sich zusammen, wie die Ungeborenen im Leib der Mutter liegen. Ich deckte sie zu, obwohl es warm war. Sie würde lange da liegen bleiben. Das hatte ich schon erlebt, als sie ziemlich kurz nacheinander zwei Kinder verloren hatte. Da lag sie tagelang auf diesem Bett und nahm dann ganz plötzlich und ganz entschlossen ihr bisheriges Leben wieder auf. Mir ist das ganz fremd, wie ein Mensch auf diese Weise etwas bewältigen kann, aber so ist sie.
Die Nachbarin war nicht da. Sie suchte Verwandte in einem anderen Stadtteil. Manche sagten, es sei verboten. Andere scherten sich nicht drum. Das war ja damals so, dass man selten was Genaues wusste. Es gab Befehle, angeschlagen in Russisch und Deutsch, aber was wirklich an welcher Straßenecke galt, das wusste niemand außer dem Russen, der da so was wie Dienst tat. Die Russen waren ja noch in ganz Berlin. Man ging zu Fuß, stieg über Ruinen, musste manchmal umkehren, nagelte Zettel an Bäume und Haustüren, schrieb die eigene Adresse, die alte oder eine neue, mit Kreide, mit Tintenstift, mit was man hatte, irgendwohin. Ich fragte Anna, ob ich bleiben solle. Sie nickte kaum merkbar. Ich legte mich auf die Couch an der anderen Seite des Ofens. So brauchte sie mich nicht zu sehen, wenn sie etwa aufsah, konnte mich aber rufen. Ich bin eingeschlafen, auch Anna wohl. Als Martha kam, die Nachbarin, verstand sie sofort, was los war. Sie brachte zu trinken, es gab Wasser in der Leitung. Essen wollte niemand. Ob sie auch bleiben solle. Ja. Sie holte sich eine Decke aus ihrer Wohnung, brachte auch mir eine, legte sich dann zu Anna aufs Doppelbett, aber ganz nach außen, und schlief wohl auch ein. Was gewesen war, das war gesagt. Was sein würde, das war noch nicht zu sagen. Der Spitz, der 'Spitz' hieß, lag zu Annas Füßen auf dem Bettende. Es war natürlich ein anderer als vor dem Krieg, aber sie hatten immer einen mit durchgefüttert und vom Fleischer Knochen gekriegt für ihn und mehr.
Am anderen Tag kam meine Frau, hinter ihr zwei Russen, jeder mit einem Eimer Erbsensuppe aus der Gulaschkanone und einem Brot. 'Soldat erschossen', sagten sie, 'Kriegsgericht. Dies nehmen.' Anna wollte nichts davon. Wir anderen gingen in die Küche und aßen da, so dass sie es nicht sehen musste. Es war Essen, und wir hatten Hunger.
Gerade vor der abendlichen Sperrstunde waren meine Frau und ich wieder zu Hause. Da saßen die Russen im Hof und sangen zum Akkordeon diese schwermütigen Volkslieder, die sie haben, keine Siegesgesänge. Als wär's ein Dorffest. Da war's mit meiner Fassung vorbei. Sie signalisierten, ich solle auch singen. Und, glaub' es oder nicht: Ich ging zu Jochens Grab und sang da für ihn das Lied vom Guten Kameraden: 'Ich hatt' einen Kameraden, einen bessern findst du nicht ...' Bei der zweiten Strophe begleitete mich der mit dem Akkordeon. Fraternisierung, obwohl sie noch verboten war. Mitten in der zweiten Strophe blieb mir die Stimme weg.
Anna setzte sich wirklich nach einer Woche oder nach zehn Tagen sehr energisch aufs Bett. 'Ich möchte ein Bad nehmen, wenn das geht', das waren ihre ersten Worte. So hat es Martha erzählt. Sie habe Wasser gewärmt und Anna in der Zinkwanne gewaschen, auch ihre Haare. Sie hatte die ganze Zeit kein Wasser an sich gelassen, nur getrunken, beinahe nichts gegessen. Dann zog sie ihre Handwerkerklamotten an und wollte allein fortgehen. Aber sie war zu schwach. Nur gestützt auf Martha auf ihrer einen Seite und mich auf der anderen, denn ich kam jeden Tag, konnte sie einige Schritte gehen, am Nachmittag schon etwas weiter und am folgenden Tag bis zur Schönhauser. Sie kam dann schnell wieder zu Kräften. Sie hat einen ungeheuren Willen.
Und ist in den nächsten Tagen gegangen und hat geguckt, wo es Arbeit für sie gab, und es gab viel, vor allem Öfen flicken und Kochstellen bauen. Das Zubehör klaute man in den Ruinen. So hast du sie allein gesehen. Sie war bei Kriegsende erst 41. In den Tagen, die sie auf ihrem Bett gelegen hatte, waren ihr die Haare grau nachgewachsen. Sie hatte sie immer kurz getragen, aber jetzt ließ sie sich einen Männerhaarschnitt machen. Den hat sie nie mehr verändert. Sie sah älter aus als ihre Jahre und grau, aber wenn sie einmal einen Rock anzog, sonntags, wenn sie zu uns kam, als Jochen schon in Pankow begraben war, da sah sie attraktiv aus. Jedenfalls fand ich das. Meine Frau neckte mich manchmal damit. Die Männer fehlten ja diesen Frauen, die kurz nach der Jahrhundertwende geboren waren, aber sie suchte keinen Mann mehr, seitdem Jochen nicht mehr da war. Martha suchte sich einen Ami, sobald das ging. Sie war nicht so sehr wählerisch. "Frolleinwunder" hieß das. Die Kellerasseln waren plötzlich bunte Schmetterlinge geworden. Martha ging mit ihrem Ami nach Amerika. Aber es ging da nicht gut, und sie kam wieder. Die Anna allerdings, die wollte so ganz und gar ihre Freundin nicht sein, wenn du schon verstehst, was ich meine. Sie hat ja ihren Jochen nie vergessen.
Mein Gott, das war viel auf einmal, was?"
"Ja, war es. Aber ich wollte ja auch viel wissen. Und die Geschichte von Jochen ist noch nicht zu Ende. Er wurde später auf einem richtigen Friedhof begraben, haben Sie gesagt."
"Ja, Begräbnisse in der Stadt sind ja schon seit langem verboten, wegen der Seuchengefahr eben. Deshalb sind die Friedhöfe außerhalb der Stadt oder vielmehr, sie waren es. Die Städte sind über die Friedhöfe rausgewachsen. Kind, es war schrecklich. Denn diesmal haben die Russen es nicht selbst gemacht. Sie haben mir befohlen, im Herbst '45, den Leichnam richtig zu bestatten, mit Sarg und auf einem Friedhof. Erspar mir die Einzelheiten. Wir haben Jochen ausgegraben, in ein neues Leintuch gehüllt, in einen primitiven Sarg gelegt und auf Annas Bollerwagen nach Pankow gezogen, wo sie ein Grab hatte kaufen müssen. Von der Schönhauser Allee an kam sie mit in Rock und weißer Bluse, sonst gingen nur Martha, die noch da war, meine Frau und ich mit ihr diesen Weg. Aber auf dem Friedhof standen alle Freunde aus der alten SPD und alle anderen, die ich erreicht hatte und die mit mir das Grab ausgehoben haben. Anna hat nur eine rote Rose gewollt. Jemand hat sie ihr geschenkt aus seinem Garten. Die warf sie ins Grab. Und hat mich gebeten, noch einmal das Lied vom Guten Kameraden zu singen. Wieder konnte ich nicht. Aber diesmal waren wir ja viele, und sie alle haben gesungen, so gut sie eben konnten, leise auch, denn besser hätten wir natürlich die Internationale singen sollen. Na ja."
"Ich kenne es nicht, nur das Stück Text, was Sie eben gesagt haben. Singen Sie es mir jetzt vor?" "Kind, Kind, was mutest du mir zu?" Aber er versuchte es. Wieder blieb ihm die Stimme weg. Er schluckte, atmete dann tief durch. "Ich kann's nicht. Als wir, Anna und Martha und Louise und ich, am nächsten Sonntag zum Friedhof gekommen waren, da war das Grab nicht nur zugeschaufelt und der Hügel aufgeworfen, das hatten die Freunde gemacht, wie sie es versprochen hatten, sondern es war über und über voller Blumen. In Gärten und Schrebergärten hatten sie darum gebeten."
"Mein Großvater, den ich nicht gekannt habe und von dem ich fast nichts weiß, liegt auch auf diesem Friedhof. Ich gehe sonst mit meiner Tante dorthin. Aber ich finde allein hin, und wenn Sie mir das Grabfeld sagen, dann finde ich auch zu Jochen Lankau."
"Ich weiß das Grabfeld nicht. Aber Louise und ich könnten dich begleiten, wenn du erlaubst."
"Ja, das wäre schön."
Erst auf dem Heimweg merkte ich, dass Jürgen Kammer, der das sonst sicher nicht tat, die ganze traurige Geschichte in einem fast feierlichen Hochdeutsch erzählt hatte. Zu Hause war es schrecklich, nichts mitteilen, nichts fragen zu können. Eigentlich war diese Nachfrage bei ihm über meine Kinderkräfte gegangen. Ich war sehr allein mit allen meinen Gedanken, die mir kreuz und quer durch den Kopf schossen, und konnte keinen zu Ende denken.
Wir, die Kammers und ich, hatten uns verabredet für denselben Wochentag, ich natürlich wieder ohne Wissen meiner Eltern, und gingen zusammen auf den ersten der Pankower städtischen Friedhöfe, zum Grab von Annas Mann und dann auch zu dem meines Großvaters. Es musste wieder der Tag des Kinderkreises sein, wohin ich angeblich gegangen war. Ach, ich habe so viel lügen müssen. Ich hatte zwei Rosen gekauft von dem Geld, das mir manchmal meine Großmutter schenkte, eine für Jochen Lankau und eine für Paul Zinke.
Ich war zum erstenmal einer Geschichte so weit nachgegangen, wie es mir möglich war. Mit Jürgen und Louise Kammer blieb ich in lockerer Verbindung, solange wir noch in Ostberlin wohnten, und fragte sie beide noch vieles, was in der Familie nicht zu fragen ich schon gelernt hatte, zum Beispiel nach Annas Freundin Martha.

Eines Tages kam nach Mariendorf ein an mich adressierter Trauerbrief. Das könnte etwa 1958 gewesen sein. Ich ging noch in die Schule. Ja, Anna Lankau, die Töppersche. Eine Anzeige hatten die Kammers nicht drucken lassen. Die Freunde von Jochen hatten sie einzeln benachrichtigt, soweit die Adressen noch stimmten. Martha war unbekannt verzogen. Meiner Großmutter möge ich die Nachricht überbringen, wenn sie noch lebe, hatte Jürgen Kammer geschrieben. Anna Lankau hatte sich in ihrer Wohnung mit Schlaftabletten vergiftet und lag auf dem Doppelbett mit dem roten Überwurf, eines der rot bezogenen Kissen in den Armen. Auf dem Tisch am Ofen lag ein Brief mit einer kurzen Nachricht an Kammers: "Ich danke Euch für allen Beistand. Aber ohne Jochen kann ich doch nicht weiter leben. Lange genug habe ich es versucht. Ohne seine Liebe geht es nicht. Anna."
Sie sei schon beerdigt, neben Jochen. Er wisse, schrieb Jürgen Kammer, dass ich an Anna denken werde, aber sie hätten nicht früher geschrieben, um mir Ungelegenheiten mit meinen Eltern zu ersparen. Ich war 18, aber volljährig wurde man damals erst mit 21. Er hatte das Grabfeld und die Grabnummer aufgeschrieben. Ich fuhr allein hin und legte wieder eine rote Rose auf Jochens Lankaus Grab, das nun auch das von Anna Lankau war, der Töpperschen. Danach brachte ich den Kammers einen Blumenstrauß.

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