Samstag, 28. Juli 2007

HALOP UND URSA. Eine Lebensnachfrage

"Junge Frau, wat machn denn Sie uff meene Baustelle? Da könnte Ihn'n doch jlatt 'n Dachziejel uff Ihr'n jelehrten Kopp fallen, nich?"
"Ich hab' doch Ihre Baustelle gar nich betreten. Ich gehe doch ganz harmlos hier lang und fotografiere."
"Det isset ja ehmd. Deshalb ha'm Se nich richtich uffn Wech jekiekt. Nu kieken Se mal jetz. Dahin, bitte sehr. Wat ham wa Ihnen da jebaut? 'N Wech mit Dach, damit Ihn'n nich irjendwat uff die werte Denkzentrale fällt."
"Ja, is recht. Werd' ich auch gleich benutzen. Und danke für die Fürsorge. Ich habe nur nicht auf den Weg gesehen, weil ich es so toll finde, dass in dieser Straße nun auch schon so viele Häuser restauriert werden. Ich habe hier nämlich mal jewohnt als Kind. Hier lang bin ich zur Schule gegangen und zum Konfer, Konfirmandenunterricht. Und kann es noch überhaupt nicht begreifen, dass hier Bäume stehen, Bäume in der Kuglerstraße! Als Kind habe ich das öfter geträumt. Oder dass man durch die Straßen mit Gondeln fahren konnte. Gondeln gibt's nicht, wie denn auch, aber Bäume stehen hier wirklich!"
"Ick wohn' hier ooch in de Nähe, in de Pappelallee, und unser Archi, der wohnt ooch hier, da vorne bei de Hochbahn in det Eckhaus. Mann, Hajo, komm mal her, bei mir is eene, die kennt det hier von früher", brüllte er nach hinten ins Dunkle, dahin, wo die Höhle eines Hausflurs zu ahnen war. "Kenn' Se denn ooch noch die Töppersche mit ihr'n Handwagen und ihr'n Jiftzwerg von Spitz? Weiß war der jewesen. Jeder kannte die."
"Die Töppersche, ja doch, die Töpfer-Anna, Anna Lankau. Ja, die hab' ich gekannt. Da weiß ich sogar noch, wie sie mit ihr'm Mann hier lang ging, im Krieg. Und nachm Krieg alleene. Ziemlich lange hatte ich Angst vor ihr, vorm Hund auch, aber vor allem vor ihr, mit ihren grauen Stachelhaaren und so 'nem Blaumann, wie Sie tragen. Als sie alleine war, hat sie ihren Handwagen selber jezogen. Deshalb hat sie mir Angst jemacht und weil sie eine Frau war, aber so aussah wie'n Kerl, und weil sie manchmal den Hund auf die Kinder hetzte, wenn die ihr was Böses nachriefen. Das heißt, es genügte eigentlich schon, wenn sie 'Spitz' rief - denn der Spitz hieß Spitz -, dann hauten wir ab. Sie war aus Stargard wie meine Großmutter. Von der Stadt hatten die Großmutter und meine Tante immer so geschwärmt. Und ich wollte wissen, wie das wirklich war, Stargard. So'ne Stadt, wo man mal zuhause war und nu nich mehr hin konnte. Ich durfte mal zu ihr kommen, zur Töpperschen, also sie besuchen, aber da war noch 'ne Nachbarin, und der hatse vom Kriegsende erzählt und nich von Stargard. Als schon n' paar Wochen Waffenstillstand war, hat'n besoffener Russe ihren Mann erschossen. Aber das musste ich selber rauskriegen und hab's auch, also wie das gewesen ist, damals."
"Nu jloob ick det, detse von hier sind. Hajo!!!"
"Mal etwas jedämpfter, wenn ich bitten darf, Karlchen", sagte ein nicht mehr junger, zierlicher Mann mit Bauarbeiterhelm, aber mit weißem Hemd zu den Jeans, die er anhatte, während Karlchen eine bauchübergreifende blaue Latzhose trug. Dieser Archi, als der er tituliert worden war, nahm den Helm ab, wobei sich ziemlich schüttere Haare zeigten, zwischen aschenfarben und grau und länger, als es die Mode war, verbeugte sich sehr formell, hübsch karikiert, und entschuldigte sich für den Umweg, der der Fotografin zugemutet werde durch die überdachte Holzkonstruktion. Aber doch zu ihrer eigenen Sicherheit, wie sie wohl einsehe. Er entschuldigte sich auch für seines Poliers Karlchen sehr direkte Anrede und war im Übrigen voller Neugierde:
"Sie haben in dieser Straße gewohnt, hier in der Kugler? Bis wann?"
"1954, im Frühjahr. Und Sie, seit wann?"
"1952, auch im Frühjahr oder Frühsommer, Ende Mai ist es wohl gewesen, dass mich meine Eltern mit allen Würzlein ausgerissen haben aus mecklenburgischer Erde und haben mich eingetopft hier vorne an der Hochbahn und an den Straßenbahnen, und das bekam mir nicht gut. Die Würzlein hatten Mühe, die in die Ferne und in kargen Boden versetzte Pflanze am Leben zu erhalten. Nun, das ist ein bisschen übertrieben. Aber ich war einige Wochen lang, wie heißt das, melancholisch, nein, doch eher depressiv. Sagen durfte man das nicht und sein erst recht nicht. Dreizehn war ich damals. Ich vermisste die sanft gewellte Erde und die Seen und die Freunde und das Singen der Lerchen und ...; ach, ich bitte um Entschuldigung, meine Erinnerung geht immer noch manchmal mit mir durch, da ist nur eine dünne Schicht Großstadtfirnis drüber. Und ist doch alles schon 40 Jahre her "
"Aber", er hielt inne, weil der Einfall, den er nun hatte, ihm so überwältigend schien, "könnte es nicht sein, dass wir beide uns damals - gekannt haben?"
Ich sah ihn an, den schmalen, wohl mit mir etwa gleichaltrigen Mann, der fast keine Falten im Gesicht hatte, dessen graue Augen ein wenig lächelten, kaum merkbar, während ich ihn musterte und aus meiner Erinnerung heraus das Gesicht des Dreizehnjährigen sich über das des 55-Jährigen legte: Ja, Halop. Nun lächelte er mir ohne Zurückhaltung zu, weil er mich schon erkannt hatte. "Ursa", sagte er leise, "Sie sind Ursa - du bist Ursa. Erinnerst du dich noch an mich?" Ja, ich erinnerte mich gut. Wir waren befreundet gewesen und nicht nur das: Wir, beinahe Kinder noch, hatten einander geliebt. Aber so, wie unsere jeweiligen Familienverhältnisse damals waren im noch nicht durch die Mauer getrennten, dennoch schon doppelten Berlin der politischen Systeme konnte aus der ungewöhnlichen Liebe nichts werden. Und auch so jung, wie wir waren, konnte nichts daraus werden. Es waren nicht die Falschen, die sich da getroffen hatten, sondern zu falschen Lebenszeiten und zu falschen politischen Zeiten hatten sie sich getroffen. Und standen sich nun an bekanntem Ort gegenüber und hatten inzwischen schon beträchtliche Teile ihres Lebens abgelebt. "Ursa, bitte, lass uns erzählen, was seit damals gewesen ist. Hast du Zeit, jetzt gleich, bei mir? Aber was rede ich denn? Du hast vielleicht schon eine andere Einladung, oder du willst ins Konzert gehen, oder du bist mit deinem Ehemann hier oder sonst was. Du konntest ja nicht wissen, dass du mich hier treffen würdest in der Kuglerstraße."
Ich musste nicht einmal irgendwo anrufen, um mich abzumelden, denn ich wohnte gewissermaßen in meiner eigenen Wohnung. Meine alte Tante, Tante Hilde, die letzte Überlebende meiner Familie, die im Jahr zuvor mir noch einiges aus unserer Familienvergangenheit erzählt hatte, war in diesem Jahr 1994, im Januar, gestorben. In einer Wilmersdorfer Wohnung hatte sie 38 Jahre gelebt nach ihrem Wegzug aus der Kuglerstraße im Jahr 1956, davon noch 24 zusammen mit ihrer Mutter, in der Helmstedter Straße 24. Sie war immer hinfälliger geworden, immer buckliger, immer unbeweglicher, immer mehr kindisch-klagend mit ihren fast 90 Jahren. Eine eigentliche Krankheit hatte sie nicht. Sie welkte dahin. Und wie wenn sie sich hätte aus dem Weg räumen wollen zu genau passender Zeit, vor Beginn des Sommersemesters, so war sie gestorben. So blieb genügend Zeit für meine Tochter und ihren Freund, ihre Wohnung zu entrümpeln, zu renovieren und einzuziehen. Da wohnte ich den September über, wollte verschiedene Berliner Lebensformen erkunden, die einer Berlinerin, die ganz einfach Alltag lebt und um die Ecke bei Reichelt einkauft; die einer Touristin mit Stadtplan und Kamera; wenn das Wetter dazu einlud, die auch endlich einmal genügend Zeit haben würde, in Antiquariaten zu stöbern; wollte auch in Bibliotheken gehen und für ein entstehendes neues Buch recherchieren, wenigstens einmal in der alten Preußischen Staatsbibliothek Unter den Linden, der ehemals königlichen, sitzen und lesen. Und wollte im zweiten Haus der Staatsbibliothek sitzen, dem Scharoun-Bau an der Potsdamer Straße gegenüber seinen beiden Philharmonien, die ich liebe wie keinen anderen Ort auf der Welt, wo ich in jungen Jahren in einem Chor gesungen hatte. Aber es gelang nicht. Ich bin an allen Orten gewesen, die ich genannt habe, aber überall fühlte ich mich unwohl, nicht zugehörig. Ich denke, es war die Wohnung, für mich noch nicht genug durchtränkt mit dem Leben des jungen Paares in ihr. Immer wieder passierte, dass ich die Augen schloss und wie ein Bühnenvorhang sich die uralte, in meiner Erinnerung noch sehr präsente Einrichtung des Wohnzimmers von Helene und Hilde vor die real vorhandene zog und damit das Alte, Abgelebte, geistig und seelisch so kümmerlich Gewesene emporstieg. Erst als ich mir eingestand, gescheitert zu sein, ging es mir besser. Ja, es war damals vor allem die Wohnung. Es ist aber auch die Stadt, die zu entdecken und sogar zu lieben mir bisher nur aus der Ferne gelungen ist. Deshalb ist es die Rolle der Touristin, die mir in Berlin am besten glückt, und die der Fotografin, die sich in Distanz zu den Dingen setzt, anwesend nur auf Zeit, zu Hause nirgends. Trotzdem ist Berlin die Stadt, die ich mir zur Heimat erkoren habe. Man braucht so was. Besser freilich wäre eine Landschaft, ein Mittelgebirge, Seen, ein Fluss als Verbindung von Orten und Zeiten.

Karlchen hatte sich zurückgezogen. Aus den Gesichtszügen und aus Redebrocken seines Chefs und von mir hatte er genug entnommen, um zu bemerken, dass dies eine ganz und gar ungewöhnliche Begegnung sein musste.
"Mach Schluss für heute, Karlchen", rief Hajo in den Hausflur, "Herrchen hat wen getroffen, mit dem er sehr viel reden muss. Ganz frühe Vergangenheit, hier Ecke Schönhauser, allererste Berliner Zeit." Und zu mir: "Er hat eine goldene Seele irgendwo in seinem Blaumann. Er spürt's, wann seine flotte Berliner Schnauze dran ist und wann gar nicht. Den siehst du nicht mehr. Der ist diskret." Und wirklich: Karlchen blieb irgendwo im Hintergrund, rief aber aus dem Dunkeln:
"Is jut. Verstanden. Und sag die Dame: War doch jut, nich, det ick se von unse Baustelle jescheucht habe, oder?"
Ja, Karlchen, war jut, war sehr jut.

Schweigend gingen wir die Kugler entlang Richtung Schönhauser, Hajo Mahn, den wir 'Halop' genannt hatten vor langer Zeit und der ganz richtig Hans-Joachim hieß, und ich, die er Ursa genannt hatte. Er war es, der diesen Namen für mich erfunden hat, und ich habe ihn mir zu eigen gemacht. Am früheren Heidbrinkschen Schuhgeschäft kamen wir natürlich vorbei. Hilde, die einst bewunderte Urfreundin, hatte da einmal in der offenen Ladentür gelehnt und war weggegangen, als sie mich kommen sah. Die Erinnerung an die Verächtlichkeit ihrer Bewegung blieb mir viele Jahre. Nichts im Leben bleibt. Das habe ich zuerst an ihr gelernt. - Dann die Drogerie, vollgestellt bis in die winzigste Ecke damals, mit ihrem kräftigen, geheimnisvollen Duft aus vielerlei Essenzen, wo ich immer gern viel länger geblieben wäre, als ein kleiner Einkauf Zeit brauchte. Links neben der Haustür der Kuglerstraße 1 war die Druckerei Willacht, die Hänschen Willacht gehört hatte, einem scheuen Männlein, das irgendwie dauerkrank war, aber eine Tochter hatte, die bei ihm wohnte und zur Lehrerin ausgebildet wurde, zur sozialistischen Lehrerin, und die mir, der Göre, erzählte, wie anstrengend das sei. Das Pelzgeschäft Treister früherer Jahrzehnte dann, das in den 30er Jahren Karl Wurzel gehört hatte, dem vorletzten Juden im Haus. Er hatte sich 1937 noch nach Amerika hatte retten können. Die letzte jüdische Familie hieß Nissenbaum. Nach ihr fragte Frau von Jaminet, die Hausbesitzerin, 1942 meine Tante, die Hausverwalterin: "Haben wir denn noch jüdische Mieter?" Nein, es gab da schon keine mehr, und die Nissenbaums sind wohl nicht nach Amerika entkommen, sondern "abgeholt" worden, auch so ein schrecklich harmlos klingender Ausdruck.
Als wir an Treister/Wurzels ehemaligem Schaufenster vorbei kamen, sagte Hajo: "Hier, nicht?" Ja, dort hatten wir uns zuerst gesehen. Im Eckladen dann war in der ersten Jahrhunderthälfte eine Filiale von Loeser und Wolff gewesen, zu DDR-Zeiten ein Wein- und Spirituosengeschäft, man mag es fast nicht glauben. Und ein Ledergeschäft mit schäbigem Angebot war daneben, schon in der Schönhauser, dann eins mit Geschenkartikeln, hässlichem Zeugs, das niemand brauchte. Der Eichhörnchen-Nussknacker stammte daher, der einen Weihnachtsstreit in meiner Familie ausgelöst hatte. Und einen kleinen Süßigkeitenladen weiß ich noch, wo ich manchmal Fondants kaufen durfte, fürchterlich süßes Zuckerzeug. Neun Läden waren es insgesamt. Der letzte war ein Papiergeschäft, da erstand ich meine Schulsachen, erst neue Schwämme und Putzlappen für die Schiefertafel, dann die Hefte verschiedener Linierungen und Bleistifte und Buntstifte, die immer abbrachen, und einmal statt einer Geburtstagskarte eine Pfingstkarte, weil ich nicht zu offenbaren wagte, dass ich noch nicht lesen konnte, also nicht gefragt habe. Das muss 1946 gewesen sein. Damals schickte man sich noch Grüße zu Pfingsten, aber 1945 sicherlich nicht.
Da ging ich nun mit Halop entlang zu seiner Wohnung in der Schönhauser Allee 89 im 3. Stock, wo er 1952 schon gewohnt hatte und tatsächlich immer wohnen geblieben war. Was mochten dahinter für Geschichten stecken?
Das Wohnzimmer fand ich gleich, das große Zimmer mit den drei Fenstern, die in die Rundung eingesetzt waren, ähnlich wie im Haus gegenüber, die die beiden Häuser Schönhauser Ecke Kugler verband und im Dachgeschoss in einem Turm geendet hatte. Der, wie auch die anderen Dachverzierungen, war Kriegsverlust. Hajo, der meinen Mantel in die Garderobe gehängt, die Fototasche in der Diele auf den Fußboden gestellt hatte, kam mir nach, trat zu mir. Da standen wir nun wieder in seiner Wohnung, nach fast 40 Jahren. Er legte den Arm um mich mit derselben ein wenig schüchternen Geste wie damals zuerst. Dann standen wir umarmt. Dann küsste er mich auf die Stirn. Lange keine Worte, nur:
"Ursa." "Hajo."

"Wie war das genau, dass du in diese Wohnung kamst, Hajo, 1952?"
"Ja, ich werde dir erzählen. Du wirst mir auch erzählen, bitte. Es ist soviel geschehen in 40 Jahren. Ich hole zu trinken, was da ist. Und Kekse müssten da sein. Ich bin allein nicht sehr sorgfältig mit dem Einkaufen. Vielleicht magst du später mit mir essen gehen? Das Wichtigste habe ich sogar schon gesagt, eben auf der Baustelle, die Kurzfassung. Da brach die Erinnerung an die Vergangenheit aus mir heraus, die im Alltag fern gerückt ist.
Ja, ich wurde verpflanzt hierher, mit nur kurzer Vorankündigung. Mein Vater war Schulleiter in Mirow an einem dieser vielen mecklenburgischen Seen, bevor er, 1952 eben, ins Ministerium für Volksbildung versetzt wurde, also aufstieg, ein hohes Tier wurde, wie man so sagt. Eigentlich kamen wir aus Schwerin, da war er schon einmal ein hohes Tier gewesen, als Nazi. Schulrat. Villa mit Dienstmädchen. Die Söhne, mein Bruder Stephan und ich, wurden geboren 1937 und 1939. Den Krieg merkten wir lange nicht. Der Vater glaubte stur an den Endsieg und bastelte an Plänen für ein künftiges großdeutsches Schulsystem. War sehr erstaunt, statt dessen von den Bolschewiken besiegt und sogar gefangen genommen zu werden. Aber die Wahrheit über den Einfluss der ehemaligen Faschisten im Osten ist ja anders, als es die Propaganda-Artikel sagten. Angeblich gab es solche einstigen Nazis ja hier nicht Aber man brauchte gute Verwaltungsleute, und das war mein Vater. Man schulte den Schulrat um, schon in der Kriegsgefangenschaft, und er wendete sich zum gehirngewaschenen Sozialisten. Die liegen ja nahe beieinander, diese beiden totalitären Systeme. Und mein Vater hat immer das gemacht, was zu seinem Vorteil diente. Als der Staat DDR erfunden wurde, hat man ihn hingeschickt, direkt aus der Kriegsgefangenschaft. Er war erst Lehrer, dann bald Schulleiter, ein so begeisterter Sozialist, wie er zuvor Nazi gewesen war, und er wollte wieder aufsteigen, höher als zuvor. Und das gelang.
Im Juni 1952 ungefähr sagten uns die Eltern, wir würden nach Berlin ziehen, in eine schöne große Stadtwohnung, eben diese hier. Ich sollte zur Sicherheit, d.h. um meiner möglichst guten Noten willen, denn die waren nicht so toll, also ich sollte die 7. Klasse der Einheitsschule wiederholen. Das bedeutete: in die 6. Klasse eingeschult werden. Schuljahrswechsel war ja, das weißt du sicher noch, im Herbst. Stephan war schon auf der Oberschule, ein guter Schüler, er würde in Klasse 9 kommen und brauchte also nicht zweimal die Schule zu wechseln.
Das war für mich aber eine ferne Sorge. Zunächst einmal begriff ich gar nicht wirklich, was mit mir, mit uns geschehen sollte. Wie denn das: die Lehrerwohnung in einem Dorfschulhaus bei Mirow - einfach verlassen? Die Clique nie mehr wieder treffen, mit der ich im Sommer immer zum Baden gefahren war an einen der Seen? Den Dienst bei den Jungen Pionieren, den konnte man nebenbei erledigen. Nicht mehr Kirschen klauen? Nicht mehr Vögel beobachten? Nicht auf der Wiese liegen und sich Wolken-Geschichten ausdenken? Im Winter nicht mehr in verschiedenen Häusern um den Ofen zusammenrücken, wo noch Großmütter waren, die plattdeutsche Geschichten erzählten? Mir war - ich weiß nicht, wie mir war. Erstarrt. Als sollte mir der Lebensfaden abgeschnitten werden. Ganz zuerst, als der Vater es am Abendbrottisch mitteilte, begeistert, dass er seinen Aufstieg geschafft hatte, glaubte ich es nicht, das mit dem Umzug nach Berlin. Ein rüder Scherz? Er machte manchmal solche. Aber die Mutter bestätigte es. Stephan, das war offenkundig, erfuhr es zugleich mit mir. Er war also nicht als der Ältere vorgezogen worden. Und deshalb hockte er genau so hilflos da wie ich.
Der Vater wurde aufgebracht durch unser Schweigen. Die neue Wohnung sei groß, fünf Zimmer, hohe Fenster, eine Dienstwohnung, die schon beinahe fertig eingerichtet sei. Die Möblierung in Mirow sei ja doch mehr oder weniger noch eine Behelfssache gewesen. Natürlich könnten wir unsere Lieblingssachen mitnehmen. S-Bahn, U-Bahn, Straßenbahnen, alles so ziemlich vor der Tür. Prenzlauer Berg an der Grenze zu Pankow. Kaum Kriegsschäden. Am nächsten Tag, einem Sonntag, würden wir hinfahren, zum Ansehen.
Da überraschte der Vater uns mit einem neuen Dienstwagen, den er über Nacht weit genug abseits von unserem Haus geparkt hatte, damit keiner im Dorf die große Karre mit ihm in Verbindung bringen sollte, einen Škoda, der meinem Bruder und mir nur peinlich war, als wir einsteigen sollten. Was unsere Mutter dachte, blieb unklar, sie hatte ihr undurchschaubares Gesicht angelegt, die Maske. Das Gesicht offenbarte deutlich: nicht fragen, bitte, bitte nicht fragen. Sie sagte nichts.
Dann die Wohnung hier, dies große Zimmer, noch zwei mit Fenstern zur Schönhauser, zwei mit Fenstern zum Hof. Vaters Mutter würde zu uns ziehen, es drängte sie geradezu zurück nach Berlin, woher sie "aufs Dorf" gekommen war, wie sie immer sagte. Sie hatte um ein Zimmer zur Straße gebeten, zum Aus-dem-Fenster-Sehen. Elternschlafzimmer nach hinten, also je eins der Jungs-Zimmer auch nach hinten und auch zur Straße. Grundeingerichtet waren sie gleich. Wir sollten losen. Ich loste das Zimmer zur Straße und ahnte bereits die Katastrophe: alle fünf Minuten oder wie oft sie damals fuhr, eine Hochbahn, unentkommbar, und noch öfter eine Straßenbahn, natürlich auch unentkommbar, aber noch schlimmer, noch lärmiger. Die 22 und die 46 fuhren da. Vor dem Nebenhaus war und ist wieder die Haltestelle, also bremsen, quietschen, dass ich's mir fürchterlicher nicht vorstellen konnte, wieder anfahren.
'Hier bleibe ich nicht', dachte ich, 'hier gehe ich ein.' Nicht nur das Leben in der Natur aufgeben, sondern unter einer quietschenden Bahn zugrunde gehen. Aber ich sagte nichts. Ob ich mich nicht freute? 'Nein.' 'Da baut der Vater den Sozialismus mit auf', schrie daraufhin dieser Vater, 'da hat er zu schuften, und er schuftet gern, und er kann seiner Familie deshalb was bieten, aber den Herrn Sohn freut's nicht.' Die Mutter ahnte wohl, dass sie hier hätte vermitteln sollen. Aber vor dieser Tonart ihres Mannes hatte sie Angst, diesem Macho- und Wahrheitsgehabe. Stumm fuhren wir zurück. Ein Junge weint nicht, weder auf faschistisch noch auf sozialistisch, und auf kapitalistisch, das weiß ich inzwischen, auch nicht.
In der folgenden Woche sollten wir zusammenpacken, was wir mitnehmen wollten, die Schulsachen natürlich, die Fahrräder, Bücher, Klamotten und, tatsächlich sagte der Vater so, auch Dinge, an denen das Herz hing. Ich zweifelte damals, ob er eins hatte. Und von Dingen hatte er gesprochen. Aber unsere Tiere, unsere Gemüse- und Blumenbeete? Die Obstbäume? Die Kaninchen sollten wir verschenken oder zwei schlachten und fürs Abschiedsessen vorbereiten. Und, o Gott, die beiden Katzen, die beiden Hunde? Sollten wir die vielleicht auch schlachten? Verschenken, sagte der Vater, oder beim Tierarzt einschläfern lassen. Der würde das sogar umsonst machen, für uns, sagte der Vater. Er wolle nur das Effiziente, sagte der Vater, eiskalt. Wir hatten das schon erlebt mit einer Katze, die sich nicht an den Kratzbaum gewöhnen wollte und an den Sesseln kratzte - er ersäufte sie. Und zwei Wellensittiche hatten wir mal, die irgendeine Krankheit hatten, Milben oder so, denen drehte er die Hälse um, das sei doch das einfachste. Er mochte Tiere nicht, und die merkten das. Häufig gingen sie ein. Die Luft zum Atmen war dick und stickig im Haus. Es war keine gute Familienstimmung bei uns, außer zwischen meinem Bruder und mir. Mein Vater war nur arbeitsbesessen. Er musste ja auch seine Nazi-Vergangenheit vergessen und vergessen machen. Seit auch ich zur Schule ging, arbeitete meine Mutter wieder, als Bibliothekarin in Mirow in der Volksbibliothek. Da hatte sie wenigstens einige Stunden am Tag ihre eigene Sphäre, und uns versorgte ihre Schwiegermutter. Als wir älter wurden und sie mit uns besser sprechen konnte, was erklären von sich, wurde unser Verhältnis besser. Aber sie war nicht mutig, sie blieb bei ihrem Mann. Bei vielen Frauen ist das so.
Na, Schluss damit, ich verliere mich. Übrigens: die Katzen und das übrige Viehzeug konnten wir verschenken, aber wir hatten auch die ganze Woche damit zu tun, die uns noch blieb, jemand zu finden, der sie wollte. Das geschah in vorletzter Minute. - Entschuldige, Ursa, magst du denn überhaupt noch zuhören? Ich erzähle nun schon so lange, es könnte dir langweilig geworden sein."
"Nein, Hajo, erzähl' weiter, mindestens noch bis dahin, als du dich zuerst neben mich gesetzt hast da, wo wir eben vorbeigegangen sind. Es war so ein dunkelrot angestrichener Holzrahmen um das Schaufenster, von dem die Farbe abblätterte. Da war der Stammplatz für alle, die beim Völkerball nur mal zusehen wollten oder die man wegen erwiesener mangelnder Beweglichkeit nur mitspielen ließ, wenn die andere Seite auch so jemanden hatte. Das war damals ich. Warum ich nicht wegging, weiß ich nicht. Vielleicht sollten wir uns ja da treffen. Schicksal, Fügung oder so. Also, wie ging es weiter in Mirow?"
"Wie es in der Schule war, weiß ich nicht mehr. Sonst ging ich nur raus, um Tiere zu verschenken. Dabei wusste ich, dass die Kaninchen ein Sonntagsessen abgeben würden da, wo man sie gern haben wollte. Aber das ging irgendwie unter in meiner umfassenden Hoffnungslosigkeit. Es gelang mir nur, meine Bücher einzupacken, weil der Gedanke im Hirn drückte, sie wären verloren, wenn ich's nicht täte. Verabschiedet habe ich mich nirgends. Stell' dir nur das vielfache Gerede vor, das dann gewesen wäre. Meinem besten Freund (nun ja, was das hieß, bester Freund, wurde jetzt klar, wo es sich hätte bewähren müssen, nämlich fast nichts), also dem sagte ich was über das hinaus, was ja zu sehen war oder sich schnellstens herumsprach. Ich hätte es auch lassen können. Denn alle beneideten mich doch darum, dass ich in die Hauptstadt durfte.
Am Sonnabend wurde der Umzugswagen vormittags in Mecklenburg beladen und kam am frühen Nachmittag in Berlin an. Viel brachte er ja nicht. Zur Feier des neuen Abschnitts gingen wir essen; der Vater hatte schon vor längerer Zeit den Tisch bestellt in einer besseren HO-Gaststätte. Sogar eine Flasche Wein gab's für die Eltern. Dabei wurde besprochen, wie es weitergehen würde oder vielmehr: Es wurde der Befehl dazu ausgegeben. Der hieß: Sonntag einräumen, Montag in die neuen Schulen, der Vater würde Stephan, die Mutter mich hinbringen, mich also in die Scherenbergschule, die du kennst, nur in den Knabenteil. Angemeldet waren wir längst. Die Söhne von jemand, der der Vor-, Vorgesetzte oder so auch der jeweiligen Schulleiter war, die hatten sozialistische Haltung zu zeigen, Vorbild zu sein, so gingen die Sprüche, auch wenn dann gleich, zwei Wochen später vielleicht, die Sommerferien beginnen würden. Nee, nich' etwa diese Zeit schmu machen, das gäb's nicht. An sozialistischen Schulen wird keine Zeit vergeudet.
Als ich in meinem neuen Bett lag, fuhren die Bahnen durch meine Schlafversuche, und die Scheinwerfer der wenigen Autos zogen helle Spuren an den Wänden und über mein Gesicht. Irgendwann zwischen 1 und 3 oder so bin ich wohl eingeschlafen, aber von der ersten Bahn um ½ 5 wieder aufgewacht mit dem Gefühl, in dieser Wohnung würde ich niemals schlafen, den Verlust der mecklenburgischen Landschaft würde ich nie verwinden oder einfach: Hier sei kein Leben für mich möglich.
Beim Frühstück hat man mir die beinahe schlaflose Nacht natürlich angesehen. Der Vater spottete über sein zartes Söhnchen, aber die Mutter, siehe da, sie wagte etwas zu sagen, verwies ihm das. Stephan signalisierte mit den Augen Verständnis. Da produzierte der Vater wieder die Rede vom sozialistischen Vorbild-Menschen, und dann sagte er, alle Genossen hätten ihm gesagt, die Hochbahn, die Straßenbahnen, die höre man schon nach kurzer Zeit nicht mehr, schließlich wohnten viele nahe an 'ner Bahn, könnte ja auch die S-Bahn sein. 'Na ja', meinte Stephan, nachdem er die kühne Widerrede seiner Mutter gehört hatte, 'vielleicht wenn man als Baby hier reingefallen ist. Ich habe auch miserabel geschlafen', und er wage die Frage zu stellen, ob denn die Eltern ...' Alle hatten nicht gut geschlafen und gaben es dann zu, aber Hajo, hieß es, der Familien-Zärtling, der natürlich am schlechtesten... 'Sicher', sagte nun der, er als einziger schlafe ja auch zur Straße hinaus. 'Haste jelost', sprach der Vater. Und wirklich war ja auch mein Zimmer größer und heller als das von Stephan, als Zimmer an sich das schönere.
Mir blieb kein anderer Gedanke, als dass ich einschlafen müsse und am liebsten nie mehr aufwachen würde. Ich ging ins Bett und hatte nur das Empfinden der völligen Sinnlosigkeit von allem, was ich jemals wieder tun würde. Ich war 13, und 13-Jährige haben noch keine Depressionen, stand im medizinischen Wörterbuch von anno X. Als wir beide 12 und 13 waren und ich dir damals meine Geschichte vor Berlin erzählt habe, denn irgendwie musste ich dir ja mein plötzliches Auftauchen erklären, da war ich ja nur knapp darüber hinaus, über 13 und über die Depression, die ich sehr wohl hatte. Da hab' ich bestimmt nicht viel davon mitteilen wollen und hab' das Nötigste erzählt mit dem Gefühl, dass, zuviel drüber zu reden, mich wieder hineinziehen würde. Du kanntest wohl, zu deinem Glück, solche Verfassung damals nicht und hoffentlich auch heute nicht."
"Doch", warf ich ein, "ich kannte sie, kannte sie noch früher als du, mit zehn, als ich begriff, dass ich sterben müsse, ich, dieser einzige Mensch, den ich von innen kannte. Wahrscheinlich habe ich's damals nur ganz kurz erwähnt, wenn überhaupt. Und auch, weil ich wie du die Wiederkehr des Zustands lange fürchtete. Also hab' ich dich wohl besser verstanden, als ich zugeben wollte. - Und dann? Der Montag? Die Schule?"
"Die Mutter kam zum Wecken, aber natürlich war ich längst wach oder noch immer. Dass ich nicht könne, gab's nicht. Da ich trödelte, war keine Zeit, etwas zu essen. Sie packte mir ein Brot ein. Ich saß auf einem Stuhl und wusste nicht, warum ich mir die Schuhe zubinden sollte. Da tat sie es für mich wie bei einem Kleinkind. Sie hat wohl gesehen, wie schlecht es mir ging, wagte aber gegenüber dem Vater nicht, mir den Rückzug ins Bett zu gestatten. Irgendwie kam ich zur Schule und in meine Klasse und wieder nach Hause. Dann ins Bett, wo ich an der Oberfläche der Träume entlang glitt, Nägel um mein Bett herum streute, das Zimmer mit einer Gießkanne unter Wasser setzte, hoch schreckte, weil ich vergessen hatte, meinem Hund Moritz zu fressen zu geben und der an meinem Ohr bellte. Die beiden folgenden Tage liefen morgens ähnlich ab. Am dritten glitt ich in der Klasse aus der Bank und fiel auf den Fußboden. Ohnmacht. Nicht lange. Mit Wasser aus dem Tafelschwamm wurde ich auf unappetitliche Weise wieder in die Welt geholt und dann ins Zimmer mit der Krankenliege gebracht. Den Arzt, der kam, wunderte die Ohnmacht nicht: wenig gegessen, fast nicht geschlafen. Fieber außerdem, geröteter Hals. Die Natur war meiner armen Seele zu Hilfe gekommen und hatte mir eine Erkältung geschickt, dachte ich. Er sah das nüchterner: Ich hätte natürlich die Keime der neuen, unbekannten Umgebung aufgenommen, und nun reagierte mein Körper. Das sei zu erwarten gewesen. Bettruhe hat er verordnet! Bettruhe bekam ich auf ärztlichen Befehl! So war das sagbar in der Schule, so wurde es dem neuen Klassenlehrer mitgeteilt, und so konnte es auch der Vater im Amt erklären, falls er gefragt würde: 'Mein Sohn hat eine fiebrige Erkältung', das war sagbar. Körperliches war sagbar, Seelisches nicht. Meine Mutter wurde herbeitelefoniert. Der Arzt brachte sie und mich mit seinem Auto nach Hause. Ich kehrte zurück ins Bett und in die Träume, durch die die Straßenbahnen quietschten und die Hochbahnen jagten.
Die Mutter blieb ein paar Tage im Haus, bis die Großmutter aus Mirow angekommen war, schneller nun, als sie gewollt hatte. Stephan drängte mir geradezu den Tausch unserer Zimmer auf, und ich habe angenommen. Zum erstenmal in Berlin fand ich mich ein wenig aufgehoben am neuen Ort. Verrückt war das eigentlich: Aufgehoben fühlte ich mich in einem Hofgeviert mit einem einzigen Stück Grün, der Pappel, für die da Platz war. Das Heimweh und die Melancholie, die in die Erkältung übergegangen war, haben mir damals, besonders vom späten Nachmittag an, trotz eines lange dauernden reichlich reduzierten Zustandes, auch Lesestunden beschert, die man mir sonst wohl nicht zugebilligt hätte. Die Erkältung war allerdings von epischer Länge. Zweimal, als es mir besser ging und ich das Haus verließ, vorsichtshalber in Stephans Begleitung, als ich einen Hauch von Zuversicht empfand, in die neue Lebensweise mich einzufinden, gab es Rückschläge, und erst lange nach der Hälfte der Ferien begann es mir langsam besser zu gehen.
Dann traute ich mich allein hinaus. An einem Tag, schon mit dem neuen Schuljahr im Sinn und wie das denn wohl zu bestehen sein würde, ging ich von der Schönhauser nach rechts bis zur Wisbyer Straße und dann die entlang. Da sind Bäume und Gras rechts und links der Straßenbahngleise, und die Häuserzeilen sind weit voneinander getrennt durch zwei getrennte Fahrbahnen auf beiden Seiten der Gleise. Das weißt du ja. Es sollte mal eine Ringstraße werden, Ostseestraße, Wisbyer, Bornholmer, Osloer und dann Seestraße, einmal ganz 'rum wie der S-Bahn-Ring. In der Planung um die Jahrhundertwende hieß dieser ganze Straßenzug, einfach - wie mit dem Lineal gezogen sieht das auf alten Stadtplänen aus - Christianiastraße, also so, wie damals Oslo hieß. Ja, da man mich nun gegen meinen Willen, um der Karriere meines Vaters willen, in die Stadt geworfen hatte, begann ich mich für Stadtplanung und Architektur zu interessieren. Eine Art Überlebensstrategie, würde ich heute sagen. Die schwarzen Zustände zurückdrängen, die immer noch mal kamen. Erst zwang ich mich, das Neue genau anzusehen, dann wurde es mir Bedürfnis. Da ist diese Kirche, Paul-Gerhardt-Kirche, die genau in die Häuserzeile hineingebaut ist. Solche Kirchen, so aus dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, gibt's gar nicht wenige in Berlin. Das sparte Geld."
"Ach", unterbrach ich ihn wieder, "und uns haben sie damals immer anders erzählt, im Konfer und so, also Konfirmandenunterricht und Jugendkreis, nämlich: Unsere Kirche gehört zu den Menschen, sie beansprucht keinen repräsentativen Raum um sich herum, sie steht zwischen den Häusern und zeigt damit, dass sie ein Haus für alle ist. Und dabei ging's bloß um Geld! Und ich fand den Gedanken schön, den man uns da unterjubelte! Fand auch die Kirche auf kindliche Weise schön, wahrscheinlich einfach, weil viel freier, hoher Raum eben eindrucksvoll ist. - Aber erzähl weiter, bitte."
"Eigentlich war nicht viel. Ich ging die Wisbyer Straße lang bis zur Prenzlauer Allee und wollte im Quarree zurück und 'entdeckte' dann, dass die Kugler durchgeht von der Schönhauser bis zur Prenzlauer oder umgekehrt, und so bin ich dann zurück gegangen. Doch, etwas war noch, sogar was Wichtiges. Vom Dorf her war ich es gewöhnt, jeden zu grüßen, der mir begegnete, und das tat ich auch hier. Die Reaktionen der Leute waren sehr unterschiedlich. Manche strahlten richtig und freuten sich. Andere sahen mich an, als hätte ich mir eine Frechheit erlaubt, und grüßten nicht zurück. Man grüßt sich nicht in der Anonymität der Großstadt, habe ich gelernt, außer man kennt sich. Das hat mir damals ganz schön zu schaffen gemacht."
"Kannst du dir vorstellen, Hajo, dass ich niemals die Kugler bis zur Prenzlauer Allee gegangen bin? Immer nur bis zur Schule und allein niemals weiter. Nur mal, als ich Johanna Brander auf der Straße traf, mit ihr zusammen. Die hast du nicht mehr kennen gelernt. Sie ist noch immer meine Freundin. Bestimmt wohnten in dem anderen Teil der Kugler und in den Nebenstraßen Mitschülerinnen, aber damals ging man nicht zu denen in die Wohnungen zum Spielen. Und Übernachten bei 'ner Freundin oder 'nem Freund, wie das heute bei Kindern üblich ist, gab's schon überhaupt nicht. Die Wohnungen waren zu klein, es lebten meistens auch Untermieter mit darin wie bei uns, aber es muss vor allem so eine Gewohnheit gegeben haben, in die eigenen vier Wände niemanden reinsehen zu lassen. Mein Kinderkiez endete also bei der Schule. Und an Neugierde, die Gegend zu erkunden, hat es mir gefehlt. Wenn ich spazieren ging, dann deshalb, weil ich der Wohnung mit meiner Mutter drin entfloh. Und gegrüßt übrigens habe ich natürlich niemanden außer den Wenigen, die ich kannte. Mit dieser Anonymität der Großstadt bin ich aufgewachsen. Erst wir beide zusammen haben dann solche Gänge gemacht, mit Stadtplan und sehr weit offenen Augen. Da hattest du dir das Grüßen schon abgewöhnt. Übrigens ist dies, eine Straße zu Ende gehen, mir zur Metapher geworden. Die Helmstedter Straße in Wilmersdorf, wo seit 1956 meine Großmutter und Tante wohnten, bin ich, denk mal, vor ein paar Tagen zum ersten Mal bis zu ihrem anderen Ende gegangen, zuvor in 38 Jahren niemals. Es wäre nicht möglich gewesen, weil die beiden mir nur nachwinken konnten, wenn ich nach links vom Haus wegging; denn an der rechten Seite war der kleine Erker der geteilten Wohnung zugemauert. Also, ich meine so etwa: Die Wege zu Ende gehen, die Dinge zu Ende denken."
"Diese Gegend hier kanntest du seit Kinderzeiten, und der Lebenskreis von Kindern ist klein. Als du mir deinen Kinderkiez gezeigt hast, noch im ersten Sommer, weißt du es noch?, da bist du erstaunt gewesen, dass meiner schon größer war. Aber das kennen lernen war eben, was ich gesagt habe: Überlebensstrategie. Und da ging ich also die Kuglerstraße entlang zurück von der Prenzlauer aus, sah die verschiedenen Bebauungsphasen, sah, wo Bomben gefallen waren, sah die Schule wieder, in die ich bisher erst drei Tage gegangen war. Müde war ich, es war der erste längere Gang. Da saßest du in dem Schaufenster, und ich fragte dich, ob ich mich zu dir setzen dürfe."
"Nur weil du müde warst?"
"Nein, nicht nur, und das weißt du auch. Ich hatte so Vorstellungen von Stadtzicken, dass die nur schön aussehen möchten, aber dumm reden. Du hast ausgesehen, als ob du zu diesen Völkerballfanatikern nicht gehörtest. Als ob man mit dir sprechen könnte. Aber zugleich hast du da zugesehen, als ob du doch dazu gehörten wolltest. Das irritierte mich, und ich wollte eben mit dir sprechen, um herauszufinden, was stimmte. Du bist die erste gewesen, die ich hier kennen gelernt habe."
"Wir haben uns aneinander herangetastet, ja. Ich habe dir den Völkerball und die Spielregeln erklärt, jedenfalls wie sie hier in der Straße galten, und auch, obwohl mir das peinlich war, warum ich nicht mitspielte, weil ich nämlich völlig unsportlich sei. Da passte ich ja zu dir, hast du gesagt. Zwar stellte sich dann heraus, dass du schwimmen konntest und Rad fahren und auf Bäume steigen und Schlittschuh laufen, und das alles konnte ich nicht. Schwimmen sollten wir in der 6. Klasse, also gleich nach den Herbstferien, von der Schule aus lernen. Ich glaubte nicht recht daran. Im Jahr zuvor in Kladow im Sommerhaus von Herrn Braun, dem Chef meines Vaters, hatte ich es auch nur so halb gelernt, eigentlich nicht. Niemand aus meiner Familie konnte Rad fahren. Doch, heute weiß ich, dass mein Vater es gekonnt hat als junger Mann. Da hat er mal eine Radtour im Thüringer Wald gemacht, den Rennsteig entlang. Und Schlittschuh laufen, das hatte sogar meine Großmutter gekonnt als junges Mädchen im langen Rock.
Die anderen stiegen auf die Gaslaternen hier in der Kugler, weil keine Bäume da waren, aber auch das konnte ich nicht. Ich wusste einfach nicht, wie man sich da festhält. Ich konnte nichts an Sport, was man so können konnte. Aber das hat dich nicht gestört. Und dann hast du gefragt, ob wir denn weiter bei diesem Spiel zuschauen müssten, wenn es uns in Wahrheit gar nicht interessierte, und ob wir nicht lieber zusammen ein Stück spazieren gehen wollten. Und das taten wir und kamen, oder du kamst wieder in die Wisbyer Straße. Saßen bald auf einer Bank, und dort hast du mir zum erstenmal Bruchstücke davon erzählt, wie es gekommen war, dass du in der Schönhauser Allee wohntest.
Und ich habe an Dietrich Rausch aus meinem Haus gedacht, der mich nun nur noch mit den Augen grüßte, der der erste Junge gewesen war, mit dem ich wirklich hatte sprechen können, drei Tage im Hof unserer Häuser. Ich war damals schon süchtig nach Sprechen, nach Offenheit statt Rechthaberei. Von Dietrich habe ich dir dann bald erzählt und von meines Vaters Verbot unter der Devise: Wehret den Anfängen. Im Jahr zuvor, mit 11, hatte ich beschlossen, sicher noch mehr aus kindlichem Trotz als aus wirklicher Einsicht, dass ich nichts von dem der Familie mitteilen würde, was ich je mit einem Jungen oder jungen Mann zu tun haben würde. Ich war schon geübt im inneren Allein-Sein zu der Zeit. Denn wenn ich vom Spielen auf der Straße heraufgekommen war, wo Berlinisch die Umgangssprache ist, und mit noch kindlichem Zutrauen und momentaner Begeisterung erzählte, was sich dort so abgespielt hatte, und das also auf Berlinisch erzählte, sagte meine rheinische Mutter: 'Sprich hochdeutsch.' Da habe ich getrotzt und gemault und mit dem Fuß aufgestampft und gesagt: 'Denn erzähl' ick dir ebend ja nischt mehr.' Das gelang nicht sofort, aber doch, glaube ich, in weniger als einem Jahr. Und deshalb war ich von allem Anfang an entschlossen, was immer aus unserer Bekanntschaft in den Sommerferien 1952 werden würde, sie vor der Familie geheim zu halten wie alles, was wichtig war, also auch meine Backfisch-Schwärmerei für den Deutschlehrer oder die anfangende - ja, was denn: auch Schwärmerei oder mehr? - für meinen Konfirmandenpastor. Das lief auf einer ganz anderen Ebene ab als unsere beginnende zarte Zuneigung. Der war ja ein alter Mann für mich, 42, wie ich heute weiß. Er hätte mein Vater sein können. Und so einen Vater hätte ich sehr gern gehabt."

An dieser Stelle beschlossen wir, unsere wechselseitige Lebensnachfrage erst einmal zu unterbrechen und essen zu gehen. Die Schönhauser war schon deutlich dabei, sich zu verwandeln. Eine regionale Einkaufsstraße war sie immer gewesen, zwar DDR-grau, aber doch mit einigen Spezialitäten-Läden wie dem für Wein und Spirituosen an unserer Ecke, einem Spielzeugladen an der gegenüber und daneben einem Musikalienladen, wo ich mit meinem Vater zusammen Noten für Klavier und für Geige und die Geigensaiten nachkaufte, die zerrissen waren. Essen gegangen war ich in der Schönhauser Allee nie mit meiner Familie außer einmal in die HO-Konditorei Ecke Wichertstraße, wo es Buttercremetorte gab, von der ich zwei oder drei Stück essen konnte und sogar durfte. Das ist vielleicht der Leichenschmaus für Paula Reich gewesen.
Über S- und Hochbahnhof hinaus stadteinwärts war die Schönhauser für mich nahezu terra incognita. Nur nahezu, weil die Hochbahn das noch zwei Stationen weiter blieb, Hochbahn also, bis zur Eberswalder/Danziger Straße, die dann einige Jahrzehnte Dimitroffstraße hieß, und noch bis zum Senefelderplatz, ehe sie vor dem Rosa-Luxemburg-Platz (früher hieß die Station Schönhauser Tor) in die Erde tauchte. Der Platz hat seinen Nachkriegs-Namen behalten dürfen. Allerdings musste ich ja bald den Rückweg vom Schwimmbad in der Oderberger Straße von der Danziger Straße an die Schönhauser entlang gehen. Jemand sagte, das sei ein Kilometer, was mir großen Eindruck machte. Ein ganzer Kilometer! Die Häuser, an denen ich dabei entlang ging, erschienen mir aber bloß uralt und mit ihrem verstaubten unfarbenen Stuck und den vielen Artillerie-Einschlusslöchern und in ihrem Zustand der Verwahrlosung hässlich. Ich wusste nichts von der größten Kostbarkeit an dieser Straße, dem Alten Jüdischen Friedhof, und hätte ich davon gewusst, so hätte er mich nicht interessiert, als ich ein Kind war. Krieg und Kriegsverbrechen und Juden und Liebe und Sex und Wissenschaft, das alles waren Begriffe, Empfindungs- und Denkwelten, die in meiner Familie bei ihren Redereien nicht vorkamen.
Von der Schönhauser Allee hätte ich nur eines gerne gewusst: wo sie denn in der Innenstadt ihren Anfang nahm. Ja, doch: Anfänge, Gründe, Ursachen interessierten mich, seit zwischen mich und meine Zukunft die Rede gestellt worden war, den Anfängen sei zu wehren. Aber ich studierte den etwas verworrenen Ursprung der Schönhauser Allee nur auf dem Stadtplan, der Berlin in der Tasche hieß. Sie geht vom Hackeschen Markt aus, wobei es stadtauswärts seltsamerweise erst die Neue und dann die Alte Schönhauser Straße gibt. Einen Reitweg von Schloss Charlottenburg nach Schloss Niederschönhausen, wohin Friedrich II. seine ungeliebte Gemahlin verbannt hatte, hat es schon seit wenigstens 250 Jahren gegeben, wahrscheinlich viel länger, und davon war meine Straße ein Teil.
Hajo wusste schon in seinem ersten Berliner Jahr mehr über seine neue Stadt als ich. Er war nicht nur die Kuglerstraße bis an ihr Ende bzw. bis an ihren Anfang gegangen, sondern er ging später, da wohnte ich schon nicht mehr dort, systematisch die Straßen ab, mit alten und neuen Stadtplänen, so wie er sie antiquarisch bekommen konnte, las Stadtgeschichte und Stadtentwicklung. Er verstand sich als eine Art Heimatvertriebenen, immer, aber er machte sich die Stadt, in die man ihn verpflanzt hatte, zu eigen auf die einzige Weise, die auch mir möglich ist: über ihre Geschichte.

Zurück in der Wohnung, erzählte Hajo seine Geschichte weiter. Wir saßen auf der Couch im Wohnzimmer, brav nebeneinander zuerst. Was war geschehen, seit sie zu fünft dort gelebt hatten, Eltern und zwei Söhne und die Berliner Großmutter, für die der Umzug aus Mecklenburg ja eine Rückkehr in die Heimat war? Jetzt schien es so zu sein, als lebte Hajo allein in der großen Wohnung.
"Du kennst, was 1952 bis 1954 gewesen ist", fuhr Hajo fort und nahm nun meine rechte Hand in seine linke. "Sicher erinnerst du dich auch daran, dass meine ganze Familie als Angehörige eines hohen Funktionärs, der selber ein so genannter 'Reisekader' war, also auch ins westliche Ausland zu Tagungen fahren durfte, dass wir uns also alle unterschriftlich verpflichten mussten, Westberlin nicht zu betreten, nicht dorthin zu telefonieren, nicht einmal dorthin zu schreiben. Anfangs haben wir darüber gespottet, dass unser Staat, der sich den 'fortschrittlichsten' dünkte, den es je auf deutschem Boden gab, gerade seine ergebensten Funktionäre am meisten kujonierte. Auch eben meinen Vater, den gewendeten Nazi. Deshalb durfte zumindest er von uns beiden nichts wissen, weil dein Vater und deine Tante im Westen arbeiteten, und deine Familie durfte von uns nichts wissen, weil sie schon eine Freundschaft zwischen einem Jungen und ihrer Tochter als einen Angriff auf die Jungfräulichkeit des Mädchens angesehen hätten. Wir haben die Heimlichkeit unserer Treffen bewahren können, das ist ungeheuer, fast nicht glaublich. Aber wir waren immer ausgesetzt, beargwöhnt vielleicht (hat Stephan gesagt, der als einziger eingeweiht war), immer aushäusig, wenn wir uns trafen, immer auf der Hut, es möge nicht jemand uns sehen und verraten. Mir schien es damals so, als hätte das Schicksal oder wer oder was uns beide füreinander gemacht, und dann hätte irgendwer anders dazwischen gefunkt und verfügt: Aber sie sollen nicht miteinander erwachsen werden und leben. Und darum war es gut, dass du in den Westen gingst, wo ich dich nicht besuchen durfte und es auch um meines Vaters willen nie gewagt habe, und es war klug, o, weit über unser Alter hinaus klug, 15 und 16 waren wir da, dass wir uns, wenn auch nicht sofort, jedes Wiedersehen verboten haben. Es war ein Jahr nach deinem Umzug ungefähr, nicht? Zunächst haben wir uns ja wiedergesehen. Du kamst zu mir. Aber es war alles so aussichtslos, was wir uns für die Zukunft vorstellen konnten. Wir haben es ja damals durchgeredet, wieder und wieder".
"Aber noch 2 ½ Jahre lang, das weißt du, musste ich meine Großmutter und Tante im selben Haus besuchen, exakt alle 14 Tage nachmittags um ½ 5 am Donnerstag. Und anfangs jeden anderen Donnerstag ging ich, noch in der Kuglerstraße, zu einem Kreis der Jungen Gemeinde. Das behauptete ich jedenfalls. Statt dessen trat ich dann von der Hintertür der Kugler hinaus auf den Hof mit seinen S-Bahn-gelben geriffelten Klinkern, in deren Mitte sich der 'Garten' mit der Pappel befand, von dem das 'Gartenhaus' seinen Namen bezog, aber nicht so weit, dass mich die Großmutter von ihrem Küchenfenster aus hätte sehen können. Es war dieselbe Sorge wie bei meinen Besuchen bei Johanna Brander im Hinterhaus, wo sie vor unserer Zeit wohnte. Aber das ist eine andere Geschichte, eine traurige und schöne. Dein Fenster konnte ich sehen, und du sahst schon nach mir aus, kamst dann herunter zur Hintertür der Schönhauser 89, und dorthin rannte ich dann außen herum auch, obwohl es quer über den Hof ja viel schneller gewesen wäre, und jeder für sich gingen wir ein Stück die Wisbyer entlang. Dort erst nahmen wir uns in die Arme und küssten uns. Niemals aber waren wir entspannt. Mehr als eineinhalb Stunden hatten wir nicht. So würde das nicht lange gut gehen, das merkten wir nach wenigen Malen.
Aber wir haben einen langen Umweg gemacht. Doch Lebens-Erzählungen sind wohl so. - Lebst du also allein in der großen Wohnung, und was geschah bis heute?"
"Lebe ich allein hier? Nein und ja. Aber lieber nur eine Kurzfassung von dem, was bis dahin geschah. Ich will es jedenfalls versuchen.
Unsere Großmutter Mahn starb 1960 mit 75 Jahren. Sie hatte es genossen, wieder in Berlin zu leben. Sie war ganz und gar rege und beweglich, fuhr hierhin und dorthin. Sie wurde von einem Auto überfahren, als sie noch schnell die Straßenbahn nach Pankow erreichen wollte und nicht auf den Verkehr achtete. Es gab noch nicht die Vorschrift für Autos, dass sie halten mussten, wenn eine Straßenbahn hielt.
Stephan machte 1955 Abitur und studierte Archivwissenschaften. Wohl überlegt war das, ein Rückzug in Vergangenheiten mit anderen Problemen, als die gegenwärtigen waren. Eigentlich hatte er mal Jura studieren wollen. Aber sag selbst: Jura im Unrechtsstaat? Und dann faszinierten ihn die Archive. In diesem Umkreis lernte er Susanne kennen, sie heirateten 1961, da war er also 24, man hat ja früh geheiratet in der Ex-DDR, es war so eine Art Eskapismus in die Privatsphäre wie das Archiv eine Flucht aus dem real existierenden, nicht funktionierenden Sozialismus war. Kinder bekamen sie 1961 und 1963, durch sie war die Wohnung ein paar Jahre voller quirligem Leben. Stephan und Susanne, Sabine und ich, zwei junge Paare und die Eltern - wir glaubten, das könne gelingen, eine Familien-WG. So haben wir sie auch genannt. Dass unser Vater meistens nicht da war, war uns dabei angenehm; Lehrgänge, Tagungen, zwei Jahre in der Sowjetunion; er fand dort eine andere Frau, lebte nach der Rückkehr bei ihr. Der Mutter war es eine Erleichterung. Eigentlich ging es nur ohne ihn. Dann wurde Stephan nach Merseburg versetzt, ans Zentralarchiv der DDR, das war wohl '66. Es war ein Aufstieg, aber diese Stadt, grau im braunen Kohlenstaub, war schwer zu ertragen. Sie blieben trotzdem dort 21 Jahre, bis '87, da waren die Kinder schon aus dem Haus, und Stephan war 50. Er wurde versetzt nach Rudolstadt, und mindestens oben auf dem Schloss, wo das Archiv ist, war die Luft etwas freier, und der Thüringer Wald ist nah. Da in Rudolstadt sind sie noch, Stephan und Susanne. Ja, sie sind zusammen geblieben. Es ist ja nie selbstverständlich, dass Liebe dauert oder sich in eine wechselseitige Achtung oder Freundschaft verwandelt, aus der sie in verwandelter Form vielleicht sogar wieder zur Liebe werden kann. Du lächelst - kluge Worte, nicht? Sind aber wahr, glaube ich.
Ich hab' das anders erlebt. Sabine hat zunächst nicht dauernd hier gewohnt, das wäre zu eng geworden. Sie zog dann zu mir, als die Stephans wegzogen, ins Exil, wie sie immer sagten. Wir haben sogar geheiratet, unnützerweise. Wir hatten nun viel Platz, mit uns lebte eine Weile nur noch die Mutter, dann ein befreundetes Paar. Wir brauchten die Miete. Ich studierte noch, wie ich immer gewollt hatte: Stadtentwicklung und Architektur mit dem Schwerpunkt Modernisierung von Altbauten. Das mache ich noch, wie du ja gesehen hast. Es hat mir ermöglicht, in Berlin zu bleiben. Sabine war's nicht glänzend genug. Mit uns wurde es nichts für dauernd, sie verschwand beinahe unauffällig. Die Mutter zog zu einem Freund, dabei hätte ja auch der Freund hierher ziehen können. Aber diese Wohnung hat auch für meine Mutter nicht viel Freude enthalten. Da wollte sie sicher weg. Ich saß tatsächlich allein hier. In ganzem Ernst hab' ich mir überlegt, allein zu bleiben, in einer anderen Wohnung, aber in Berlin. Ich hatte so eine Art mönchischen Hang entwickelt, einen Hang zu beidem, zum Zölibat und überhaupt zum einfachen Leben. Die Wohnung wollte ich aufgeben, das war, lass mich überlegen, 1971. Da traf mich Christiane. So muss ich es wirklich sagen. Sie traf mich, soll heißen, sie bemerkte mich, einfach hier in unserer klapperigen U-Bahn, sie machte auf sich aufmerksam, und den, der gerade noch der Idee vom Zölibat nachhing, überwältigte ihre Schönheit. Sie zog hier ein, noch im selben Jahr, besetzte mich und die Wohnung und fesselte mich mit drei Kindern, geboren '72, '73, '74, die sie in den Hort ihres Labors mitnahm. Sie war Biologin, ihr Forschungsschwerpunkt war Krebsentstehung, ihr Lebensmittelpunkt auch. Auf der Höhe der Zeit war das Projekt nie gewesen, das hatte sie immer gesagt, aber zulängliche Mittel gab es nicht, das hatte sie auch immer gesagt, und es war eben damals das für sie gewesen, was zu haben war. - Ich hätte nicht noch einmal heiraten sollen.
Bald nachdem die Mauer durchlässig geworden war, als es absehbar war, dass sie ihr Projekt würde aufgeben müssen, suchte sie sich einen Job als Pharmavertreterin im Westen, also sobald es ging. Anfangs fuhr sie die Strecke Frankfurt-Berlin freitags mittags her und sonntags abends oder montags sehr früh zurück, eher, um die Kinder zu sehen als meinetwegen. Aber die Kinder waren 1990 19, 18 und 17, keine Hortkinder mehr. Die Älteste ging, sobald es möglich war, zur Fortsetzung ihres Studiums fast so weit weg, wie es möglich war, nach Freiburg ("Ich will nicht warten, bis der Westen hierher kommt."), die beiden Jüngeren, die Söhne, machten das Abitur und gingen auch in die lockenden Städte des Westens, nach München, nach Stuttgart. Der 'Volksarmee' waren sie entronnen, den Dienst bei der Bundeswehr verweigerten sie. Sie hatten ein rasendes Bedürfnis nach Leben. Verdenken kann ich's ihnen nicht.
Ich aber mache weiter, was ich immer gemacht habe. Einerseits ist mir der Westen zu schnell. Dann will ich beobachten, was sich hier verändert, wo den meisten Leuten ihre Biographien weggerutscht sind. Viele sprachen von 40 verlorenen Jahren. Anfangs nach der 'Wende' gab's hier in der Schönhauser einen Laden, der verkaufte Ostprodukte zu Schleuderpreisen. Keiner wollte die mehr haben. Das wird schon wieder anders, glaube ich. Die Leute haben ihre Biographien wieder zusammengesetzt, nicht ohne Lügen, scheint mir. Die, die jetzt um die 70 sind, haben's zweimal machen müssen, sich ihr Leben neu erfinden.
Die Kinder kommen zu mir, ich fahre zu ihnen. Es hat heiße Debatten mit ihnen gegeben, warum ich hier bleibe. Christiane kommt manchmal, lebt einige Tage hier, aber eigentlich nicht mit mir. Diese Wohnung ist inzwischen nur noch ihr Standquartier, wenn sie ihre Eltern besucht und die Freunde, die noch da sind. Viele sind es nicht mehr. Sie sagt sich immer vorher an. Also du siehst: Ich lebe hier alleine, mehr ja als nein. Geschieden sind wir nicht, aber verbunden auch nicht, und dass sich das bei uns noch ändern wird, sehe ich nicht. Oder nur dann, wenn Christiane nochmals heiraten möchte, also nur in Richtung auf Trennung. Sie ist ja erst 47, wird offenbar umschwärmt, wenn sie nicht übertreibt, aber sie möchte wohl ihre Freiheit behalten, die ich ihr nicht nehme. Warum sie mich mal hat haben wollen, die Schöne den Unscheinbaren, das weiß ich nicht. Wollte sie eher die Kinder als mich und sicher sein, halbwegs jedenfalls, dass ich ihr die nicht zum Alleinerziehen überließe? Ich weiß es nicht und habe aufgehört, danach zu fragen. Nur die Wohnung, die ist nun zu groß für mich allein. Ich suche eine kleinere. Im Osten. Aber im Grünen, endlich wieder im Grünen. In der Nähe vom Müggelsee zum Beispiel. Damit ich wieder schwimmen kann."

Es war schon weit nach Mitternacht. Aber wir vermochten nicht aufzuhören mit unseren wechselseitigen Lebensnachfragen.
"Hajo, warum haben wir als Kinder dich 'Halop' genannt? Was ich noch weiß, so allgemein, das ist: Wir gingen nicht in unsere Wohnungen, wenn wir draußen spielten, aber Hunger bekamen. Wir riefen unsere Mütter, sie sollten mal 'ne Stulle runterwerfen. Jedenfalls deine und meine haben also nicht gearbeitet, oder deine Großmutter hat die Stulle runtergeworfen. Und da hast du immer gerufen: "Halop!", und dann kam die Stulle. Also wir haben dich 'Halop' genannt, weil du so gerufen hast, statt 'hallo' oder 'Mama' oder sonst wie. Aber warum hast du so gerufen?'
"Das ist einfach Kindersprache vom Land. Wir sind zwar in Potsdam geboren, Stephan und ich, aber lebten seit 1943 bei der anderen Großmutter in Mirow, evakuiert. Und waren auch vorher oft zu Besuch da. Es gab natürlich Pferde auf den Bauernhöfen, und wir lernten alle reiten. Also auch Galopp. Anfangs habe ich zugesehen, war ja ein kleiner Kerl. Als ich sprechen lernte, machte ich aus 'Galopp' 'Halop', auf der zweiten Silbe betont. Und weil ich 'Hajo' gerufen wurde, hieß es dann oft 'Halop', und so nannte ich mich auch selbst. 'Mama' zu rufen, fand ich unpassend. Was ging's die Großstadtkinder an, wie ich meine Mutter nannte. Sie haben mich deshalb für ein bisschen plemplem gehalten, oder so. Das war mir aber egal. Ich kannte ja dich, und du fandest mich nicht so." Und er streichelte mit zwei Fingern seiner rechten Hand meinen rechten Unterarm hinab wie damals, als es in unseren Anfängen die Geste der Begrüßung geworden war. Unsere Hände blieben beieinander.
"1952 saßest du in Berlin fest, in den Sommerferien, mit der Depression, der dann eine Erkältung zu Hilfe kam. Wann bist du wieder in Mirow gewesen? Denn im folgenden Jahr warst du an der Ostsee, nach dem 17. Juni, glaube ich, also als klar war, dass die sowjetischen Truppen den Aufstand zerschlagen hatten. Und dann, im Sommer darauf, '54, da war ich ja schon im Westen und kam ich zu dir über die Grenze. Du weißt ja, wir wollten uns sehen, aber wir erstickten wir fast an der Angst, wir würden bemerkt werden. Warst du auch in dem Jahr nicht in Mirow?"
"Ich war einmal ein Jahr nach unserem Umzug dort, auf der Rückreise von der Ostsee, also 1953, danach lange nicht mehr, oder nur mal einen Tag, um die Großmutter Maier zu besuchen. Da fühlte ich mich dann immer wie ein Verstoßener und zeigte mich möglichst nicht auf der Dorfstraße. Und wenn doch, riefen die Jugendlichen mir Höhnisches nach, das in Wahrheit Neidisches gewesen sein muss, aber das konnte ich noch nicht erkennen. Jahrelang habe ich geglaubt, also noch drei, vier Jahre lang, das Heimweh würde über mir zusammenschlagen, wenn ich an die Kindheitsorte zurückkehrte. Als ich es dann tat, mit 17 und kein Kind mehr, habe ich begriffen: Die Kindheit kann man nicht zurück holen. Einiges bleibt in der Erinnerung bewahrt, vieles vergisst man. Die Seen, wo wir im Sommer gebadet haben, im Winter Schlittschuh gelaufen sind, die sind noch da, die Badeplätze auch. Es steht vielleicht eine Bank da oder nicht mehr da. Ich kann schwimmen gehen dort, wenn ich will, aber nur in der Gegenwart. Man steigt auch niemals in denselben See. Mit solcher Einsicht war dann das Heimweh wirklich überwunden. Man muss einen übergeordneten Gedanken finden, dann lernt man ertragen, was zuerst unerträglich schien. Du siehst, ich bin so langsam in meinen Erkenntnissen, wie du das wohl immer vermutet hast. - Bei dir war es anders, nicht?"
"Ja. Ich zog ja nicht vom Land in die Stadt, deren Lärm ich nicht kannte, sondern von Ost nach West und dort in einen Vorort, Mariendorf, wo es damals ganz still war. Autos gab es wenige. Die Straßenbahn nach Lichtenrade, wo meine Schule war, oder in der anderen Richtung zum Mehringplatz, dem Rondeel im 18. Jahrhundert, in dem die südliche Friedrichstadt endet und auch die Friedrichstraße und die Wilhelmstraße und die Lindenstraße enden oder anfangen, die Straßenbahn 99 also war fünf Minuten weg. Tauernallee hieß meine Haltestelle. Übrigens wohnte ich in Mariendorf ebenso in der Nähe der Fernstraße bzw. Bundesstraße 96 wie an der Schönhauser, nur wusste ich es damals nicht. Auch nicht, dass die Friedrichstraße, mir doch wenigstens als Name bekannt, einen Westteil hatte. Ich fuhr immer nur bis zur Amerika-Gedenkbibliothek am Halleschen Tor.
Von dem geplanten Umzug, denn es war wirklich einer, mit allen Möbeln, keine Flucht, hörte ich von den Eltern sechs Wochen vorher. Wie du wollte ich es erst nicht wahr haben. Die Welt verlassen, in der ich bisher gelebt hatte, wie sollte denn das gehen? Aber anders als für dich Berlin war für mich der Westen von Berlin nicht schrecklich und ja auch nicht unbekannt. Ich begann mich zu freuen und sogar stolz zu sein. Ich war es, die die Listen schrieb, in denen das Umzugsgut deklariert wurde, bis zur Stecknadelschachtel, und die Bücher einzeln. Ich freute mich darauf, dass die neue Schule ein Gymnasium sein würde, das allerdings steif und weniger glanzvoll damals Oberschule wissenschaftlichen Zweiges hieß. Vor meinen Mitkonfirmandinnen, die ich noch dreimal vor der Konfirmation sah, gab ich schrecklich an damit, dass mein neuer Klassenlehrer Dr. Schollmeyer hieß, dass ich nun Englisch und Französisch lernte, dass ich nun Fahrschülerin war. Und als ich mein Zeugnis in der Scherenbergschule abholte, mit der neuen Rindledermappe, die ich zur Konfirmation geschenkt bekommen hatte, war ich so richtig dumm-stolz, als mir Frau Woltmann, meine frühere Geschichtslehrerin, im Vertrauen sagte, die Zulassung zur Oberschule hätte ich natürlich nicht bekommen, trotz meines Einser-Zeugnisses und der alljährlichen Medaille Für gutes Lernen in der Schule. Schweinezüchterin hätte ich werden sollen! Als sei diese Nicht-Zulassung ein Verdienst. Was hätte denn ich gemacht, mit 14 auf dem Dorf? Ich habe das nie gedacht als etwas, das ernsthaft mich hätte betreffen können.
Warum zog mein Vater mit uns um? Die Deutsche Bank, bei der er seit 1952 wieder arbeitete, Berliner Disconto Bank, verlangte es wohl aus Sicherheitsgründen. Er behauptete, immer wieder von "den Russen" verhört zu werden. Warum ließen sie ihn aber dann aber ebenso immer wieder frei? Wonach fragten sie ihn? Leistete er Spitzeldienste oder sollte das? Warum erlaubte man uns den Umzug? Sollte er im Westen spitzeln? Ich weiß es bis heute nicht. Erst in den letzten Jahren habe ich über meine Familie soviel nachzudenken gewagt, dass Fragen daraus entstanden sind. Aber nun lebt niemand mehr, dem ich sie stellen kann.
Nein, mein Ortswechsel innerhalb Berlins war für mich einer auf die richtige Seite, in die richtige Schule, zur richtigen Politik, zum richtigen Geld, dem westlichen, weg vom östlichen Blechgeld. Das erste, was ich mir am neuen Ort kaufte, war eine Tafel Schokolade. Ich weiß noch, dass ich sie bezahlte mit dem Gefühl: das ist jetzt für alle Zeit dein Geld. Sehr materialistisch, nicht? Ich hatte auch keine Probleme damit, in die alte Gegend zu fahren, was die Gegend anging. Es war meine gewesen, und nun hatte ich eine bessere. Du aber fehltest mir! Zwar haben wir uns ja noch ein Jahr lang gesehen, aber in größer werdenden Abständen, und es wurde immer trauriger."
"Ursa, du weißt es doch, dass auch ich daran gelitten habe. Aber wie ging der Anfang weiter? Dort auf der Bank in der Wisbyer Straße, von der du erzählt hast? Denn ich habe mich bis eben nur an die im Schaufenster erinnert und dass wir von dort aus zusammen weggingen."
"Ich weiß es gut, Hajo. Denn ich saß neben dir mit heftig klopfendem Herzen. Ob du wohl sagen würdest, dass wir uns noch mal treffen sollten? Anders als im Jahr zuvor den Dietrich Rausch wollte ich dich unbedingt wiedersehen, aber ebenso unbedingt war es in meinem Kopf, dass nur du das sagen konntest, du, der Junge, nicht ich, das Mädchen. Anders als heute durfte ein Mädchen es nicht zu erkennen geben, dass es einen Jungen mochte. Das war ja noch eine ganze Weile so. Niemand hatte mir das gesagt, aber vermutlich war es aus Bemerkungen von Erwachsenen zu entnehmen gewesen, es war einfach so, es gehörte sich nicht, und das musste nicht einmal ausgesprochen sein. Und es gehört ja überhaupt zum Erschreckendsten beim Erwachsenwerden, was das unausgesprochene 'man tut, man tut nicht' in einem anrichtet, eben weil es unausgesprochen bleibt und deshalb vom Unterbewusstsein aus wirkt. Und darum war es lange nicht zu ändern, denn es war ja nicht zu greifen. Wahrscheinlich stand auch in den Mädchenbüchern, die ich las, so was dazu drin, was sich gehörte, was nicht. Also ich wartete unruhig, aufgeregt darauf, dass du es sagtest, wir sollten uns wiedersehen, so etwa, oder fragen würdest, ob. Und dann hast du es ganz unaufgeregt ungefähr so gefragt: 'Wann treffen wir uns nun wieder und wo?' Und tipptest dazu mit einem Finger deiner Hand auf meine. Nein, gestreichelt hast du nicht, aber getippt eine ganze Weile. Und da war ich noch weiter aufgeregt, aber jetzt mit einem Gefühl, das mir noch ganz unbekannt war. Ich kannte das Lebensgefühl der Tochter, der Enkelin, der Schülerin, der Freundin, viel mehr Rollen gab's ja nicht, die der Konfirmandin noch, und in allen war ich abhängig. Dies war das ganz und gar neue Gefühl, einem Jungen nicht gleichgültig zu sein, der mir auch nicht gleichgültig war, von ihm wissen zu wollen, ihm erzählen zu dürfen, sehnsüchtig nach seinen Berührungen zu sein, künftig vielleicht zu ihm zu gehören. Das Leben ist sehr viel dürftiger, wenn es keinen solchen Menschen gibt. Das empfand ich damals zum erstenmal, halb kindlich noch, das ist wahr. Man glaubt ja, dass solche erste - Verliebtheit, ja, das war das Gefühl -, weil sie so neu ist, so ganz anders als alles, was man bisher kannte, nun dazu kommt zu dem, was man kennt, dazu kommt und bleibt. Anfangs meint man das entgegen allem, was man schon als Kind um sich herum sieht, ich am deutlichsten bei meinen eigenen Eltern mit ihrer Sprachlosigkeit. Aber auch wir beide haben lernen müssen, wie alle Menschen, dass zu Verliebtheit und Liebe nicht auch die Dauer gehört. Dazu sind sie von der Natur nicht vorgesehen, längst scheint mir das so, und nur wenigen Paaren gelingt die erfüllte Liebe über Jahrzehnte. Und die kann nie dieselbe bleiben. Sie muss sich ändern, wenn Kinder geboren werden, und muss sich wieder ändern, wenn die in ein eigenes Leben gehen. Und das ist nur möglich, wenn es geistige Substanz zwischen den Liebenden gibt, wenn ein immer erneuertes Gespräch zwischen ihnen möglich ist. Die Politik hat uns getrennt, ehe wir einen gemeinsamen Lebensversuch hätten machen können.
Entschuldige das Raisonnement über die Liebe. Du hast es ja eben ziemlich ähnlich schon gesagt. Wir sind nicht mehr jung. Und deshalb haben sich um die Erinnerung an den Anfang die Erinnerungen aus mehreren Jahrzehnten gelegt und haben sie verändert. Und erscheinen eben jetzt als solche Gedanken.
'Wann treffen wir uns wieder? Und wo?' Damit waren von Anfang an Probleme verbunden, eigentlich sogar eine Art von Logistik des Sich-Unsichtbar-machens. Als du das fragtest, saßen wir nämlich auf einer Bank genau vor einem kleinen Milchgeschäft, das der Mutter meiner Klassenkameradin Marianne Wolfert gehörte. Und da ich sie manchmal nach Hause begleitete und wir durch den Laden gingen, um in die sich daran anschließende kleine Wohnung zu gelangen, die Mutter und Tochter bewohnten, kriegsbedingt eine Rest-Familie, kannte mich auch die Mutter. Die äugte wohl nicht aus ihrem Ladenfenster, um zu sehen, wer denn da auf der Bank saß, und Marianne hockte wohl nachmittags meist in ihrem halben Zimmer und las. Aber trotzdem: Marianne konnte beispielsweise einfach herauskommen, um zum Briefkasten zu gehen, und uns sehen. Ihre Mutter konnte ein wenig vor dem Laden auf und ab gehen und uns sehen. Beide hätten sicherlich nicht getratscht, aber sie hätten sich einfach irgendwann verplaudern können. Also dort vorne in der Wisbyer konnten wir uns künftig schon mal nicht treffen. So ein wenig weiter in Richtung Weißensee, mit der Kirchenfassade im Rücken, das mochte manchmal gehen.
Zuerst getroffen hatten wir uns ja am Ende deines ersten Rundgangs in der für dich neuen, lauten, grauen Gegend. Schon da warst du weiter gegangen als ich je. Es war klar, dass wir künftig zusammen erkunden würden, wohin man dich verbracht hatte gegen deinen Willen, als abhängigen Sohn. Du sehntest dich nach Grünem, aber es war kaum welches da. Die viereckigen Plätze hattest du wohl schon gefunden, den Humannplatz auf der einen, den Arnimplatz auf der anderen Seite der Schönhauser Allee, dann Richtung Pankow den Andreas-Hofer-Platz gleich bei der Straße Esplanade, die noch nicht gepflastert war, wo es Kleingarten-Kolonien gab und ja noch immer gibt und noch kein Botschaftsviertel. Es gab tiefe Bombentrichter, vor denen wir Kinder eindringlich gewarnt wurden: Nicht etwa am Rand hinsetzen, denn das Erdreich könnte ins Rutschen kommen, das Kind mit in die Tiefe reißen und dort begraben. Diese Plätze kannte ich zumindest ihren Namen nach. Auf dem Humannplatz waren Fotos von mir als Einjähriger entstanden mit der Familie und meinem Vater in Uniform auf kurzem Urlaub. Ich bin gerade dort gewesen, bevor Karlchen mich auf der Baustelle anhielt. Der Platz sieht schäbig aus und hat wohl seit meiner Kleinstkinderzeit noch niemals anders ausgesehen. Als wir 12 und 13 waren, hatte ich begonnen, auch in der Esplanade spazieren zu gehen, mit 11 schon. Die kannte ich also. Alles andere war vom Kinderkiez zu weit weg."
"Die Plätze und alles andere sonst habe ich allein entdecken müssen. Was meine Berliner Selbsttherapie war, hielt meine Familie für Berlin-Begeisterung, und als Maß dieser angeblichen Begeisterung galt ihr, wie lange ich wegblieb oder wie weit ich von unserem Haus aus in die Ferne vorgedrungen war. Immerhin wurde ich danach gefragt. Mutter und Großmutter haben gefragt, und wohl wirklich aus Interesse. Geld für Verkehrsmittel oder Eintrittsgeld für Schwimmbäder oder Museen war kein Problem. Dabei mied ich Hallenbäder, weil sie so nach Chlor stinken, und sonst blieb nur das Freibad im Weißensee. Weißt du noch: da wollte ich dir das Schwimmen beibringen, nachdem du's ja in diesem Chlorpalast in der Oderberger nicht gelernt hattest. Du hättest das so gerne gewollt, aber dahin zogen ja im Sommer die Mädchen aus deiner Klasse mit den vereinigten Völkerball-Jungs. Wir hätten da nicht einmal nebeneinander auf dem Rasen liegen können. Die hätten sich allesamt darüber das Maul zerrissen, und irgendwie wär' das ganz schnell an deine und meine Eltern gelangt.
Ach, Ursa, ja, wir haben uns von Anfang an verstecken müssen. Einfach und unbefangen, fröhlich und leicht war es nie mit uns. Deine Eltern sahen in jedem Jungen, der sich dir näherte oder genähert hätte, eine Gefahr. Schon Dietrich, der wirklich ein kluger junger Mann wurde, ich habe ihn ja später kennen gelernt, hätte dir ja 'was tun' können. Sie hingen so entsetzlich in uralten Vorstellungen und Ängsten. Und meine, die hingen in neuen Vorstellungen, denen vom Sozialismus, meine Mutter als eine dieser naiven Idealistinnen wie Brigitte Reimann oder Maxie Wander, und mein Vater, das hast du anfangs nicht verstehen können, als einer, der sich in die neue Ideologie stürzte, um seine Verstrickung in die alte vergessen zu machen. Und deshalb mussten wir beim Umzug nach Berlin, als er Abteilungsleiter im Ministerium für Volksbildung wurde, alle diese dämlichen Selbstverpflichtungen abgeben. Dieses Misstrauen des Staates, das weißt du, hat mich politisch aufmerksam und kritisch gemacht. Ich erinnere mich noch an deine Verblüffung, als dir klar wurde, dass wir ja nie zusammen über die Bornholmer Brücke würden gehen dürfen und wie wir am 18. oder 19. Juni 1953, als sich amerikanische und sowjetische Panzer gegenüberstanden, voll hilfloser Wut auch dort standen und stumm auf die Szenerie sahen. Da konnten wir uns zufällig getroffen haben. Meine Eltern hätten sich über eine Freundin von mir gefreut, aber sie hätte natürlich linientreu sein müssen und nicht eine, deren Vater im Westen bei der Deutschen Bank arbeitete. Deshalb mussten wir jeder den anderen vor der eigenen Familie verstecken.
Ich machte meine Erkundungsgänge. Die waren eine Generalerklärung für fast alle Abwesenheiten. Denn zu den Jungen Pionieren musste ich natürlich, die hießen dann bald Thälmann-Pioniere, und zu ihren schwachsinnigen Schulungsabenden und Zeltlagern. Aber ich konnte mich auch drücken. Auch du musstest unsere gemeinsame Zeit erlügen. Angeblich wolltest du nun endlich die Gegend kennen lernen, in der du schon so lange wohntest, sagtest du deiner argwöhnischen Familie, und zogst mit deinem alten Stadtplan los. Du gingst nicht mehr zur Jungen Gemeinde, das schenkte uns aber nur wenig mehr als zwei Stunden. Und du machtest ein Mädchen aus dieser Gruppe zur engen Freundin, das weit genug weg wohnte, in der Isländischen Straße. Den Namen der Straße weiß ich noch, weil ich ihn so schrecklich eiskalt fand. Und wie hieß die Freundin?"
"Silvia. Sie war natürlich eingeweiht, und manchmal besuchte ich sie wirklich. Gar zu oft konnte ich nicht angeblich zu ihr gegangen sein, aber wenn, dann doch drei bis vier Stunden. Oder ich konnte, auch gelogen, irgendeine Veranstaltung der Konfirmandengruppen mit vorbereiten, z.B. Lesungen in einem Gottesdienst. Meine Eltern gingen niemals dorthin, und da sie ja keine anderen Menschen kannten, war da keine Gefahr, dass sie etwas erfuhren.
Alle Ausreden und Lügen damals fand ich berechtigt und notwendig, so wie die Konstellationen in unseren Familien nun einmal waren, und finde das noch, obwohl manche Leute mir inzwischen so einen Aufrichtigkeitsfimmel nachsagen. Und doch: Indem wir so gelogen haben, wie es jeweils am besten passte, also am glaubhaftesten war, haben wir wider Willen uns eigentlich doch ihren Wertmaßstäben unterworfen. Wir verstanden schon viel, wir begannen die Liebe zu entdecken, aber zugleich waren wir noch abhängige Kinder, die eben nicht nach ihren Wünschen zusammen sein konnten. Und das Entdecken selbst, Hajo, das machte uns wohl Spaß, allein und zusammen. Es zeigte uns aber auch, und je mehr der Herbst und dann der Winter kamen, um so mehr, dass wir ausgesperrt waren von jeder äußerlichen Wärme, dass wir immer wachsam bleiben mussten, um nicht erkannt zu werden.
Der Berliner S-Bahn-Ring war 1877 fertig, das war sehr eindrucksvoll zu wissen, so früh. Aber wir konnten 1952, '53, '54 niemals zusammen damit fahren, um uns vor Kälte, Regen und Schnee zu schützen, denn du durftest den Ostsektor, wie wir beharrlich sagten, nicht verlassen. Für uns wurde da nichts rund. Schön war's noch gegen Sommerende, da war hinten in der Esplanade ein großer Baum, mindestens 100 Jahre alt, dessen Wurzeln ragten hoch aus der Erde, und zwischen zweien solcher Wurzeln konnten wir einigermaßen sorglos sitzen. Da hast du zuerst meine Hand genommen und hast sie gestreichelt, und dann meine Wange, hast sie immer wieder gestreichelt, bis ich es fast nicht mehr aushielt und mich getraut habe, sie an meine Brüste zu führen. Die waren noch nicht sehr eindrucksvoll, noch Kinderbrüstchen, aber ihre Sehnsucht nach deiner Hand war da, und das hattest du ja auch erreichen wollen. Weißt du's noch?"
"Ursa, ja, natürlich. Über deine Kinderbluse habe ich zuerst gestreichelt, scheu und schnell. Mehr wagte ich nicht, wagte auch nicht, deiner Hand zu zeigen, was an mir sich regte. Aber das war schön, bei aller Scheu. Denn das wenigstens war ja nicht von außen bestimmt, sondern nur von uns selbst. Und als wir beim nächsten Mal in unseren Buchenholzsessel gekuschelt waren, da habe ich dir die Bluse aufgeknöpft und dich zwischen meine Beine gezogen, wie man auf einem Schlitten hintereinander sitzt, und mit jeder Hand habe ich eine deiner kleinen Brüste gehalten. Sieh, so."
Und er schob mich von der Couch herunter auf den Fußboden zwischen seine gegrätschten Beine, zog mir das T-Shirt aus und umfasste meine Brüste fest und küsste meinen Nacken wieder und wieder.
"Was hatte ich für Sehnsucht damals", sagte Hajo, "dich überall zu streicheln, ganz nackt mit dir zu sein, in dich einzudringen. Sehnsüchte, die eigentlich ein Junge von dreizehn mit sich allein abmacht, die ein Mädchen von zwölf nicht erfüllt. Wir waren wirklich ein seltsames Pärchen. So jung, ich noch mit letzten Wellen meiner Abschiedsdepression kämpfend, aber sehr begehrlich seit den ersten erotischen Träumen, den ersten unfreiwilligen Ergüssen. Und du aus diesem verbietenden Elternhaus, aber so voller ganz natürlicher Begabung für Zärtlichkeit.
Zwar küssen konnten wir uns in der früh kommenden Dunkelheit des späten Herbstes auf Bänken auf einem der kleinen Plätze um uns herum. Wir entdeckten, dass der Kuss der Liebe ein anderer ist als der Kinderkuss, den wir Müttern und Großmüttern verpassten, ehe wir in dieser Zeit damit aufhörten. Dies Eindringen ineinander war nur ein Vorschein von dem, was wir eigentlich meinten und wollten und wonach wir uns sehnten. Über deinem Mantel streichelte ich deine kleinen Brüste, die kaum zu spüren waren. Du streicheltest mein Gesicht, unaufhörlich, und du hattest eine lüsterne kleine Zunge, mit der du alle Linien darin nachzogst. Da tastete sich meine Hand durch Mantel und Strickjacke und Bluse und Hemd bis auf deine nackte Haut und später dann, o wie unbeschreiblich aufregend war das, bis hinunter zu deiner Scheide, die feucht war, die tropfte, so dass ich zuerst fürchtete, du würdest bluten. - Und jetzt? Lass mich fühlen, ob du mich haben willst."
Hajo öffnete meine Hose, aber benutzte zuerst die harte Naht der Jeans, um mich zu reizen, und ehe er auch nur mit seiner Hand meine Feuchtigkeit fühlen konnte, jubelte ich in einem schnell aufgeblühten Orgasmus. Aber wir hatten ja noch viel Zeit füreinander, 'alle Zeit der Welt'.
Ich genoss es, halb nackt vor ihm zu liegen, der noch immer das weiße Hemd und die hellblaue Jeans anhatte, mit der er von der Baustelle gekommen war. Ich legte meine Hand auf seinen Schwanz, der auf mich Lust hatte, aber er sagte: 'Nicht so schnell, Ursa. Ich mag's nicht so schnell. Schnelligkeit so wie eben ist manchmal schön als Apéritif, aber die wirkliche Lust liegt in der Langsamkeit, findest du nicht?' Ja, das finde ich auch. Dieser Genuss hatte uns gefehlt, als wir Jugendliche waren.
Dass die Lust sich erst einmal wieder legte, das war nicht schlimm. Nur kalt wurde mir. Hajo holte eine Decke, wir kuschelten uns aufs Sofa, und er deckte uns beide zu. Dann spann er die Erinnerungen fort an unsere ferne, kurze frühe Zeit, winters auf einem der dunklen Plätze.
"Meine Erkundungen in der neuen Stadt übrigens, im neuen Kiez, die anfangs ein Training gegen die Depression gewesen waren, wurden immer mehr eine Suche nach einem Ort für uns. Ich habe dir das damals nicht erzählt. Die Schrebergärtenhütten kamen nicht in Frage, denn wir hätten sie ja aufbrechen müssen, und wie hätten wir sie heizen können? Der Heizungskeller in der Schule war verschlossen, natürlich. Die Dachgeschosse in unseren Häusern waren Trockenböden und sowieso viel zu nahe an unseren Wohnungen, und die Dielen knarzten da wie in den Wohnungen auch. Es gab ja Parkett nur in den Vorderzimmern, in den Hinterzimmern diese ochsenblutfarben gestrichenen breiten Dielenbretter. Ich habe auch in Ruinen nachgeschaut, aber die waren bewohnt, wenigstens von Obdachlosen, die jederzeit kommen und uns verpfeifen konnten. Und niemand, natürlich, hätte Kindern einen Raum zur Verfügung gestellt, da war es schon gleichgültig, dass wir dafür nicht hätten bezahlen können. Es erschien mir so gänzlich aussichtslos, jemals irgendwo mit dir allein zu sein, warm, ohne Sorge ums Entdecktwerden, nur auf uns und unser Begehren horchend.
Es war schön und traurig damals. Schön, weil wir einander unsere Lust zeigen konnten und darin keine Kinder mehr waren; weil wir einander 'da unten' zu streicheln wagten, wie du diese reizvolle Gegend noch früher genannt hast; weil ich dir zeigen durfte, wie du meinen Schwanz reiben konntest, bis es mir kam, so wie meine Hand machte, dass es dir kam. Da es so schön war, konnte es nicht böse sein, dachten wir, obwohl wir so jung waren. Da es aber im Verborgenen geschehen musste, kamen wir uns im Wechsel mit dem Genuss immer wieder doch verworfen vor. Je älter wir aber wurden, oder auch, wenn ich das so sagen darf, je erfahrener miteinander, je mehr wir unserer Zuneigung sicher wurden vor allem, um so mehr erforschten wir, welche Lust wir einander geben konnten. Sie war nicht isoliert, sondern ein Teil unserer wachsenden Liebe. Nur einen Raum hätten wir gebraucht, in dem wir miteinander so hätten liegen können wie jetzt."
Und Hajo begann ganz zart unter der Decke meine Brüste zu streicheln, und zog dann die Decke weg und streichelte und knetete die eine Brust weiter und nahm die andere, die ich ihm reichte, zwischen Lippen und Zähne. "Es ist so schön", sagte er, "noch viel schöner als damals." Hajo zog nun auch seine Hose aus, und wir streichelten einander das Geschlecht, ohne Kälte, ohne Furcht vor Passanten, so zum ersten Mal. Und zum erstenmal drang er in mich ein, und wir genossen dies innigste Beieinandersein und dann einen fast gemeinsamen Höhepunkt. Und schliefen ein unter der Decke, einander in den Armen.
Es war spät am Tag, als wir erwachten und einander erweckten zu neuer Lust. Es hatte etwas Paradiesisches: Wir waren schon beieinander, brauchten nirgends erst hinzugehen, der sonnige Vormittag war nur für unser Liebesspiel gemacht, als gäbe es auf der Welt nichts anderes und als wären wir nicht schon ein etwas ältliches Liebespaar in seinen 50ern.
Hajo kaufte dann ein für ein üppiges Frühstück, ich blieb liegen in seliger Entspannung. Als er zurückgekommen war, zog ich ihn wieder neben mich, und unter Küssen und Streicheln schliefen wir noch einmal ein und wachten nur auf, um miteinander zu schlafen. Dann erst duschten wir. Das Frühstück nahmen wir am späten Nachmittag ein.

Danach gingen wir durch die Straßen Hand in Hand, in denen wir uns vor langer Zeit als liebesvorwitzige Kinder erst nach komplizierten Umwegen getroffen hatten, und führten dabei die Erinnerungen fort. "Wie war das?" fragte Hajo, "du hast mir damals erzählt, dass deine Eltern dich nicht verstünden, dass sie dir alles verboten haben, was dich irgendwie in eine Verbindung mit der Welt außerhalb von Wohnung, Schule und Kirche gebracht hätte. Dass du deine Blutung früh bekommen hast, ein Jahr, bevor wir uns fanden, dass du gänzlich ahnungslos warst und wie du dir Beistand gesucht hast. Damals erst hast du dir die Grundtatsachen über Sexualität aus Lexika zusammen gesucht. Und doch hast du 'gewusst' oder wie soll ich das nennen, was ein Orgasmus ist. Erklär mir das doch, bitte."
"Eigentlich wundere ich mich darüber auch. Es passt nicht zusammen und ging doch zusammen. Schon als Vorschulkind konnte ich mir selbst einen Orgasmus machen, das weißt du. Es war mir klar, ohne dass ich es eigentlich denken konnte, dass es natürlich verboten war; schon einfach, weil es Spaß machte, wahrscheinlich. Ich kannte also Sexualität, ohne das Wort natürlich, sehr früh, aber in der Form der Selbstbefriedigung eben nur. Von dem. was man zu zweit erleben kann, hatte ich nur Lexikonwissen. Das war unlebendig und kalt, Geschlechtsorgane im Querschnitt, Brüste als Stillorgane. Es gab noch das Buch Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, aus dem meine deutsche Mutter sicher gelernt hat, wie man eine deutsche Windel anlegte. Aber selbst dies Wissen zusammenzusuchen, erschien mir verboten. .Mir selber die Lust verschaffen, das konnte ich. Wie ich zuerst drauf gekommen bin, weiß ich nicht. Wenn du meine Scheide gestreichelt hast, auf einer dunklen Parkbank, das konnte ich genießen, aber wenn du meine Hand auch nur über deiner Hose auf deinen steifen Schwanz legtest, dann war es mir lange Zeit peinlich. Als du viel später, denn du warest geduldig, meine Hand um deinen Schwanz gelegt und mir gezeigt hast, was du besonders gern hattest, da war's zuerst ganz mechanisch, was ich tat, und ungelenk. Das männliche Glied, das muss ich jetzt mal so sagen, blieb mir noch lange unheimlich, auch weil es außen vor dem Körper ist und so ausgesetzt. Dabei ahnte man es ja bei Jungs und bei Männern damals gar nicht, alle Hosen waren weit, und kein ahnungsvoller Anblick von gespanntem Stoff führte einen auf richtige Gedanken. Selbst männliche Schaufensterpuppen waren so geschlechtslos wie Adam auf den meisten mittelalterlichen Darstellungen. Außerdem habe ich gefürchtet, ein Schwanz wäre glitschig, eklig also. Seit einiger Zeit denke ich, mein Vater könne sich mit meiner Hand einen runtergeholt haben. Ich weiß aber nur noch, dass ich sonntags vormittags in sein Bett kam, als 8-, 9-, 10-Jährige, später wohl nicht mehr, und dass er mir da die Grundbegriffe der Graphologie erklärte. Wäre das nicht am Schreibtisch besser gewesen? Andererseits liebte ich ihn damals und kam gern zu ihm. Er schlief in langen Nachthemden. Es konnte also wohl ziemlich unauffällig vor sich gehen, falls er sich wirklich mit mir befriedigt hat. Erinnern kann ich mich an nichts, also auch nicht daran, ob er etwa auch mich berührt hat. Aber woher die Vorstellung, dass ein Penis glitschig sei, ehe ich einen berührt hatte? Und woher der Widerwille, als später, viel später, ein Mann immer nach dem Beischlaf, wie man da wohl sagen muss, seinen wertvollsten Teil sofort mit einem Taschentuch zurechtputzte? In einem Bett, wo die Spuren unserer sexuellen Begegnung niemand anders als ich gesehen hat? Ich kannte Sex also früh als ein einsames Vergnügen früh, aber als Lust zu Zweien spät. Unsere sich erprobende, lernende Lust, deine und meine, war eine zu zweit, die erste, aber sie wurde nicht Eine, weil wir ja wussten, dass sie 'verboten' war. Deshalb erforderte sie immer noch eine Aufmerksamkeit nebenbei, ob auch gewiss niemand käme. Und die Hingabe, bei der alle Sinne nur auf den anderen gerichtet sind, die war nicht möglich. Oder doch: einmal war sie es. - Und du, Hajo?"
"Auf dem Dorf ist es einfacher, das zu begreifen, was manche Erwachsenen so gerne 'die Tatsachen des Lebens' nannten. Du siehst einfach, wenn ein Stier eine Kuh bespringt, und ziehst deine Schlüsse. Oder du siehst, wenn Hunde sich paaren oder im Frühjahr die Frösche das Tier mit den zwei Rücken bilden. Was du nicht verstehst, das fragst du einfach. Es gibt ja immer Größere, die es gern erklären. Unter Jungs haben wir nicht nur gespielt, wer am weitesten pinkeln kann, sondern die Größeren haben sich auch zum Zusehen einen runtergeholt und die ganz Kühnen auch dem Nebenmann, so im Kreis rum. Da hab ich mich aber gedrückt, das war mir peinlich, zu öffentlich. Aber mit einem Mädchen allein hab' ich das schon gemacht, so im Heu: Zeig' mir mal deinen Schwanz; na gut, aber nur, wenn du mir deine Muschi zeigst. Und darf ich auch mal anfassen? Und das tat man dann, scheu natürlich, weil wir ja auch wussten, dass das verboten sei, aber doch neugieriger als scheu. Eine Weile gab es ein Mädchen, das sagte manchmal zu mir: 'Gehen wir wieder ins Heu?' Und sagte dann auch: 'Steck' mir mal einen Finger rein.' Und das tat ich, während sie sich an meinem Schwänzchen zu schaffen machte und ganz stolz war, wenn sie es ein bisschen zum Stehen brachte. Sie sagte sogar: 'Steck' ihn mir rein.' Aber das ging nicht, da fiel das gute ungeübte Stück gleich in sich zusammen. Übrigens weiß ich, dass es im ganzen Dorf eine Art Ehrenkodex war, nichts gegen den Willen des anderen zu machen. Vergewaltigung gab's nicht. Und so war am ganzen Miteinanderschlafen für mich nichts so Verkrampftes wie bei dir. Und weißt du, das habe ich damals nie gesagt: Als ich dich da sitzen sah, auf der rotverwaschenen Fensterbank im Ladenschaufenster, da hatte ich schon ein wenig Lust auf dich. Natürlich wusste ich nicht, ob du wolltest. Und ich wusste nicht, wo. Ich hing noch ziemlich in meiner Depression und sah doch einen Weg hinaus, so auch im übertragenen Sinn. Und deshalb eben war in allen meinen Stadterkundungen immer schon ganz früh die Suche nach einem Ort für uns, wenn du denn wolltest. Aber es gibt in Städten keine Scheunen. Und so begannen wir einander lieb zu haben und zu begehren, aber wir wussten eben nicht, wo."
"Ja, aber dann waren einmal deine Eltern und dein Bruder nicht da. Und du hast es mir vorher gesagt und gefragt, du hast gefragt, ob wir uns denn richtig zusammenlegen wollten, so hast du gesagt, und ob ich wüsste, ob dieser Sonnabend ein sicherer Tag in meinem Zyklus sei. O Gott! Ich wusste nichts von Verhütung, und danach konnte ich wirklich niemanden fragen, wie ich nach der ersten Blutung meine Kinderärztin gefragt hatte, weil meine Mutter keine Auskunft gab. Die Blutung war mir immer noch widerlich, sie kam, sie ging, und ich wusste nicht einmal, wie lang mein Zyklus war. Und wir sind zwar zu dir gegangen unter vielen Vorsichtsmaßnahmen, wir haben nackt zusammen gelegen in deinem Bett, aber du bist nicht in mich eingedrungen, wie wir es uns eigentlich beide wünschten, aber wir haben einander voller Lust gestreichelt. Ach, Hajo, das war schön damals, wenn auch nicht vollkommen.
Und weil wir nun noch wieder etwas besser wussten, was schön war und noch schöner hätte werden sollen, waren alle die Vorsichtsmaßnahmen so schrecklich und erschienen uns immer schrecklicher. Zum Beispiel mussten wir einander doch Nachricht geben können, wenn der ausgemachte Termin oder Ort einmal nicht eingehalten werden konnte. Für solche Nachrichten, also Briefchen, hattest du in jedem unserer Häuser die Holzverkleidung im Hausflur sorgfältig auf Lücken untersucht und auch welche gefunden, groß genug, dass ein Zettel oder ein Brief hineinging, aber von außen nicht zu sehen war und mit einer Art Angelhaken herausgeholt werden konnte. Zeitweise schrieben wir uns dauernd Briefe aus unseren übervollen begehrlichen Herzen. Nur: du konntest meine in deinem Zimmer aufheben, es war klar, dass es dein Terrain war und niemand dort etwas suchen würde. Ich hatte aber kein eigenes Terrain in unserer Wohnung, wie du vielleicht noch weißt. Nicht einmal meine Schulmappe war sicher vor der Putzwut und Neugier meiner Mutter. Aber im Keller fand ich dann eine Stelle, die mir sicher genug erschien, unter der Kartoffelkiste. In den Keller ging ich öfter, um Kartoffeln oder Kohlen zu holen. Und doch habe ich bald die Briefe des Anfangs, die so überquellend und lang waren, der Silvia in Verwahrung gegeben. Die würde diskret sein, dachte ich, und ist es auch geblieben. Da holte ich sie ab, bevor auch Großmutter und Tante nach Westberlin zogen, und deponierte sie wieder bei jemand anderem, einer Klassenkameradin an der nun schon nicht mehr neuen Schule, und da blieben sie, bis ich, erst nach dem Studium, meine erste eigene Bude hatte, mein erstes eigenes Geld verdiente. Damals las ich sie wieder, und sie erschienen mir nicht als Kinderbriefe, so unbeholfen sie auch zuweilen waren. Ich habe sie noch immer. Und du? Was ist mit meinen? Sie waren ja schon darum weniger, weil ich sie heimlich schreiben musste. Hast du sie noch?"
"Ja, Ursa, ich habe sie noch. Schau, hier."
Und Hajo stand auf und holte einen schmalen bunten Aktenordner aus dem Schrank, der unserem Couch-Bett gegenüber an der Wand stand, schloss die Vorhänge und zündete zwei Kerzen an, denn auch der Sonnabend ging in die Dämmerung über, und holte eine neue Flasche Wein. Da waren die Briefe, in der Kinderschrift meiner zwölf und dreizehn und vierzehn und fünfzehn Jahre, die ich doch schon verändert hatte. Nie hätte ich geglaubt, sie noch einmal zu sehen, in den Händen zu halten.
"Wir werden jeder dem anderen die eigenen Briefe kopieren und werden sie zusammen legen und werden sie binden lassen in kostbares Papier. Unser erster Briefwechsel! Denn, Ursa, meine junge Liebe, wir werden einander doch nicht jetzt wieder aus dem Leben gehen, nicht wahr? Zwar weiß ich ja noch nicht, wie deines ist, aber du wirst es mir erzählen. Und wie es damals vor über 40 Jahren weiterging, und zu Ende ging und, wie wir dachten, für immer, das auch."

"Das zuerst, Hajo. Es ist einfacher, weil es vergangen ist. Auch der erste Winter der Parkbänke verging endlich, es wurde warm, und wir konnten wieder zwischen den Wurzeln unserer lieben schützenden Buche sitzen. Ich war dreizehn geworden und du schon über vierzehn. Wenn du die Knöpfe meiner Bluse öffnetest, so reichte ich dir immer zuerst mit meinen beiden Händen eine meiner Brüste, damit du sie küsstest, sie einsaugtest mit dienen Lippen, sie zart mit deinen Zähnen beknabbertest. Das wurde ein liebevoll immer wieder gesuchtes Ritual. Als ich einmal nach dieser Begrüßung lachen musste, warst du ein wenig befremdet, weißt du das noch? Ich musste daran denken, dass ja die Bluse, die du gerade geöffnet hattest, wie alle meine Kleidung von meiner Mutter genäht war, eine weiße Bluse mit Puffärmeln war's, die Knopflochleiste bestickt mit irgendwelchen Ranken. Sie gab mir das Aussehen eines braven züchtigen Mädchens, das ich in den Augen meiner Eltern war und sein sollte. Mein Gott, hätten sie gewusst, wer außer mir noch diese Knöpfe öffnete, es hätte sie wohl auf der Stelle der Schlag getroffen. Ich aber konnte inzwischen ganz gut mit diesen beiden Erscheinungsformen von mir selbst umgehen, der des braven, trotz seiner Blutungen scheinbar noch geschlechtslosen Kindes, dem eben erst, als einer der letzten aus der Klasse, erlaubt worden war, die Zöpfe abschneiden zu lassen. Du hast mich noch mit ihnen kennen gelernt, und die Dauerwelle dann fandest du schrecklich. Aber in meiner Klasse war sie nötig, um anerkannt zu sein. Zwei Jahre später im Lichtenrader Gymnasium fanden die Mädchen sie wieder schrecklich. Die Rolle des 'unschuldigen' Kindes spielte ich für die Außenwelt. Eine Heranwachsende, die einen Freund hatte, dem ihr Körper vertraut war, die seinen kannte, die wurde ich immer zuversichtlicher in jenem Sommer 1953, unserem einzigen ganzen.
Auch in der Schule lernten wir ja, ohne dass das beabsichtigt war, mit doppelten Identitäten umzugehen, jedenfalls dann, wenn wir nicht sozialismusgläubig waren. Wir gaben im Geschichtsunterricht die Antworten, die erwartet wurden, und lobpriesen die DDR. Wir, die wir nach Westberlin durften, sahen die Auslagen in den Schaufenstern dort und wussten, wo der wirtschaftliche Erfolg war, nämlich offenkundig doch 'drüben', wie wir sagten, und nicht hier."
"Das kenne ich gut. Auch zum Aufstand vom 17. Juni sagten wir das Gewünschte, Stephan und ich in der Familie, wenn der Vater da war. Aber das war er ja selten. Dieser Vater ahnte zumindest, dass ohne das Eingreifen sowjetischer Truppen der ganze fortschrittliche Staat wohl hinweggefegt worden wäre. So politisch dachten Stephan und ich zuerst noch nicht. Und als wir an der Bornholmer Brücke standen, du und ich, da war ich ganz erfüllt davon, dass wir uns dort zusammen zeigen konnten, nicht Hand in Hand natürlich, aber nebeneinander in der Öffentlichkeit. Panzer aus der Nähe, das hatte was von Abenteuer. Die Gefahr ahnten wir höchstens, ahnten aber auch, dass unsere Lebensweise auf der Kippe stand."
"Ja, die im Osten und die im Westen. Mein Vater und meine Tante konnten mehrere Tage nicht zur Arbeit. Diese Angst war wie mit Händen greifbar in der Familie. Denn man wusste ja zunächst nicht, ob nicht die Sektoren damals schon voneinander abgeriegelt werden würden. In deiner Familie, bei deinen Eltern, war's eine andere Angst, die um den Bestand des Systems. Das war eine Zäsur in unserer Beziehung. Sie war ja immer erschwert durch unsere große Jugend, durch die alltäglichen äußeren Umstände, jetzt aber auch durch die 'große' Politik. Damals muss mein Vater begonnen haben, einen Umzug nach Westberlin ernsthaft zu planen oder notfalls eine Flucht. Sicher dachte er auch an meine weitere Schulbildung, an die ich noch überhaupt nicht dachte. Du hast es eher getan als ich. Ich hatte noch in kindlicher Weise in einer immerwährenden Gegenwart gelebt. Jetzt begriffen wir beide den Ablauf der Zeit, wir hatten Angst umeinander, Angst vor einer Zeit ohne einander, die in den Blick kam, verschwommen noch, aber wegküssen ließ sie sich immer seltener. - Es ging zuerst noch einmal 'gut'. Die Grenzgänger kehrten an ihre Arbeitsplätze zurück, aber der Idealismus deiner Mutter war gebrochen. Ihr Söhne habt nun mit ihr sprechen können, aber mit dem Vater noch weniger als immer schon. War es nicht so?"
"Ja. Und dann, als die Lage sich entspannt und weil mein Vater sich in ihr bewährt hatte, bekam er 14 Tage Urlaub an der Ostsee, auf Rügen, in Binz, mit der ganzen Familie. Für Leute seines Ranges konnte das von einem Tag auf den anderen arrangiert werden. 'Kritik und Selbstkritik' wollte er mit uns treiben, das drohte er an. Ich wusste nur so unter der Hand, dass das, wenn's die Partei machte, schon Leute in den Tod getrieben hatte. Diese so genannten Ferien waren fürchterlich. Für uns, für dich und mich, war es die erste lange Trennung, denn so jung waren wir und so verliebt, dass 14 Tage uns sehr, sehr lang vorkamen. Stephan meuterte: Ferien seien zum Erholen da, die Oberschule sei schwer, an der Ostsee wolle er schwimmen und nicht diskutieren. Der Vater fixierte ihn. Zeit zum Schwimmen werde er haben, im Übrigen aber werde nicht 'diskutiert' nach westlicher Dekadenzmanier, denn es gebe ja nur eine mögliche Entwicklung der Geschichte. Die Vorgänge vom Juni würden analysiert werden, Fehler benannt und kritisiert. Er habe den Eindruck, seine Söhne nähmen ihre Rolle bei den Pionieren nicht ernst genug. Ich schwieg, ich galt ihm ohnedies als unpolitischer Weichling. Die Mutter schwieg auch. Wo offenes Gespräch nicht möglich war, blieb ihr keine andere Reaktion. Wir unterwarfen uns alle drei, nicht ohne uns mit den Augen darüber zu verständigen, dass wir es taten.
Als ich es dir sagen musste, Ursa, weißt du noch, da hast du mir angesehen, dass ich etwas Schweres mitzuteilen hatte. Zum ersten Mal hast du deine Bluse selbst aufgeknöpft, fast als wolltest du mir wie einem Baby deine Brust zum Trost reichen und nicht zur Lust. Aber du wolltest Lust, viel Lust. Wie seit einiger Zeit zog ich dir bald den Slip aus, der damals noch Schlüpfer hieß, und diesmal kroch ich mit meinem Kopf unter deinen weiten Glockenrock. Du warst feucht wie noch nie, du hast getropft, und es war nicht Blut, und ich hab' mein Gesicht in diese Feuchtigkeit gelegt und hab' begonnen, dich mit meiner Zunge vorsichtig zu lecken, mit langen Pausen, die du fast nicht ertrugst, aber wolltest, und dann hast du geschrieen in deiner aufbrechenden höchsten Lust, dass ich fürchtete, die ganze Welt würde diesen Liebesschrei hören, und wir hätten uns verraten durch ihn. Du aber warst selig erschöpft, und ich trocknete mein Gesicht an deinem Rock. Und dann saßen wir umarmt und ganz still da. Dieses eine Mal war's so."
"Wieso wir das alles gewagt haben, das doch noch Jahrzehnte später als pervers galt, habe ich mich oft gefragt. Vielleicht weil es so 'pervers' war, dass es gar nicht im Lexikon stand. Aber in meinen Selbstbefriedigungs-Phantasien kam es vor. Oder etwas Ähnliches. Und damals, wo du nun wegfahren solltest, da habe ich mich getraut, damit wir uns daran erinnern könnten, wenn du nicht da wärest. Es war kein 'sicherer' Tag, sonst hätte ich gewollt, dass du ganz zu mir kämst. Denn inzwischen wusste ich das ungefähr, wann die waren."
"Und heute?"
"Hast du vergessen, wie alt wir sind? Aber du hast trotzdem recht: ich blute noch. Aber es wird kein Kind mehr geben."
"Jetzt müsste ich dich eigentlich anziehen, damit ich dich ausziehen kann. Aber du hast ja keinen weiten Rock, sondern enge Jeans und die nicht an."
"Aber ich habe lange weite Röcke, unter denen du mich öffnen und streicheln kannst. Jetzt geht's auch so."
Und es ging 'so' und anders und noch anders.
"Und wie war es in deinen Ferien an der Ostsee, Hajo?"
"Wir kriegten tatsächlich vom Vater so etwas wie einen Wiederholungskurs in Marxismus-Leninismus, jeden Morgen nach dem Frühstück, gnadenlos mehrere Stunden. Und der Juni-Aufstand war natürlich von westlichen Provokateuren initiiert worden, die den Staat DDR vernichten wollten usw., den fortschrittlichsten Staat, den es auf deutschem Boden je gegeben hatte usw. und an dessen Aufbau wir mitarbeiten durften, die erste sozialistische Generation.
Stephan und ich hatten uns verabredet, nicht mit dem Vater zu debattieren. Es gelang uns, eine inzwischen angeblich gewonnene Einsicht einigermaßen glaubhaft vorzuspielen und uns dadurch möglichst viel wirkliche Strandferien zu sichern. Mit der Mutter war das abgesprochen, die ihren Glauben an die Richtigkeit und das unausweichliche Kommen des Sozialismus verloren hatte. Selbst über eine mögliche Flucht nach Westberlin hatten wir geredet - sie wäre mitgekommen. Aber sie warnte uns auch: Wir waren ja alle drei Parteigeiseln. Und der Vater, so glaubte sie, würde das nicht überstehen, denn es würde ihm ausgelegt werden als Verrat am Staat, dem er alles verdankte. Es gab aber noch einen anderen, egoistischen Grund, lieber einer langen Vergatterung zuzuhören, als dagegen anzureden. Mal ganz abgesehen davon, dass er uns wahrscheinlich gar nicht zugebilligt hätte, gegen ihn zu argumentieren: Von der Mutter wussten wir nämlich, dass der Vater Stephan von der Oberschule nehmen und mich nicht dort anmelden würde, wenn wir uns als Abweichler bekennen würden. Solche brauchten nicht die Ausbildung, die der Staat ihnen bezahlte. Auf eine brutale Weise war das logisch. Wir brauchten aber die Oberschule, um hinterher zu studieren. Doppelzüngigkeit im Reden hatten wir ja gelernt wie du auch.
Erst glaubte uns der Vater nicht, argwöhnte eine Vermeidungsstrategie, die es ja auch war, zuletzt aber war er erleichtert über unsere vermeintliche Einsicht - und da er sich im Ministerium für unentbehrlich hielt, es ihm auch nicht gegeben war, irgendetwas zu genießen, orderte er einen Chauffeur, der stand ihm in besonderen Fällen zu, ließ uns das Auto und kehrte zurück an seinen Berliner Schreibtisch.
Von da an waren die Ferien schön. Die Mutter vermochte zu faulenzen, schwamm, lag in der Sonne, schwamm wieder, las und las. Stephan spielte am Strand den Hallodri - rannte von hinten den Mädchen hinterher, rempelte sie an, so dass sie in den Sand fielen. entschuldigte sich höflich für sein ungeschicktes Verhalten, und wenn ihm das jeweilige Mädchen auch von vorn gefiel, dann fragte er, ob er sich anschließen dürfe. Er hatte damals gerade keine Berliner Freundin. An der Ostsee hatte er auf seine scheinbar ungezwungene Stephan-Art mehrere, trauerte allerdings in Wahrheit seiner Gisela nach.
Ich aber lag im Sand und schrieb dir lange, lange Briefe und schickte sie an die Adresse von Silvia in der Isländischen Straße. Jeden Tag schrieb ich, alles wollte ich dir mitteilen, was ich tat und dachte und las, wie sehr ich dich lieb hatte, wie sehr ich Hermann Hesse verehrte (ganze Passagen aus Demian schrieb ich dir ab), wie die Sonne unterging."
"Und wie gingen deine Ferien zu Ende? Ihr wart danach noch in Mirow, nicht? Und es ging dir nicht gut dabei, war's nicht so?"
"Ja, die Mutter und Stephan wollten es gern, und es passte gut auf der Rückfahrt von der Ostsee nach Berlin, da wir das Auto hatten. Wo wir wahrscheinlich übernachten konnten, wussten wir. Die Mutter, die politische Gespräche vermied, die die Freundinnen auch mit ihr vermieden, der Funktionärsgattin, war enttäuscht. Ferien auch von der Politik, wie an der Ostsee, konnte es nicht geben an einem Ort, wo man sie kannte. Ein Rückzug in Wald und Wiese war nicht möglich. Da wollte sie lieber bald weg.
Stephan fand seine Kumpel nicht mehr. Sie hatten ja die Einheitsschule beendet, aber obwohl die meisten Bauernsöhne waren, also einer 'richtigen' Klasse angehörten, hatten sie angefangen zu arbeiten oder hatten eine Lehre begonnen. Das korrekte Klassenbewusstsein hatten die Bauern nämlich keineswegs, sie wollten ihre Söhne und Töchter nicht als Mitarbeiter entbehren. Wozu sollten sie denn auf die Oberschule gehen oder sogar studieren? Außerdem arbeitete der Staat damals schon heftig auf die LPG' s zu, die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, noch ohne Zwang, aber schon mit Druck. Es gärte. Und die alten Freunde, sofern er sie überhaupt fand, vermieden es, mit Stephan Mahn, dem Funktionärssohn, zu reden. Er war der Fremde aus Berlin geworden, dem zu misstrauen war. Er verstand es, aber er war sehr enttäuscht und wollte auch bald weg.
Ich hatte gar nicht hin gewollt. Zwar fand ich meine Kumpels am Ort, sie waren ja kurz vor dem Schulabschluss, und Reisen in den Ferien gab es für sie nicht. Aber sie waren mir fremd geworden, bzw. ich entdeckte, dass sie mir nie vertraut gewesen waren, eben nur Klassenkameraden oder Nachbarskinder. Auf die Oberschule würden nur wenige gehen. Wie es mir in Berlin ging, fragten sie nicht, und ich redete nicht davon, vor allem nicht von meiner wochenlangen Depression dort am Anfang, die keine sein durfte. Auch ich wollte also schnell weg aus meinem geliebten Mecklenburg. Wie's meinem Hund ging, meiner Katze, das wollte ich schon nicht mehr wissen. Noch von einer anderen Seite her sah ich das Ende der Kindheit, das ich schon mit dir in seiner allerschönsten Weise erlebt hatte. Es wurde mir klar, dass ich beginnen musste, Verantwortung für mich zu übernehmen, dabei aber eine Geisel von Partei und Staat und des Vaters zu bleiben und also nicht frei zu sein. Verzeih' mir's, aber als ich dann wieder da war, selbst als ich dich wiedersah, erfüllte dieser Widerspruch mich fast ganz."
Hajo tippte mir auf die Hand wie bei der ersten Verabredung, dann streichelt er sie, streichelte sich den Arm hinauf bis zum Hals und setzte einen Kuss in die Halsgrube.
"Ich war damals, als du wiederkamst, voller Vorfreude und auch voller Begehren, Hajo. Das ist ja oft so bei denen, die zu Hause geblieben sind, dass sie am liebsten einfach da weitermachen möchten, wo man zusammen aufgehört hat. Und ich war dann zuerst enttäuscht, als nicht der sich zeigte, der die Briefe vom Strand geschrieben hatte, sondern der, der in Mirow gewesen war und dessen Leiden an dem Staat, an den er geschmiedet worden war, sich vertieft hatte.
Auch über mich hattest du nachgedacht und dass ich freier sei als du. Und zu einer Zeit, in der ich nur wusste, dass nach Klasse 7 Klasse 8 kommen würde, und mich nicht fragte: was dann? - da hattest du es dich sehr wohl gefragt und dir auch einige Antworten gegeben, die erstaunlich präzise waren, meine wahrscheinliche Zukunft ziemlich genau so analysierten, wie sie dann auch wurde. 'Ursa', so etwa hast du gesagt, 'die Bauernjungs in Mirow durften nicht zur Oberschule, weil die für Bauern noch immer eine Einrichtung für Herrensöhnchen ist. Aber du wirst auch nicht dürfen, weil dein Vater im Westen arbeitet, noch dazu bei einer Bank, die ist ja das kapitalistische Unternehmen schlechthin. Er ist also in der Bewertung unserer Oberen ein Klassenfeind. Und du bist die Tochter eines Klassenfeindes, die nicht bei den Jungen Pionieren ist, sondern in der Jungen Gemeinde, die sich konfirmieren lässt, statt zur Jugendweihe zu gehen, die damit angegeben hat, den Pionierleiter nicht zu kennen und zu Hause Reader's Digest zu lesen! Du glaubst anscheinend, Schule geht noch ein paar Jahre so weiter, du kommst immer eine Klasse höher, und du hast immer dein Einser-Zeugnis und am Schuljahrsende die Medaille Für gutes Lernen in der Schule. Ursa, wach endlich auf! Dein Vater hat begriffen. Ob er nun von den Russen verhört wird oder nicht: Seine Bank wird nicht lange mehr mit ansehen, dass er im Westen arbeitet, aber im Osten wohnt, denn dadurch ist er erpressbar. Vielleicht waren die Verhöre bei den Russen in Wirklichkeit seine Spitzelberichte, wer will das wissen? Oder vielmehr, es ist ziemlich wahrscheinlich. Vielleicht taugt er aber als Spitzel nicht recht, und sie lassen ihn gerne ziehen. Er aber hat überlegt, dass du also auf eine Oberschule in Westberlin gehen musst. Das bedeutet, dass ihr abhauen müsst spätestens nach dem Ende deiner 8. Klasse hier, also in nicht viel mehr als einem Jahr. Abhauen heißt fliehen oder umziehen. Das gibt es ja erstaunlicherweise noch. Das heißt: du wirst weggehen von hier, weil er will und muss und für dich mit entscheidet. Denn hier würdest du nur Fischverkäuferin werden können, wie das deine Großmutter immer so sagt, als sei es ehrenrührig. Das ist es nicht, aber du bist zu intelligent dafür. Dein Geist braucht Bildung, und die wird er hier bald nicht mehr kriegen. Und was heißt das für uns, Ursa? Jetzt begreifst du es endlich, jetzt wirst du bleich: Trennung heißt es, Trennung, Trennung! Denn ich bin ein Partei- und Staatsgefangener und darf nicht nach Westberlin. Du würdest kommen, du hast ja noch deine Großmutter und Tante hier, du wirst auch kommen, einige Monate lang wirst du sicher kommen. Aber es wird etwas zwischen uns sein, etwas, das wir jetzt noch nicht kennen, Ursa. Vielleicht wird es Mitleid sein, Ursa. Ich habe Angst um uns."
"Wie recht du hattest mit allem, Hajo! Im Februar teilten mir die Eltern den beabsichtigten Umzug mit, ja, den Umzug. Den Winter hatten wir beide, du und ich, zuerst wieder auf Parkbänken verbracht, mehr verbittert darüber nun, dass wir keine Herberge hatten, als dass wir uns noch naiv wie zuvor freuen konnten miteinander, aneinander. Solche Lust wie vor deiner Sommerreise hatten wir nie wieder. Vielleicht sollte sie einmalig bleiben. Zwar lud deine Mutter mich nun zu euch ein, nachdem du dich ihr anvertraut hattest, und ich kam auch einige Male, von oben, über den Boden, der immer unverschlossen war, da war es dann nur noch ein Stockwerk bis zu eurer Wohnung. Nicht oft kam ich, denn ich konnte ja gesehen werden zumindest aus einer der beiden anderen Wohnungen auf dem Stockwerk. Und dann hätte es geheißen: Wenn es harmlos ist zwischen den beiden, wenn sie nur zusammen Stadterkundungen vorbereiten, wie deine Familie auf Befragen gesagt hätte, warum kommt sie dann so heimlich? Und meine Eltern hätten es erfahren und verboten und hätten mich minutengenau überwacht. Ja, die Traum - Seligkeit unserer Anfänge war uns genommen und das Umgehen mit dem Ende uns aufgebürdet. Dem Ende wovon? Dass es das Ende unserer Liebe sein konnte, die wir für einzigartig ansahen wie alle Liebesleute die ihre, das wollte zumindest ich zuerst nicht glauben."
"Ich wusste es besser, Ursa, also schlechter. Immer, wenn du dich auf irgendetwas freutest im andern Berlin, fühlte ich um so bedrückender die Ketten, die mich hier festgezerrt hatten um eines Vaters und seiner Herrschaftstätigkeit willen, der eigentlich gar nicht mehr mit uns lebte, aber abgestürzt wäre, wenn wir alle oder auch nur ich allein gegangen wären. Das wagten wir nicht. Dass Leute entführt wurden aus Westberlin und dann jahrelang im Knast saßen, war auch nicht nur Gerücht. Ich würde dich nicht besuchen können in deiner neuen Gegend, dem Vorort Mariendorf. Also konntest nur du kommen, würdest aber auch noch die Familienbesuche bei Großmutter und Tante übernehmen müssen, 14-tägig, das war schon abgemacht, denn dein Vater hatte angekündigt, den Ostsektor nicht mehr zu betreten, und deine Mutter, die als Schwiegertochter und Schwägerin unerwünscht gewesen war, das weiß ich noch, die tat es natürlich nicht. Wir würden uns sehen im Wechsel damit, allerhöchstens, du würdest Ausreden für eine weitere Fahrt nach Ostberlin brauchen, einen auch 14-tägigen Nachkonfirmandenkreis bei dem Pfarrer, den du damals so angehimmelt hast, dass ich manchmal ganz schön eifersüchtig war, oder Besuche bei Silvia. Länger als zwei Stunden konnte der Konfirmandenkreis nicht dauern, aber immerhin die angeblichen Besuche bei Silvia, die ja. Die Fahrzeit käme hinzu, Straßenbahn 99 bis S-Bahn Tempelhof, von dort zur Schönhauser. Du konntest noch nicht wissen, was deine neue Schule von dir verlangte.. Abzusehen war aber, dass du ein Jahr Französisch nachzulernen hättest und irgendwie noch nebenbei drei Jahre Englisch, denn dein privater Englischunterricht hier, der war ja schwachsinnig, so wie du ihn mir beschrieben hast. Du siehst, ich weiß auch das noch ganz gut. Ich kam mir schon vorweg rausgeschmissen aus deinem Leben vor, bemitleidete mich selbst tief und schmerzlich, noch bevor alles dieses eintrat. Und keine Besuche von mir bei dir, keine Telefongespräche. Wir wussten es ja längst. Aber Briefe gaben wir einander mit, wenn du hierher kamst.
Ich habe uns unsere letzten Wochen mit Aggressionen verdorben, ich weiß es. Und als euer Möbelwagen kam und beladen wurde und dann losfuhr, stand ich hier am linken Erkerfenster mit steinernem Gesicht und sah zu, sah dann dich ins Fahrerhaus einsteigen mit deiner Mutter. Dein Vater war wohl wie jeden Tag schon zur Arbeit gefahren. Du musstest zurückschauen zur Großmutter auf ihrem Balkon und ihr winken. Sie würde nicht wissen, dass du in Wahrheit mir winktest. Ein rotes Taschentuch hattest du in der Hand. Das hatte ich dir geschenkt für dieses Winken, nur dafür. Erst als der Möbelwagen weg war, als ich alleine war, da heulte ich."
"Es war schrecklich, ja. Aber vor meiner Mutter heulte ich nicht. Und dann kam ich das erste Mal vom Westen aus zu dir. Tag und Stunde, wie wir es verabredet hatten. Du hattest lange schon in dieser grundhässlichen, vergammelten S-Bahn-Schalterhalle gewartet. Wir grüßten uns nur mit den Augen, denn viele dort konnten uns kennen, wir gingen getrennt die Schönhauser entlang in Richtung Innenstadt, dann die Kastanienallee, trieben so dahin, saßen auf dem Rasen bei der Zionskirche, küssten uns, erzählten uns, weinten, trösteten einander und blieben doch untröstlich. Später gingen wir dann meistens auf den Alten Jüdischen Friedhof, wenn er geöffnet war, schauten jedenfalls immer zuerst dort nach. Bei den Toten fühlten wir uns am sichersten. Aber wir waren schon jetzt erfüllt von der Empfindung der Vergeblichkeit solcher kurzer Treffen, der Aussichtslosigkeit einer so hingezogenen Liebe, der Unvermeidlichkeit künftiger anderer Beziehungen, die jeder von uns haben würde. Ich hatte wirklich viel für die Schule zu arbeiten. Wir sahen uns erst an jedem ersten und dritten Dienstag im Monat, dann nur noch an jedem ersten, als es Winter wurde. Wir merkten, wie wir einander fremder wurden, wollten es nicht glauben, aber mussten es dann. Das ging so noch etwas mehr als ein Jahr.
Als ich 15 war, hatte ich auf einer Klassenreise einen Flirt, ein Nichts an Geschehenem, aber erstmals eine Verliebtheit in jemand anderen. Wir trafen uns, ich erzählte dir davon in einer Mischung aus Schuldgefühl, das ich glaubte haben zu sollen, aber nicht wirklich hatte, und Erleichterung. Und es stellte sich heraus: Du hattest deinerseits ein Auge auf ein anderes Mädchen geworfen und mehr als das. Es war irgendwann zu erwarten gewesen, beides, und tat dennoch weh, jedem von uns. Es wäre nicht unbedingt ein Anlass gewesen, uns nun ziemlich plötzlich zu trennen, an dem Tag, an dem wir einander das erzählten, dachte ich. Aber du wolltest es so. Ziemlich rabiat kam mir das zuerst vor. Hinterher sah ich ein, dass du recht hattest. Unsere Trennung war innerlich ja länger vorbereitet, als unsere jeweiligen Erlebnisse zurücklagen, nach deren Einzelheiten wir einander nicht fragten. Es war einfacher so, einfacher, nichts wissen zu wollen, schonender, nicht noch ein Treffen für einen Abschied auszumachen, weniger schmerzlich auch, dass du mich nicht in der S-Bahn bis zur letzten Oststation, Treptow, begleitetest wie zuvor einige Male. Das war mutig gewesen. Als unsichtbare war die Mauer ja längst vorhanden, bevor sie sich als Gebilde zunächst aus grob gepressten Steinen materialisierte.
Dass wir uns jetzt wiedergesehen haben, das war nicht zu vermuten."
"Wir verdanken es Karlchen, Karlchen und seiner hingebungsvollen Aufmerksamkeit in allem, was seine Baustelle betrifft. Wir wollen es ihm sagen, was er da, wie ich doch glaube, Folgenreiches angerichtet hat, nicht wahr?"

Schon neigte sich auch der Sonntag. Nochmals gingen wir essen. In Hajos Junggesellenwirtschaft gab's nur Kekse und Büchsengerichte.
"Jetzt fehlt nur noch", sagte er, "dass du mir erzählst, Ursa, wie es denn mit dir und der Liebe weiterging."
"Mit dem Klassenreisenflirt hatte ich einen Briefwechsel vereinbart, über die Deckadresse einer Klassenkameradin. Immer alles so, über solche Deckadressen. Aber die Sache war nur kurz. Und danach war lange Zeit gar nichts. Brave Oberschülerinnen aus Lichtenrade und Mariendorf lernten und gingen zur Kirche zum Gottesdienst und nicht in die Eierschale zum Tanzen.
Ich werde dir die drei erwähnenswerten Geschichten erzählen, die, von hinterher betrachtet, ihre geheimen Verbindungen haben. Da war Dieter, nicht Dietrich. Schon diesen Vornamen mochte ich nicht, ich mag keine unvollständigen Namen. Dieter stammte aus diesem Lichtenrader Dorfgymnasium, wie ich gerne sage, dem ich erstaunlich vieles verdanke. Er war drei Jahrgänge weiter als ich, und ich hatte ihn nur einmal gesehen, nämlich als er die Abiturrede für seinen Jahrgang hielt wie später ich für meinen. Sie war voller Geist und Witz und gefiel mir sehr. Der Abiturredner von einst sprach mich an in meinem zweiten Studiensemester, als wir beide aus demselben Bus stiegen, Unter den Eichen Ecke Thielallee. Da war ich zunächst enthusiasmiert. Aber dem sehr erfolgreichen Physikstudenten fehlte der Witz des Abiturienten. Der zeigte sich nie mehr. Es zeigte sich überhaupt nichts an ihm, was ich mochte oder gar hätte lieben können. Es befriedigte nur meine Eitelkeit, endlich einen festen Freund zu haben. Nun war ich bald 21 und nicht mehr 12, aber auch wir beide mussten aushäusig sein und trieben uns auf Parkbänken herum. Auch er wohnte noch bei seinen Eltern wie ich bei meinen, und unsere Väter waren Kollegen. Ich hatte kein Zimmer, er teilte seins mit einem Bruder. Weder da noch dort hatten wir Herberge. Dieter war hochgeachtet unter Studienkollegen und Professoren. Man sagte ihm eine große wissenschaftliche Zukunft voraus. Ich aber, die er 'Entchen' nannte, was weiß ich, warum, ich mochte alle seine Kosenamen für mich nicht, ich konnte mangels Begabung nicht annähernd begreifen, was er für seine Dissertation untersuchte. Aber ich litt unter der Diskrepanz zwischen seiner naturwissenschaftlichen Hochbegabung und seinem schrecklich naiven Christentum. Dieters unterwürfiges Buhlen um meine Liebe begann ich zu verachten, die Idee einer künftigen Ehe lächerlich zu finden. Lieber allein sein, als mit diesem zusammen. Eiskalt verabschiedete ich ihn. Das war richtig so. Und anders als eiskalt wäre es nicht gegangen.
Dann traf ich in einem anspruchsvoll werden wollenden Berliner Chor Gerhard, den Hochneurotiker, damals noch stud. theol., was ich, meinerseits naiv, faszinierend fand. Naiv auch die Faszination durch seine Handschrift - ja, ich weiß, der Vater -, obwohl ich erkannte, dass die im Schwung immer wieder stecken blieb, die Buchstaben unverbunden waren und sogar in sich zerbrochen. (Ich vergab damals, als in unserem Chor noch alles ziemlich selbstgestrickt war, die Termine zum Vorsingen nach schriftlicher Anmeldung.) Einmal, nach einer Chorprobe, Monate nach meinem ersten Blick auf seine zerbrochene Handschrift, inzwischen waren wir nur nach den Proben mit anderen Bier trinken gegangen, brachte er mich nach Hause, d.h. in die Nähe der Wohnung meiner Eltern. In sicherer Entfernung von ihr küsste er mich. Ich war selig. Endlich hatten wir ihn erlebt: unseren Anfang. Zwei Tage später kam mit der Post ein Zettel mit dem Satz, nur mit diesem Satz: 'Ich bitte Dich um äußerste Distanz.' Aber am Anfang des übernächsten Monats kam Gerhard zurück zu mir, setzte sich in der Mensa an einen Tisch, an dem ich mit anderen saß, als sei nicht viel gewesen inzwischen, schien das Liebesleid nicht zu ermessen, das ich um ihn gelitten hatte in gut lutherisch getroster Verzweiflung. Er war nämlich von seiner Therapeutin inzwischen überzeugt worden, sinnvoller sei es doch, eine Beziehung zu erproben, die das Leben, in meiner Person eben, ganz real bot, als Lieben zu suchen und immer nur zu suchen, die seine projektiven Sehnsüchte auffangen würden. Hier ist es, das Wort, das diese ganze Beziehung überschattet hat und in spätere dann auch noch hineinwirkte: Projektion, Übertragung der eigenen Wünsche auf einen anderen, sich von ihm das 'Bildnis' machen, wie es Max Frisch genannt hat, dass er oder sie der sei, der die eigenen Wünsche zu erfüllen vermöge. Heute glaube ich, dass das Wort Richtiges und Falsches enthält. Wir haben natürlich alle Liebeswünsche, und wenn wir ahnen, dass wir jemanden getroffen haben, der sie erfüllen könnte, so haben wir sie auf ihn oder auf sie projiziert. An allen Anfängen ist das unvermeidbar, glaube ich. Nur ist es nötig, den Menschen, dem man seine Wünsche anträgt, immer wieder neu zu sehen, das Bildnis immer wieder zu verändern, zu ergänzen - und mit dem anderen auch die Veränderungen zu teilen, die er erlebt. Denn ihn festlegen zu wollen auf den, als der er uns erschien am Anfang, hieße ja: ihm Leben verweigern. Gerhard nun fühlte sich durch die Erwartungen seiner kriegsverwitweten Mutter erschlagen, er möge Pfarrer werden wie sein 'gefallener' Vater, Erwartungen, für die sie noch "s' Vatterle im Himmel" in frommer böser Einfalt einspannte. Kaum aber wohnten wir zusammen, nun in Hamburg - geheiratet hatten wir auf seinen Wunsch hin noch vorher -, da stülpte er auf mich die Projektion der fordernden Mutter. Ich drängte ihn gar nicht, sein inzwischen begonnenes Jurastudium schnell fertig zu machen, aber er meinte das, und allein dass ich inzwischen einen Beruf hatte und darin erfolgreich war, das bedeutete für ihn eine immer dauernde Anfechtung. Gespräche in schier unendlichen Wiederholungen wurden dem gewidmet, die immer mit Einsicht meinerseits endeten, auch für sein Paradox: "Meine Schwäche ist meine Stärke." Ich liebte ihn. Aber auch meinerseits steckte darin eine Projektion, die wir nur beide nicht erkannten: Er sollte sein wie Johannes, mein geliebter Konfirmandenpastor, den ich schon verehrte, als ich dich liebte. Er erschien mir sternenweit entfernt; so hat er selbst es später einmal genannt. Denn in verschiedenen Lebenszeiten suchte und fand ich ihn wieder. Gerhard ging dann fort, zu täglichen Therapiestunden zurück nach Berlin. Widersprüchlich dazu war ihm das Leben nicht viel wert, erschien ihm der Suicid als letzte Freiheit. Warum er sich nicht umbrachte, habe ich eigentlich nie begriffen. Ich habe ihn geliebt, das habe ich schon gesagt. Ob auch er mich liebte, das weiß ich nicht wirklich. Aber eins ist wahr: In all seiner zerbrechlichen Verbindung mit dem Leben war er ein zärtlicher Liebhaber.
Ich wäre Gerhard nicht nahe gekommen, wenn ich nicht dich und den fernen Johannes zuvor gekannt hätte. "On revient toujours à ses premiers amours." Jedenfalls würde man es gerne, wenn es möglich wäre. Nach Gerhard und mit ihm noch in allen Sinnen, fand ich nur Sexbekanntschaften. Mancher Sex war sehr, sehr schön. Sogar verliebt habe ich mich mehrmals, aber kurz nur. Es gab nicht 'das Ganze'. Doch ich suchte das Ganze, noch immer auf der Suche nach der Lebens-Liebe, aber ohne die so viele Lebenskraft bindenden, immer nur um ihn kreisenden Gespräche mit Gerhard, der sich im tiefsten Grund nur für sich selber interessierte.
So geriet ich an Rudolf. Und hielt es bald für einen hybriden Wunsch, je noch einmal das Ganze mit einem Mann zu finden. Neurotisch war Rudolf nicht. Mit sich selbst wurde er fertig, jedenfalls wenn er nicht Krankheiten zu bestehen hatte. Nach Gerhard, den ich liebte, und seinem Nicht-Leben-Können wollte ich nicht jede Stunde mit einem Mann um dessen Weiterleben ringen müssen im Gespräch. Das war zuviel Gespräch. Rudolf aber lebte bloß von Sprüchen. Was ein Gespräch sein kann, hat er nicht gewusst und nicht, was das Ganze sein kann. Bemerkenswert, gar liebenswert ist er in überhaupt keiner Weise. Zuletzt hat er mir die Luft zum Atmen genommen. – Aber nicht weiter von dem jetzt, Hajo. Ich werde dir mehr erzählen, wenn du mehr wissen möchtest. Ich bin auf dem Absprung."
"Ursa, darf ich, ja, wie sage ich das, darf ich dabei nicht allzu weit weg sein von dir?"
"Ja, Hajo, du wundersam Wiedergefundener. Aber nicht für mich die Wege ebnen. Nicht mich in eine Wohnung, in diese womöglich, holen wollen. Du verstehst mich. Aber ich rede, als ob wir jetzt zusammen bleiben wollten. Hajo, wenn wir finden, dass wir das wollen, lass uns Zeit haben. Miteinander geschlafen zu haben, damals und jetzt, das verpflichtet uns nicht."
"Nein, das verpflichtet nicht. Aber du hast dich mir auch im Gespräch anvertraut, das beides macht, dass ich mir sehr, sehr wünsche, dass wir nun beisammen blieben, so spät im Leben. Und du, du wünschst es dir auch, nicht in einer Woche, aber auch nicht in unabsehbarer Ferne? Ist es so?"
"Ja, ich möchte es auch." Und wir küssten uns, als sei dies ein Verlöbnis. Und es war ja auch eins.

"Nun fehlt nur noch eins in unserem Erzählgespräch: Wie war es für dich, Ursa, als wir voneinander kamen 1955? War's nicht auch September?"
"Ja, es war der 5. September. Zwei Monate hatten wir uns nicht gesehen, Sommerreisen, die nicht überein passten, und dann noch diese Klassenreise bei mir, die erste überhaupt. So etwas gab es hier nicht.
Unser Liebhaben war ausgedörrt, weil wir uns nicht nach Belieben sehen konnten, weil noch sorgfältiger als früher jedes Treffen beim vorigen schon verabredet werden musste. Nie mehr konnten wir ohne die Diktatur der Uhr sein. Alles war geplant, und nichts war leicht. Oder noch klarer: Das Fahren zu dir hatte angefangen, mir eine Last zu werden, auch wenn wir nicht darüber sprachen. Und nun war ich neu verliebt, obwohl ja zu ahnen war, dass daraus nicht viel würde. Aber ich war nicht gekommen, um mit dir Schluss zu machen. Ich wusste selbst nicht, was ich wollte.
Und da hast du gesagt, und es fuhr mir wie ein Schrecken durch den ganzen Körper, du hättest dich auch verliebt, vor Wochen schon, und eigentlich sei das Mädchen deine Freundin, und du könntest nicht zweien treu sein, und du hättest es mir ja nicht schreiben können, an meine Deckadresse für einen äußersten Notfall, sofort sowieso nicht, weil ihr ja erst mal hättet sehen müssen, was werden würde, aber ja auch später nicht. Du wolltest sehr lieb sein und es mir leicht machen, oder du dachtest wohl sogar, was ja stimmte: Es sei mir eine Erleichterung, endlich diese Fahrerei nicht mehr zu haben. Ja, du wolltest, dass wir uns trennten, nicht mit lang hingezogenem Schmerz uns vertrauerten, und wolltest auch der Neuen gegenüber endlich frei sein. Deshalb warst du froh, dass auch ich mich verliebt hatte und hast das auch wohl ganz gerne für gewichtiger angesehen, als es war. Und so gingen wir, stadteinwärts die Schönhauser entlang Hand in Hand, wie immer, zum Jüdischen Friedhof und sprachen von Trennung und jetzt und gleich, und du wolltest mir noch etwas zum Abschied schenken, deinen Westfüller, den du so sehr mochtest. Irgendwer aus der Familie hatte ihn dir geschenkt. Es war eine ganz seltsam unwirkliche Situation.
Über den Füller gab es dann einen Streit, lang und unnötig heftig, weil ich mich ja nicht hatte trennen wollen und also auch kein Abschiedsgeschenk bei mir hatte, kein Äquivalent gewissermaßen. 'Ursa', hast du da gesagt, 'sei nicht so, wie du mir deine Mutter beschrieben hast und deine Großmutter und deine Tante, die nichts annehmen können außer im Tausch. Nimm ihn an, diesen Füller, bitte, bewahre ihn. Ich habe mit ihm die Briefe geschrieben, die wir hier gewechselt haben, und die, die ich dir mitgegeben habe bei deinen Besuchen hier. Lass uns unsere Liebe nicht vergessen, die erste für uns beide, diese so frühe, so schöne Liebe.. Was aus ihr an einem anderen Ort geworden wäre, das wissen wir nicht. Sie ist diesem sozialistischen System zum Opfer gefallen. Eine allerletzte Begegnung, extra für den Abschied, das könnte nur verkrampft werden.'
Da nahm ich den Füller an, steckte ihn in eine Tasche meines Anoraks wie ein zufälliges Fundstück. Aber eine letzte Umarmung wollte ich erst nicht annehmen, ging fort mit ausgebreiteten Armen, die Handflächen nach hinten gedreht, dir so jeden Versuch verbietend, dich noch einmal zu nähern. Zum S-Bahnhof ging ich, heulend, vergaß eine Fahrkarte zu kaufen, die du mir dann auf dem Bahnsteig von hinten in die linke Hand stecktest. Ich nahm die Karte und drehte mich doch nicht um, stieg dann in die nächste Ringbahn. Du stiegst mit ein, batest dringlich, ich möchte an der nächsten Station, Prenzlauer Allee, noch mal mit dir aussteigen. Da fiel ich dir weinend um den Hals und sagte, dass ich dich doch nicht verlieren wollte, dass wird doch füreinander bestimmt seien. Da sagtest du's nochmals: 'Wir wären vielleicht füreinander bestimmt, wenn wir nicht auf zwei Seiten einer unsichtbaren Mauer lebten.' Aber was wissen wir denn schon? Und wir küssten uns mit der Inbrunst wie im Sommer 1953, dem Sommer des Juniaufstands und deiner Rügen-Reise. Und stiegen dann in Züge, die in entgegengesetzte Richtungen fuhren. Das ist so etwa meine Erinnerung, Hajo."
"Meine ist etwas anders, mindestens über das, wie's in mir aussah. Die Freundin war dir sehr ähnlich, Ursa, das habe ich damals nicht gesagt. Ich liebte in ihr wohl zuerst dich, also auch so eine Projektion, und tat ihr Unrecht dadurch; je länger wir zusammen waren, desto mehr. Und liebte dich immer noch, glaub' es mir, und war also zerrissen zwischen dir und ihr. Dich aber hatte ich zu selten gesehen, als dass die Liebe nicht mit der Zeit verblassen sollte, dir konnte ich nicht schreiben, nicht mit dir telefonieren. Das alles konnte ich mit Sabine. Ich weiß, dass ich dir furchtbar weh getan habe mit diesem harten schnellen Abschied, aber ich hatte es ihr versprochen, weil sie es verlangt hatte. Und ich glaube noch heute, dass die Härte der Trennung sie auch dir leichter gemacht haben müsste, nach einiger Zeit jedenfalls. Und von dir nicht zu Sabine sprechen, das konnte ich auch nicht. Du weißt, taktieren, meinen Vorteil suchen, das kann ich nicht, selbst wenn mir das zum Nachteil ausschlägt. Der Füller war das Kostbarste, was ich besaß, deshalb solltest du ihn haben, hüten und bewahren und benutzen natürlich. Das hatte ich vergessen, dir zu sagen."
"Ich habe ihn benutzt, nach einiger Zeit. Zu Hause fiel er auf, weil er so teuer aussah, wie er wohl gewesen ist. Ich sagte, ich hätte ihn im Lichtenrader Wäldchen gefunden, verdreckt, und hätte eigentlich nicht geglaubt, dass mit ihm noch zu schreiben sei, aber hätte ihn gesäubert. Doch, ich habe ihn lange gehabt. Sogar meine Abiturarbeiten habe ich noch mit ihm geschrieben. Ich hab' mal ein Foto vom Schreibtisch meines Vaters gemacht, der ja auch mein Arbeitsplatz war, so mit Büchern und Heften. Aber das Foto galt eigentlich dem Füller. Bald danach ist er mir in der Uni geklaut worden. Das Foto habe ich noch, die Negative auch. Du bekommst einen Abzug."

So waren wir also in unserer Gegenwart angekommen, Hajo, der mein allererster Freund gewesen war und der nun, wie es schien, mein Lebensfreund sein wollte und sollte. Was für Zufälle hatten dafür zusammenkommen müssen, Karlchens Aufmerksamkeit und sein liebevoll-besorgter berlinischer Tadel vor allen anderen. Dass wir immerhin doch das miteinander erlebt hatten, was gewesen war, trotz meiner Eltern, die alles verboten, was nur zu verbieten war, deren Verbote ich hasste und doch anerkannte, indem ich sie zu umgehen suchte; trotz der ständigen Gefahr für uns, als Paar erkannt zu werden; trotz aller Einschränkungen, die Hajo als Sohn seines supersozialistischen Vaters zu ertragen hatte und obwohl wir schließlich noch in unterschiedlichen politischen Systemen lebten; trotz der Trennung, als wir 15 und 16 waren, die doch eigentlich kaum zu vermeiden war - alles war letztlich schön und unendlich kostbar gewesen.
Und nun saßen wir in der Wohnung, die Hajo immer bewohnt hatte, saßen umarmt auf dem Sofa im großen Wohnzimmer, und seine beiden Hände lockten uns wieder in einen Rausch der Liebe. Das war das eine, von beiden so lange entbehrt, dass wir es schon nicht einmal mehr als Entbehrung empfunden hatten. Und nun hatte ich ihn wiedergetroffen, den Freund meiner frühesten Jugend, und wir können den restlichen Teil des Lebens zusammen verbringen. In welcher Stadt? In einer gemeinsamen Wohnung? Sicher nicht in seiner, die ihm und mir zu schicksalsbeladen ist.

Das Erzählbare endet hier.

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