Samstag, 28. Juli 2007

JOHANNA BRANDER

In dem Jahr, in dem ich den wunderschönen Sommer in Kladow erlebt hatte, demselben Jahr, in dem ich im Herbst gefürchtet hatte zu verbluten, demselben auch, in dem ich im Februar die Töppersche und Jürgen Kammer kennen gelernt hatte, 1951, als ich elf war, einem sehr bewegten Jahr also, begann ich, nachmittags unruhige Wege ums Quarree erst zu gehen, dann zu laufen, nicht viel weiter als der Schulweg. Ich hielt es schwer aus nach der Schule in der Wohnung mit meiner Mutter, die sich so unbehilflich gezeigt hatte, als aus mir das Blut geströmt war, die mir nichts hatte erklären können. Ein Kind, das nun Kinder bekommen konnte, machte ihr sicher neue Sorgen. Eigentlich hatte sie mich seitdem mehr in der Wohnung behalten wollen. Das sagte meine Großmutter mir. Diese archaische Verpflichtung noch immer, dem Mädchen den Heiratswert, also die Jungfräulichkeit, erhalten zu wollen! Wieder war es mein Vater gewesen, der sich mit seiner Mutter beraten und dann für mich die Spaziergangserlaubnis gegeben hatte. Denn mein Bewegungsdrang, der damals gewaltig gewesen sein muss, der mich zum Beispiel auch im einen Haus die Treppen hinauf laufen ließ, dann über den gemeinsamen Dachboden rennen und im anderen Haus wieder herunter, der hatte die Mitbewohner gegen mich und damit gegen die Mutter aufgebracht. Als ihr die Entscheidung abgenommen war, ließ sich mich ganz gern gehen. Ich glaube fast, es ging ihr gar nicht darum, dass mir nichts passierte, sondern sie wollte nur, dass sie nicht schuld war, falls mir etwas passierte.
Ich rannte also ums Quarree, so lange ich Puste hatte, eine Joggerin, ehe bei uns das Wort bekannt war, aber nie eine ausdauernde. Ich wollte mir beweisen, glaube ich, dass ich trotz des sich monatlich wiederholenden unappetitlichen Ereignisses doch noch ein Kind war, das laufen durfte oder Springseil springen. Sportlich war ich dabei gar nicht.. Nichts, was wir im Schulunterricht im Fach Sport machten, das noch Turnen hieß, interessierte mich, und ich interessierte die Lehrerinnen nicht, die schon damals den Auftrag gehabt haben müssen, Talente zu suchen, nicht nur beim Schwimmen. An meine '3' in Turnen, die bis zum Abitur bei den verschiedensten Unterrichtenden wiederkehrte und ja wohl richtig gewesen sein muss, hatte ich mich schon gewöhnt. Sie stand da auf dem Zeugnisblatt, war die schlechteste Note, die ich je hatte außer im folgenden Jahr, in dem ich nicht schwimmen lernte, aber für mich zählte sie nicht. Eine Note in Turnen war keine Aussage über mich.
Da traf ich nun einmal bei meinen Rennereien in der Wisbyer Straße die junge Frau Brander aus dem Hinterhaus, die dort mit ihrem kleinen Sohn wohnte und mit ihrer Mutter, wie ich glaubte. Es war so etwas wie ein Geheimnis um sie, das ich nicht verstand, auch nicht, warum manche sie beharrlich 'Fräulein Brander' nannten. Diese beiden Erwachsenen sahen nicht aus wie Leute, die in Hinterhäuser gehörten, weder nach ihren Gesichtszügen noch in der Kleidung, auch das Kind nicht, der kleine Sohn. Es war immer sorgfältig gekleidet und gekämmt und hatte sehr feine Gesichtszüge. Natürlich war ich auch der jungen Frau Brander gelegentlich im Hof oder im Hausflur begegnet, hatte bisher noch immer einen Rest meines Kinderknickses nicht unterdrücken können, was ich doch, dies nun wirklich, trainierte. Ich hatte also bisher immer nur gegrüßt und war vorbei gegangen, und auch sie hatte mich nicht in ein Gespräch gezogen. Warum auch, ich war doch bloß ein Kind. Wenn ich aber sie sah, wünschte ich immer, ein paar Jahre älter zu sein. Denn sie sah aus wie jemand, mit dem man reden könnte, wenn man eben alt genug war, für sie als Gesprächspartnerin interessant zu sein.
Aber da auf der Straße blieb Frau Brander unerwartet stehen und sprach mich an:
"Wie schön, Ursa, dass wir uns einmal nicht im Haus begegnen. Du springst Springseil. Möchtest du trotzdem ein Stück mit mir gehen? In deine Richtung oder in meine, das ist egal, nicht? Am Ende wollen wir ja doch beide nachhause. Trainierst du für irgend etwas?"
Ich war völlig verblüfft über die Anrede, verblüfft und erfreut. Trotzdem wollte ich nicht erklären, warum ich mich so auffällig über die Straße bewegte, und sagte bloß:
"Ach, nur so."
"Klar", sagte sie, "du hast den ganzen Vormittag in der Schule gesessen, und ich habe lange in der Uni gesessen. Da tut es gut, sich hinterher ein bisschen auszulüften, nicht?"
"Ja", sagte ich. Das war nicht falsch, wenn auch nicht mein wahrer Grund, aber den konnte ich ihr doch nicht gleich erzählen, wenn wir uns einmal auf der Straße getroffen hatten und ich ja gar nicht wusste, ob wir uns wieder treffen würden und ob sie dergleichen überhaupt wissen wollte, von einem elfjährigen Kind, obwohl ich es mir zugleich sehr wünschte.
Wir gingen dann durch die Varnhagenstraße zurück, nicht durch die Greifenhagener. Das war ganze zwei Straßen weiter als die Scherenbergstraße, wo meine Schule lag, und ich fand es ziemlich aufregend, ließ mir aber nichts anmerken. Vor unserem Haus Kuglerstraße 1, das wir über die Erich-Weinert-Straße (oder hieß sie damals noch Carmen-Sylva-Straße?) und die Schönhauser erreichten, sagte Frau Brander zu mir:
"Wenn du magst, besuch mich doch mal. Vielleicht gibt's ja dabei ein bisschen Seilspringen mit der Seele."
Sie lächelte mich an. Sie fragte mit diesem Lächeln, ob ich das wohl verstanden und also auch verstanden hätte, dass sie selbst mehr begriffen hatte, als aus meiner kargen Auskunft zu entnehmen war. "Nur so", das glaubte sie nicht.
"Ja, gerne", sagte ich zurückhaltend. Dabei war mir eigentlich zum Jubeln zumute. Jemand hatte mich eingeladen, von sich aus und nicht wie Anna Lankau, die Töppersche, weil ich mein Interesse an ihr ja ziemlich dringlich kundgetan hatte.

Die Gelegenheit zu einem Besuch bei Johanna Brander ergab sich ungeplant und auf zuletzt reichlich komische Weise. Es war nämlich Erntedankfest bald nach unserem unverhofften Treffen auf der Straße. Ich war ja damals, schon vor dem Konfirmandenunterricht, sehr fest in der Paul-Gerhardt-Kirche verwurzelt, und im Kindergottesdienst war uns eine Woche zuvor gesagt worden, die Gaben, die am folgenden Sonntag vormittags am Altar liegen würden, sollten wir Kinder nachmittags alten Leuten bringen, die in unserer Nähe wohnten. Für mich war das eine der alten Frauen aus dem Hinterhaus, Frau Seidel oder so ähnlich hieß sie. Vor diesem Besuch hatte ich Angst. Denn bei ihr war ich schon einmal gewesen, einen Brief meiner Großmutter abzugeben, eine Mahnung wegen ausstehender Miete wohl. Zuvor war ich noch nicht ein einziges Mal in dem Treppenhaus gewesen, in dem es ganz schrecklich unsauber roch nach einer Mischung aus Ungewaschensein und Kohl- und Klodünsten, wo die Treppen knarzten, wo am Geländer Stäbe fehlten und die dumpfe Beleuchtung ausging, ehe ich den dritten Stock erreicht hatte. Dort wohnte links Frau Seidel, das hatte die Großmutter mir gesagt. Aber sie hatte nicht gesagt, dass es keinen Klingelknopf gab, nicht etwa einen, der nur kaputt war wie die Klingelknöpfe in jedem unserer Zimmer, mit denen frühere Bewohner das Dienstmädchen herbeigerufen hatten, so 'herrschaftlich' wohnten wir oder richtiger: als derartig 'herrschaftliche' waren die Wohnungen der beiden Vorderhäuser Schönhauser Allee 89 und Kuglerstraße 1 einmal gebaut worden, so etwa 45 Jahre zuvor, für mich aber in ferner Vergangenheit.
Nein, es gab einfach keinen Klingelknopf bei Frau Seidel, und ich musste klopfen. Daraufhin geschah erst einmal gar nichts. Nachdem ich mich endlich getraut hatte, stärker zu klopfen, denn mir war eingefallen, dass alte Leute manchmal schwerhörig sind, vernahm ich schlurfende Schritte, die zur Tür kamen, und die wurde hinter einer Kette einen Spalt breit geöffnet. Das genügte, um zu sagen, wer ich sei und dass ich nur etwas zu übergeben hätte von Frau Zinke. Gesehen hatte ich Frau Seidel nicht, nur die dünne, spinnenfingrige Hand, die nach dem Brief griff. Schnell war ich verschwunden. Die Erklärung für den fehlenden Klingelknopf kam später von der Großmutter: Die Hinterhaus-Wohnungen seien kurz nach der Jahrhundertwende ohne Elektrizität gebaut worden. Nach und nach hatten die Mieter sich ans elektrische Netz anschließen lassen, nur die Frau Seidel nicht, die von Anfang an diese Wohnung bewohnt hatte. Sie sitze bei der Petroleumlampe wie seit je, und es fehle ihr nichts.
Nun also sollte ich wieder zu der Spinnenfingrigen, deren Stimme so hexenhaft geklungen hatte. Diesmal würde sie ihre Tür öffnen müssen, wenn sie den Korb mit Obst und Gemüse annehmen wollte. Die ganze Woche bis zum Erntedanktag stellte ich mir das Hinterhaus vor, den üblen Geruch, die Ärmlichkeit und dass die Frau Seidel bei einer Petroleumlampe saß. Ich ging höchst ungern zu ihr.
Woher kam übrigens das, was ich ihr bringen sollte? Aus den Schrebergärten von Gemeindemitgliedern? Oder war es gekauft worden? Zum ersten Mal gehörte ich zu den Kindern, die aufgefordert worden waren oder gebeten, solche Gaben zu verteilen. Nun ja, bisher war ich dafür zu klein gewesen. Und in den früheren Jahren waren wohl auch nicht so viele Erntedankgaben zusammen gekommen, dass sie hätten verteilt werden können. Und was war eigentlich mit den Alten im ganzen übrigen Jahr? Kümmerte sich denn jemand um sie und wie? Ich nahm mir vor, das zu fragen.
Vom Kindergottesdienst brachte ich dann den Korb mit. Es war ein Familien-Kaffee-und-Kuchen-Sonntag. Und es gab sogar, dank der Tante, wieder echten Kaffee für die Erwachsenen. Um drei sollte ich hinübergehen und nicht zu lange bleiben. Mutter und Großmutter taten noch jede etwas in den Korb, ein Tütchen Kaffeebohnen aus dem Westen (man mahlte die damals noch selber) und vom Kuchen. Das gehörte sich schließlich, beruhigte auch das schlechte Gewissen, das mindestens die Frauen hatten, weil sie ja selber nicht zur Kirche gingen.
Tapfer stieg ich die Treppe hinauf in den dritten Stock, klopfte diesmal gleich recht kräftig, hörte nach einiger Zeit die schlurfenden Schritte, sah im dumpfen Licht des Oktobernachmittags Frau Seidels lange dürre Finger in der wieder nur spaltweit geöffneten Tür und sagte mein Sprüchlein etwa so auf, wie es uns die Gemeindeschwestern beigebracht hatten.
"Mir hat noch nie jemand was geschenkt", sagte sie abwehrend. "Was soll das? Kenn' ich dich überhaupt?"
Ich sei die Ursa, sagte ich, einige Wochen vorher mit einem Brief bei ihr gewesen, die Enkelin der Hausverwalterin.
Das genügte wohl. Sie argwöhnische Alte zitterte die Kette aus der Verankerung und stand, groß und hager, in einem speckigen Bademantel vor mir, dessen schnell zusammengeschlungener Gürtel sich langsam löste, so dass ein ehemals weißes paspeliertes Nachthemd im fahlen Licht der grünschirmigen Petroleumlampe sichtbar wurde. Sie nahm den Korb an wie etwas aus einer Welt, an der sie nicht mehr Teil hatte. Die Körbe waren aus Weidenzweigen von einer Frauengruppe geflochten worden und brauchten nicht zurückgegeben zu werden. In jedem Korb lag eine Einladung zu einem Altenkreis der Paul-Gerhardt-Gemeinde. Vielleicht war das die letzte Einladung an Frau Seidel, irgendwo zugehörig zu sein. Sie sei aber nicht hingegangen, hatte Frau Brander später von Frau Rausch erfahren, die sich um die Alte kümmerte, so weit die es zuließ. Nein, 'Senioren' hießen die Alten noch nicht und die Kinder nicht 'Kids', und die jungen Mädchen waren 'Backfische'. Es war noch nicht so, dass die Jugendlichen bloß kraft ihrer Jugend bestimmen wollten, wie die Welt sich drehen sollte. Jungsein war kein Wert an sich. Unbefragt galten die Werte der Älteren.
Wie erhofft, wurde ich nicht in die ungelüftete kleine Wohnung genötigt und war also nach wenigen Minuten wieder frei. Alles halb so schlimm gewesen! In der Freude darüber sprang ich die Treppen hinunter, blieb bei der zweiten Stiege aber irgendwo hängen, fiel auf den Hintern und glitt auf dem ziemlich schmerzhaft die letzten Stufen herunter bis vor die Wohnungstür von Frau Brander, wo ich erst mal sitzen blieb und mir das Heulen nicht verkneifen konnte.
Noch ehe ich versuchte aufzustehen, öffnete sie die Tür, zog mich behutsam hoch und in die Wohnküche, wo der kleine Felix auf der Couch saß und es sehr ulkig fand, wie ich hereingekommen war und dass auf meinem Hintern nun lauter blaue Flecken wachsen würden. Felix Andreas Florian hieß er mit vollem Namen, das sagte er mir gleich voller Stolz.
"Du hättest auch zu Fuß kommen dürfen, Ursa", lachte Frau Brander,
"tut es sehr weh?"
Sie ließ mich die Füße und die Knie bewegen, und da schien nichts gebrochen. Also noch einmal gut gegangen. Aber der eine Knöchel war schon angeschwollen. Ob sie mir eine Salbe drauf geben dürfe, fragte Johanna Brander. Ja. Von ihr ließ ich mich gerne so versorgen.
"Nein, es tut nicht besonders weh", sagte ich mehr tapfer als wahrheitsgemäß. "Es geht schon. Ich hab der Frau Seidel über Ihnen einen Erntedankkorb gebracht. Aber es ist ja schrecklich bei der. Und als ich zum Glück schnell fertig war, hab' ich nicht mehr auf die Stufen geachtet, und da ist mir ein Fuß weggerutscht, und so bin ich dann vor Ihre Tür geplumpst. Nun bin ich also da. Aber was fangen Sie denn mit mir an? Zu Hause spricht niemand wirklich mit mir, auch mein Vater nicht mehr, seitdem ich manchmal Widerworte gebe, wie das bei uns heißt. Dabei hätt' ich so gerne jemand, mit dem ich reden kann. Wenn ich jetzt drüben bin, werden sie wieder bloß Kuchen essen und streiten."
"Wenn du willst, kannst du mit mir sprechen", sagte sie. "Ich weiß, wie das ist, wenn einem die Mutter fehlt. Meine hat mich 'rausgeschmissen, als ich mit 17 den Felix hier kriegte. Sein Vater ist nur ein paar Tage nach seiner Geburt im Krieg gefallen, wie das damals hieß. Aber die Schwiegereltern hatten mich schon lange vorher bei sich aufgenommen. Meine Schwiegermutter wohnt hier mit mir. Der Schwiegervater ist bei einem Bombenangriff gestorben, im Nachbarhaus, das versackte davon und begrub ihn und die Nachbarn unter sich. Wir gingen meistens nicht in den Keller, diese Nachbarn auch nicht. Damals wurden wir hierher eingewiesen, wo gerade eine von den mumienhaften alten Frauen gestorben war. Sie leben lautlos und unsichtbar und verwelken auch so. Irgendwie schien mir das ganze Haus voll zu sein von ihnen. Nur die Familie Rausch ist anders. Ihren Sohn, den Dietrich, kennst du ja sicher. Der muss etwa gleich alt sein wie du."
"Ja, ich kenne ihn. Er ist der einzige von diesen blöden Jungs, der mich immer gegrüßt hat. Und dann haben wir mal Ball gespielt hier im Hof. Alle konnten uns also sehen. Aber wir haben nicht nur Ball gespielt, sondern miteinander geredet. Und reden, das ist anscheinend gefährlich, nicht? Und wenn ein Junge und ein Mädchen reden, dann erst recht. Ich kriegte also Verbot, mich noch mal mit ihm zu treffen. Und da ja nichts weiter gewesen war zwischen uns, gab's keinen Grund, es heimlich zu tun. Das ist so was, das kann ich meiner Mutter nicht vergessen. Und ist nicht die einzige Sache. - Aber bitte entschuldigen Sie, Sie haben ja gerade erzählt, wie Sie hierher gekommen sind."
"Für heute kann das genug sein. Ich erzähle dir ein andermal mehr, wenn du willst. Du solltest jetzt nach drüben gehen, denn sie erwarten dich ja bei ihrer Kuchenschlacht."
Wir verabredeten uns für den Montag in einer Woche, zur Zeit meines Kinderkreises, wie im Frühjahr für die Gespräche mit Jürgen Kammer. Der Montag Nachmittag passte auch Frau Brander mit ihren Uni-Terminen, die ich noch überhaupt nicht verstand. Oder wir würden manchmal zusammen spazieren gehen. Das war mir ja hochoffiziell vom Familienrat erlaubt worden. Allein oder nicht, das hatte nicht zur Debatte gestanden, glücklicherweise, weil niemand drauf gekommen war, und ich würde bestimmt nichts von Frau Brander erzählen. Meine Mutter brachte es selbst dahin, dass ich ihr immer weniger mitteilte und log, wo's nicht anders ging, und ohne schlechtes Gewissen.
Ich solle nicht etwa auf die Idee kommen, irgendetwas mitzubringen, ein für alle Mal nicht, sagte Frau Brander. Seltsam, das war mir durchaus durch den Kopf gezuckt. Zwar gab es ja bei meinen Eltern niemals Besuch, wirklich niemals, und sie gingen auch nicht zu Besuch, sie hatten ganz einfach keine Freunde, nicht einmal Bekannte. Also gab es bei uns das Mitbringe-Problem eigentlich nicht. Aber bei der Großmutter waren manchmal andere Menschen, sowieso am Monatsersten die Hausbewohner alle, um die Miete zu bezahlen (wie ging das eigentlich, alle an einem Tag und das viele Geld in der Wohnung?), und zu den beiden Geburtstagen, ihrem und dem ihrer Tochter, kamen auch fernere Familienangehörige. Ich kannte keinen anderen als solchen familiären Geburtstagsbesuch, aber trotzdem hatte sich das Klischee festgesetzt: Man muss was mitbringen, wenn man wohin geht. Eine Eintrittskarte, als sei man ohne sie lästig und nicht willkommen.
Bei der Großmutter saßen sie so freudlos um den Esstisch, wie ich es erwartet hatte. Mein Vater war halb eingenickt. Er zog sich in sich selbst zurück, da er sich in der Wohnung seiner Mutter nicht an seinen graphologischen Schreibtisch zurückziehen konnte. Woran ich mich erinnere für diesen Nachmittag, das ist die Empfindung: Wie es bei Frau Brander so freundlich zugegangen war, wie wir gelacht hatten über die sehr spezielle Art, wie ich Einlass in ihre Wohnung begehrt hatte. Hier aber, bei den Meinen, war es wie immer bei ihnen, banal und aggressiv zugleich.
Am Abend, auf meiner Bettcouch im Wohnzimmer, hinter dem Paravent dachte ich weiter über Frau Brander nach. Diesen schwarzbunten Paravent übrigens, diese kostbare Lackarbeit, hatte der Herr Wedzicki sicherlich seiner Sekretärin zugedacht, damit sie das Ehebett, in dem sie neben der Mutter schlief, hätte vom Mutterbett fortrücken und sich mit dessen Hilfe eine kleine Privatsphäre schaffen können. Aber sie wagte das entweder gar nicht, oder die Mutter, die "Tyrannin", erlaubte es nicht. Was damals schon über 20 Jahre so gewesen sein muss, seit dem Tod des Ehemannes der Alten, das brauchte nun nicht mehr geändert zu werden, fand diese sicherlich. Hilde hatte sich gefügt. Aber es scheint mir möglich, dass sie erkannt hatte - kaum von allein allerdings, denn sie kannte es nicht anders - dass ihre Nichte wieder, wie sie selbst, als eine Tochter heranwuchs, der kein eigener Raum zugedacht war. Es ist wahrscheinlich Josef Wedzicki gewesen, der ihr den Gedanken nahe brachte. Wenn schon nicht ihr, Hilde, die er vielleicht geliebt hat, das kostbare Geschenk nützlich sein durfte, dann wenigstens mir. Und wie es mir nutzte! Es schluckte wirklich das meiste Licht der Schreibtischlampe. Schreibgeräusche und die von umgeblättertem Papier schluckte es nicht, aber die empfand ich nicht als besonders störend. Und mit dem Paravent am unteren Teil meiner Schlafgelegenheit entstand bei mir in meinem Winkel so ein bisschen das Gefühl von etwas Eigenem, das es in drei verschiedenen Wohnungen mit den Eltern aber niemals wirklich gegeben hat. Eigentlich war es immer mehr der Wunsch danach, ebenso wie die Höhlenphantasien aller Kinderjahre der Wunsch nach Eigenem waren. Die frühe Griechenland-Sehnsucht, mittelbar ja auch von Josef Wedzicki und einem anderen Reise-Geschenk für Hilde Zinke ausgelöst, war kein Widerspruch dazu. Der Wunsch, mich zurückzuziehen, ebenso wie das Fernweh drückten beide das Verlangen aus, ich selbst zu werden.
Frau Brander also! Es kam, da in der Bettecke, eine Erinnerung herauf, eine ganz frühe, als hätte ich sie und ihre Mutter (so dachte ich noch immer) lange Zeit nur in schwarzen Kleidern gesehen, also als Trauernde. Das war zu meiner Kinderzeit noch üblich: ein Trauerjahr ganz in schwarz oder, wenn man sich keine zusätzliche schwarze Garderobe leisten konnte, das Anzeigen der Trauer durch eine schwarze Binde, mit zwei Sicherheitsnadeln festgesteckt, am linken Oberarm. Langsam nur kehrte man aus der schwarzen Isolation in den Alltag zurück. Zuerst erschien vielleicht ein weißer Kragen an dem schwarzen Kleid, dann etwa eine schwarz-weiße Bluse zu schwarzem Rock oder was man so hatte. Ich glaubte mich nun auch zu erinnern an das ja ganz junge Gesicht dieser trauernden Frau, die auf dem Arm einen babybunt gekleideten Winzling trug, der zu dem Schwarz nicht passte, und überhaupt hätte ich die junge Frau wohl Mädchen genannt ohne die Trauerkleidung und ohne das Kind. Dass der Vater von Felix seinen Sohn niemals gesehen hatte, das hatte sie ja kurz schon angedeutet. Und wirklich, so fiel mir nun ein, ich hatte sie nie mit einem Mann zusammen gesehen. Kam es daher, dass manche von ihr sprachen als von "Fräulein Brander"? Immer schon hatte ich so etwas wie üble Nachrede dabei empfunden, einen massiven Vorwurf, den Versuch der Nachbarn aus den 'besseren' Wohnungen, aus den Vorderhäusern, sie als nicht zugehörig abzustempeln. Sogar den Luftschutzkeller konnte ich mir wieder ins Gedächtnis rufen, Babygewimmer und ein Gefühl, dass dieses Baby unter den Kellerasseln, die sie alle geworden waren, nicht willkommen war. Aber das kann auch eine später hinzugefügte Vorstellung gewesen sein.

Ich ging nicht schräg über den Hof zum Hinterhaus, sondern, Interesse für die Schuhmachermaschinen hinter dem Heidbrinkschen Laden heuchelnd, an den Hauswänden entlang. Mutter oder Großmutter hätten mich sonst sehen können, wenn sie zufällig hinausschauten aus ihren Küchenfenstern. Und für sie war ich ja zum Kinderkreis unterwegs. Eine Dauerlösung war es nicht, wenn ich Frau Brander in ihrer Wohnung besuchte. Aber von ihr wissen sollte meine Familie eben nicht. Ich wollte nichts erzählen müssen. Und ich dachte auch: Vielleicht würde ja gar nichts aus Gesprächen mit Frau Brander, vielleicht würde ich ihr bald langweilig werden. Ich war doch nur ein Kind.
Gar nicht sehr zuversichtlich, ziemlich zaghaft stieg ich beim ersten Mal die zwei Treppen zur Wohnung der Branders hinauf und klingelte. Felix öffnete, sagte erst nichts, aber dann: "Hast du noch blaue Flecken?" Alle lachten, und er wurde für seine Frage nicht etwa gescholten. Johanna Brander kam dazu, streichelte mich leicht mit zwei Fingern am Oberarm und fragte dabei auch, wie es meinem Allerwertesten gehe. Dann stellte sie mich der älteren Frau vor, die auch Frau Brander war und die mich freundlich und offen ansah und gleich sagte, den Knicks, diese dumme Kinderunterwerfungsgeste, sollte ich für nun und immer lassen. Dazu kommentierte Felix: "Ich muss auch keinen Diener machen wie andere kleine Jungs." "Da bist du schon weiter als ich, Felix. Dir hat man nie den 'Diener' beigebracht, aber ich muss mir den Knicks erst abgewöhnen. Erinnere mich dran, wenn ich's wieder mal vergesse." In dem Augenblick, glaube ich, ist Felix mein kleiner Bruder geworden. Er war ja nur vier Jahre jünger.
Johanna Brander hatte Tee gekocht, Pfefferminztee aus dem Westen Berlins, wo die Schwester der älteren Frau Brander lebte und wo diese oft zu Besuch war, keinen schwarzen Tee, denn Felix und ich sollten ja mit davon trinken können. Wir saßen in der Wohnküche um den Küchentisch; Felix auf zwei Kissen, ich brauchte keins, denn ich war gerade dabei, heftig zu wachsen und hatte fast schon die Größe einer Erwachsenen, aber einer ganz mageren, und groß war ich nur für eine Elfjährige. Später, so zeigte es sich dann, wuchs ich kaum mehr, und meine Größe blieb Mittelmaß. In dieser Kinderzeit nannte die Großmutter mich ihre "Bohnenstange".
"Sie haben gesagt, ich darf fragen", platzte ich heraus nach einigem anfänglichen Hin und Her. "Darf ich denn wirklich fragen, was ich wissen möchte, auch wenn sich das vielleicht nicht gehört?"
"Auch das verabreden wir heute ein für alle Mal", sagte die junge Frau Brander.
"Als noch Krieg war, glaube ich, sind Sie hierher gekommen. Und sind Sie da in schwarz gegangen, alle beide?" Johanna Brander atmete tief auf und nickte. Das war nun wohl doch eine Frage, die sie als erste nicht erwartet hatte.
"Ja, Ursa, als wir diese Wohnung zugewiesen bekamen, da war der Vater von Felix, also der Sohn meiner Schwiegermutter hier und mein Mann, gerade wenige Wochen zuvor gestorben, im Krieg 'gefallen', wie man so beschönigend sagt für dieses militärisch verordnete Sterben. Wahrscheinlich kennst du das Wort. Und mein Schwiegervater war auch vor kurzem gestorben, erschlagen von Mauerstücken des Nachbarhauses, wo er zum Schachspielen war. Wir hatten beide die Liebsten verloren, die wir hatten, beide unsere Männer. Wir wollten nichts anderes tragen als schwarz. Und kamen nun hierher, ich eine junge Frau mit Kind, die aussah wie ein junges Mädchen, das ich in anderen Zeiten ja auch gewesen wäre, glücklich oder unglücklich verliebt in einen jungen Mann, aber doch nicht Mutter. Nicht einmal 18 war ich. Und unsere schwarzen Kleider waren ganz unpassend elegant. Nur hatten wir keine anderen. Das beides fiel auf in den letzten Kriegsmonaten und danach, und viele haben uns scheel angesehen und haben uns ziemlich ungern Platz im Keller gemacht. Sie haben von mir auch gesprochen als "Fräulein Brander". Eine Frau hat sich mal versprochen und mich so auch angeredet. Wie ich das alles ohne meine liebe Mutter durchgehalten hätte, das weiß ich nicht. Ja, ich nenne sie Mutter, und nicht nur, weil's üblich ist, die Schwiegermutter so anzureden. Sie ist wirklich eine Mutter für mich."
Das ungefähr könnte Johanna bei meinem ersten verabredeten Besuch auf meine erste Frage hin gesagt haben. Hinterher erschien es mir doch so, als sei sie ungehörig gewesen. Das kam von Familienvorschriften her, die ich damals noch nicht als solche durchschaute. Aber diese Gebote: "das tut/das sagt/das fragt man nicht", die eigentlich alles Wichtige, Problematische, Ernsthafte betrafen, die gab es nicht nur in meiner freudlosen und unaufrichtigen Familie, sondern sie waren völlig üblich. Die Kinder in meiner Klasse kannten diese Frageverbote auch. Johanna aber hat mir ausdrücklich am Schluss dieses Besuchs noch einmal gesagt, dass ich hätte fragen dürfen nach ihrer schwarzen Kleidung. Auch ihr selber hingen solche Sprech- und Frageverbote nach, sagte sie, Verbote der eigenen Mutter.
Früh, noch in der allerersten Zeit, erzählte mir Johanna ihre Familiengeschichte. Ich mit meiner eigenen, an Menschen und Liebe kargen war seit meinem Gespräch mit Mutter Reiter übers Weiterleben nach der Menstruation begierig nach anderen Lebensgeschichten, die ich erfahren konnte. Und ihr, die ihre Geschichte noch nie erzählt hatte, außer dem Verlobten, machte die kindlich-wache, manchmal unkindlich verständige Elfjährige das leicht, wie sie sagte.
Felix' Vater kannte sie seit der Tanzstunde, seit sie 15 gewesen war, 1940/41 im letzten in Deutschland noch scheinbar friedlichen Winter. Der 18-jährige Andreas wurde manchmal zum Aushelfen gebeten, wenn es an Herren mangelte. Er war im letzten Schuljahr. Das Medizinstudium war ihm zugesagt worden, aber erst nach einem Jahr an der Front. Johanna und Andreas verliebten sich fast sofort ineinander. Dass das Leben schnell gehen, dass man möglichst viel hineinpacken müsse, weil man nicht wissen konnte, wie lange es dauern werde, diese Vorstellung hatten sie wie manche jungen Leute. Zwar hatte man sie alle geimpft mit einem Zukunftsbild von deutscher Weltherrschaft, zu der der Weg beinahe geradewegs führen werde, nur unterbrochen durch einen leider aufgezwungenen kurzen Krieg. Aber einem wie Andreas erschien es widersinnig, dass ein Medizinstudium durch eine Kriegsteilnahme erkauft werden musste, also die Erlaubnis, heilen zu lernen, durch die Verpflichtung, töten zu lernen. Johanna, die bisher noch mit ihrer Mutter ein, wie sie glauben konnte, behütetes bürgerliches Leben geführt hatte, hingerissen von Literatur, von Thomas Mann, dem Exilanten, den sie im häuslichen Bücherzimmer fand, und von Goethe, abgestoßen von der braunen Agitprop-Lyrik, Johanna verstand schnell, was Andreas meinte und mit seinen Eltern besprechen konnte. Eine aktive Widerstandsfamilie waren sie nicht, die Branders, hatten vielmehr recht zurückgezogen gelebt seit dem frühen Tod einer Tochter. Sie waren es aber von Anfang an der Gesinnung nach. Und seit Andreas' Kriegsteilnahme sicher war und damit der Tod des anderen Kindes eine gar nicht ferne Möglichkeit, da handelten sie auch, nahmen zum Beispiel Juden auf für einige Nächte, die illegal als so genannte U-Boote lebten. Viel mehr war nicht möglich, denn in ihrer feinen Nachbarschaft in Dahlem wohnten viele tiefbraune Familien, und die waren wachsam.
Sie beide hätten ja erst mal nur die wenigen Monate bis zu Andreas' Abitur 1941 gehabt, sagte Johanna. Das war zugleich die Zeit einer Ausbildung zum Sanitäter, die er freiwillig machte. Dann sei der 18-jährige Abiturient noch im Sommer in den Krieg gegen die Sowjetunion geschickt worden, mit dem doch niemand gerechnet hatte, weil es ja ein Abkommen zwischen den beiden Diktatoren gab, das niemand begriff, aber das viele für genial hielten, denn es würde den Krieg an zwei Fronten vermeiden. Andreas hielt diesen Überfall nicht für genial und den Krieg für nicht zu gewinnen. Als er in den Zug zur Front gestiegen sei, sagte Johanna, habe er in einer der Umarmungen des Abschieds zu ihr gesagt. "Die Geschichte wiederholt sich doch. Frankreich hat am 22. Juni 1940 kapituliert, aber Napoleons russischer Feldzug hat auch an einem 22. Juni begonnen, und eine schrecklich dezimierte Armee ist zurückgekrochen. Es wird wieder so sein, glaub' es mir. Und ob ich dann mit zurückkriechen werde, du meine Allerliebste im Leben, das wissen wir ja nicht. Halt das aus. Schreib mir. Von woher sonst soll mir Kraft kommen als von deinen Briefen und denen der Eltern? Und wenn du kannst, so glaub' daran, dass wir ein gemeinsames Leben vor uns haben."
Das sei eine Art von Verlöbnis gewesen, sagte Johanna, so jung sie war, noch nicht einmal 16. Und sich Andreas' Tod vorzustellen, wo sie doch in Liebe für ihn glühte, das habe sie nicht vermocht. Und nach einem Jahr sei er ja wirklich wiedergekommen und habe mit seinem Studium begonnen, kommandiert ("kommandiert, Ursa!") zur Medizin.
Die dann folgenden knapp eineinhalb Jahre waren die längste Zeit, die ihnen vergönnt war für ihre Liebe. Johanna ging zur Oberschule und bereitete sich auf ihr Abitur vor, Andreas absolvierte dreieinhalb vorklinische Semester. Schon damals waren sie beide, wenn sie nicht Radausflüge machten oder im Sommer im Strandbad Wannsee in scheinbarer Normalität gar nichts taten außer schwimmen und im Sand liegen und sich leise streicheln, meistens bei Andreas' Eltern. Johannas Mutter wendete nichts dagegen ein, warnte nur die Tochter manchmal unvermittelt und geradezu explosionsartig vor den Gefahren, die entstünden, wenn junge Leute die Grenzen überschritten, die ihnen als Verlobten noch gesetzt seien und zumal Johanna als einem noch längst nicht volljährigen Backfisch. Dann wieder kümmerte sie sich um nichts und war tagelang abwesend. Johanna und Andreas nahmen an, sie habe irgendwo einen Liebhaber.
Normal war natürlich gar nichts an der jungen Liebe, bald unter Bomben und mit der Aussicht für den jungen Mann, wieder in den Krieg abgefordert zu werden. An eine Rückkehr und gar eine unverletzte glaubte er schon nicht mehr. Aber das sagte er Johanna nicht. Eine aufwändige Verlobungsfeier wollte er nicht, und doch wurde es eine, schöner noch als die Feier, die seine Eltern der Schwiegertochter ausrichteten, als sie zu ihnen zog.
Dann kam die erneute Einberufung und wieder nach Osten, im Februar 1944. Die Wehrmacht war bereits weit zurückgedrängt nach dem Fall Stalingrads im Januar 1943, aber man schickte ihr weiter junge Leute zu. Die Kriegsmaschinerie stand nicht still. Die Propaganda schrie für den Glauben an einen "Endsieg" durch neue Waffen. Da, vor Andreas' erneutem Kommando zum Töten, war es Johanna, die schnell erwachsen geworden war, die die Verlassenheit ihres mütterlichen Hauses benutzte, Andreas zum verbotenen Überschreiten der Grenzen des Verlöbnisses zu bewegen, wie ihre Mutter das in so schrecklich feinsinnigen Worten ausgedrückt hatte. Unausgesprochen, kaum gedacht, sagte sie mir, sei es ihr Wunsch gewesen, ein Kind von Andreas zu empfangen. Wüsste er, dass ein Kind von ihm heranwuchs, so habe sie gehofft, werde er sich irgendwie vorsichtiger verhalten, falls möglich, als er es sonst wohl getan hätte. Denn dass er nicht wiederkäme, das vermochte sie sich nicht vorzustellen. Und dennoch gab es da im hintersten Gedankenwinkel das Vorgefühl, nie wirklich durchdacht, unausdenkbar, sie sähe ihn wirklich nicht wieder, obwohl sie sich natürlich nichts sehnlicher wünschte als seine unversehrte Rückkehr. Sie betete dafür, so wie sie als kleines Kind den großen Gott um die Erfüllung ihrer Kinderwünsche gebeten hatte. Käme aber Andreas trotz ihres Wünschens und Betens nicht wieder - und was war denn schon Wünschen, was war denn Beten, das dachte sie auch, während sie betete -, so bliebe vielleicht etwas, ein Kind, von ihm zurück, das sie hegen und großziehen wollte. Andreas glaubte nur an den schlechten Ausgang des Krieges insgesamt und seines soldatischen Tötungsauftrags im Besonderen. Aber er schlief mit seiner geliebten Johanna, weil sie es so innig erbat. Dass bei diesem einen Mal ein Kind gezeugt würde, das nach ihm leben würde, daran glaubte er nicht, wiewohl er als angehender Arzt natürlich wusste, dass es sehr wohl möglich sei. Er glaubte nicht daran, weil er es eigentlich nicht wollte, er wollte nicht bloßer Erzeuger sein, ohne Vater sein zu können. Mochten andere als Urlauber Kinder zeugen, mochten sie der sie bedrängenden Lust nachgeben, und das deutsche Volk brauchte schließlich eine nachwachsende Generation - er, Andreas Brander, wollte es nicht -, und doch ließ er dem Zufall oder dem Schicksal die kleine Möglichkeit, dass es geschah.
Wenige Wochen, nachdem er wieder fortgefahren war, hatte Johanna kurze morgendliche Übelkeiten und musste ein bisschen spucken. Es war nicht schlimm, eine geringfügige Lästigkeit, die sie erledigte, während sie sich das Frühstück machte. Die Mutter war dann immer schon gegangen, wenn sie überhaupt längere Zeit hintereinander im Haus war. Als die Regel ausgeblieben war, der Arzt die Schwangerschaft bestätigt hatte und nicht guthieß angesichts der Zeiten und des persönlichen Umfelds, teilte Johanna ihrer Mutter die Tatsache mit, nur als solche. Am folgenden Mittag fand sie nach dem Unterricht ihre Abmeldung von der Schule auf dem Küchentisch vor, volljährig war sie ja nicht, und sah sich von ihrer Mutter vor die Wahl gestellt, das Kind abzutreiben oder es dem Führer zu schenken und in eine Einrichtung des "Lebensborns" zu ziehen oder das Haus zu verlassen.
Die Spuren der Anwesenheit einer anderen Frau, das erkundete Johanna nun kaltblütig, waren im Schlafzimmer der Mutter inzwischen unübersehbar. In Schubladen fand sie Fotos der beiden beim Liebesspiel und nahm sie mit. Sonst hatte sie das ehemalige Elternschlafzimmer nach der Kinderzeit nie mehr betreten, seit der Vater nicht mehr da war. Eine Reaktion ihrer Mutter wie die drei ihr vor die Füße geworfenen Alternativen hatte Johanna vorausgesehen und mit Andreas' Eltern besprochen, die natürlich von ihrer Schwangerschaft zuerst erfahren hatten. Sie fanden das Verhalten der jungen Leute nicht verantwortungslos, aber verwegen, voller Romantik und doch zugleich von einem so tiefen, ernsten, skeptischen Realismus erfüllt, wie sie ihn vor allem der jungen Braut nicht zugetraut hatten. Sie luden sie ein, bei ihnen zu wohnen, in Andreas' Zimmer. Sie schrieben mit ihr den Brief, der die abtrünnige Mutter zur Unterhaltszahlung für die Tochter verpflichten sollte. Die Fotos, die ihren Lebenswandel dokumentierten, und die versuchte Anstiftung zur Abtreibung, Straftatbestände damals, bewirkten, dass das funktionierte. Selbst ein Zivilprozess darüber hätte im totalitären Staat möglicherweise noch "funktioniert", in dem zugleich der so genannte Volksgerichtshof Todesstrafen vom Fließband ausschleuderte. Regelmäßig zum Monatsersten kam der Geldbriefträger zu der jungen werdenden Mutter. Für das heranwachsende Enkelkind wollten die Branders alle Kosten übernehmen.
Johannas Rauswurf aus der Schule war nicht zu widerrufen. Das Abitur hätte sie machen können, noch ehe das Kind geboren war. Aber es war ein privates Kind, kein dem Führer geschenktes. So blieb ihr nur, privat weiterzulernen. Sie glaubte an ein nun baldiges Ende des Krieges und an das Ende der Naziherrschaft und lebte in ihrer Liebe. Nach dem Krieg würde sie das Abitur ablegen und irgendwann ein Studium anfangen. Biologie schwebte ihr vor. Andreas würde wieder da sein und sein Medizinstudium beenden. Sie würden noch weitere Kinder haben. In was für einem Deutschland das alles, wo doch die meisten großen Städte zerstört waren, wie es sein würde nach bedingungsloser Kapitulation und unter Besatzungsverwaltung, das stellte sie sich nicht vor. Kaum jemand tat es, vielmehr bestärkte die Kapitulationsdrohung bei den meisten ja einen "fanatischen" Durchhaltewillen, wie ihn die Propaganda befahl. Fast alle dachten nur an das Brot des folgenden Tages.
Andreas war zutiefst gerührt und zutiefst verstört, als er die Nachricht erhielt, dass er Vater werden würde mit 21. Er aber sah vielleicht nun in Johannas Schwangerschaft vor allem die Bestätigung seiner Todesahnungen. Seine Briefe sagten es nicht, seine Tagebücher jedoch überdeutlich, d.h. die gekritzelten Notizen in seinen Büchern. Tagebuch zu führen war für Soldaten nicht erlaubt. Ein Kind, ein Sohn (er dachte immer an einen Sohn, wenn er an sein Kind dachte) würde ihn ersetzen, nicht ihn zum Vater machen.
Charlotte Brander sorgte erst einmal für das am nächsten Liegende, Johannas Umzug ins Haus der Schwiegereltern, in Andreas' Zimmer, das sie liebte. Ihren Schrank mit Kleidern und Wäsche nahm sie mit, ihre Bücher, die noch nicht allzu zahlreich waren, Schreibzeug und was sie an schönem Schreibpapier noch besaß und nur für nicht abzuschickende Briefe an Andreas benutzte, denn die weggeschickten hatten Feldpostbriefe zu sein mit beschränkten Mitteilungsmöglichkeiten. Aus ihrer ganz frühen Kinderzeit packte Johanna einen abgeliebten Teddy namens Bamse ein, aus der späteren alle Bilderbücher. Ein Sessel kam noch dazu, ein samtbezogenes Fußbänkchen und zwei altmodische Samtkissen. Das alles stammte von ihrer Großmutter Reinecke, die sie nicht mehr gekannt hatte. Auch einen kleinen Wollteppich packte sie ein, den ihr Vater ihr einmal aus Ägypten mitgebracht hatte, ehe er aus ihrem Leben verschwunden war, "weggegangen", sie hatte nie erfahren, wohin. Ein Baum war darin gewebt, dessen Wurzeln sich in die fruchtbare Erde des Nilschlamms senkten. Zwei Ibisse stakten im Wasser, zwei kleine ländliche Häuser standen am Ufer, und die Zweige des Baums reckten sich der Sonne zu, verbanden den Himmel mit der Erde und beschützten, was auf ihr lebte. Darin sah das von beiden Eltern verlassene Mädchen eine einfache, aber heile Welt, wie es sie nie erlebt hatte, wie es sie aber mit Andreas für die gemeinsamen Kinder schaffen wollte. Die Spannungen zwischen ihren Eltern hatte Johanna früh erspürt, und das erklärungslose Wegbleiben des Vaters empfand sie noch immer als verletzenden Verrat. Er konnte im KZ sein oder noch eben rechtzeitig aus Deutschland entkommen, oder es war gar nichts Politisches mit ihm.
An der linken Hand trug sie den schmalen Ring mit dem Lapislazuli, der Andreas' Großmutter Brander gehört und den er ihr als Verlobungsring geschenkt hatte.
Ihren geliebten Schreibtisch mit den vielen geheimnisvollen Fächern ließ sie zurück, auch das Sofa, das ebenfalls von der Großmutter stammte. Es würde nicht auch noch in Andreas' Zimmer passen. Schon der Kleiderschrank fand nur nebenan in einem unausgebauten Teil des Dachgeschosses von Branders Haus Platz. Und ob alle seine und ihre Sachen im Kindheitshaus oder hier oder überhaupt erhalten bleiben würden, das wusste ja niemand. Sie trennte sich erstaunlich leicht vom Zimmer ihrer Kindheit und Jugend, stellte sie fest, als sie sich im Fortgehen noch einmal umsah. Den Schlüssel zum Haus nahm sie mit.
Was sie mitgebracht hatte an Besitz wurde mit einem kleinen Elektrokarren transportiert. Es wurde so aufgestellt, wie es eben möglich war. Dann gaben beide Branders für Johanna ein feierliches Abendessen. Feierlich war es nicht durch die Speisen, die nur noch bescheiden sein konnten, feierlich aber durch eine Fülle von Kerzen auf den beiden Silberleuchtern, die sie bisher nur bei ihrer Verlobungsfeier in Benutzung gesehen hatte, und feierlich auch dadurch, dass eine Flasche Wein geöffnet wurde, am feierlichsten aber dadurch, dass zu ihrem Willkommen Charlotte und Friedrich Brander jeder eine kurze Rede auf die Schwiegertochter und auf das junge Paar und auf das werdende Kind hielten. So unsicher die Zukunft auch war: Johanna Reinecke fühlte sich von Liebe eingehüllt.

Den ersten Abend in Andreas' Zimmer hat sie mir auf meine Bitten in den ersten Jahren unserer anwachsenden Freundschaft mehrmals erzählt, ungefähr so:
"Ich stieg dann die Treppe hinauf, die ich ja kannte, trat ans Fenster der Gaube zwischen unserem und dem Nachbarhaus, gegenüber der Zimmertür, die ich hinter mir schloss. Da stand die Linde, die Andreas' Großvater mit dem Einverständnis der Nachbarn gepflanzt hatte, damit sie einst beide Häuser überwölben sollte, die weit genug auseinander standen. Ja, er hatte wohl sogar, nur halb im Scherz, gesagt, eine tausendjährige Linde sollte es einmal werden. Ich liebte sie sehr. Jetzt im März stand sie noch kahl da, aber in einigen Wochen würde sie Blätter hervorbringen wie jedes Jahr, und von diesen Blättern würden immer noch welche da sein, wenn unser Kind geboren würde. Auch von der Linde fühlte ich mich sehr geborgen. Ich begrüßte dann jedes Möbelstück im Zimmer, als sähe ich es zum ersten Mal, den Schreibtisch unter dem Fenster zur Westseite mit den medizinischen Lehrbüchern darauf, Andreas' Bett, nun für mich bezogen, an der linken Seite der Tür seinen Schrank, daneben meinen Sessel mit den Kissen darauf und dem Bänkchen davor auf meinem kleinen Teppich. Meine anderen Sachen, auch die Bücher, die Schulbücher in der Schultasche, waren nebenan in dem unausgebauten Raum, der als Trockenboden diente.
Dann holte ich den Füller und mein Schreibpapier, legte es auf Andreas' Schreibtisch, setzte mich auf seinen Sessel und begann meinen ersten gedankenvollen Brief an ihn aus seinem Zimmer zu schreiben. Er wusste ja noch gar nicht, dass er ein werdender Vater war, wusste nicht, dass meine Mutter mich deswegen verjagt und von der Schule hatte verweisen lassen, wusste noch nicht, dass ich nun in seinem Zimmer wohnen würde, jedenfalls so lange, bis er wiederkäme. Denn daran zweifelte ich ja nicht. Aber dort im eisigen Osten, in seinem Schützengraben oder in irgendeinem Unterstand oder einem Bauernhaus oder wo er sonst wohl wäre, konnte ich ihn mit all meiner Liebe nicht erreichen, so sehr ich auch zu ihm hindachte. Und schrecklich war noch, dass ich ja wusste, meinen Liebesbrief würde ich noch zur Feldpostnachricht verkürzen müssen. Die wirklichen Briefe würde er nach dem Krieg lesen.
In dieser ersten Nacht in Andreas' Zimmer schlief ich nicht, oder manchmal glitt ich unterhalb einer milchig-weißen Wasserfläche entlang. Da schwammen mein ungeborenes Kind und mein Mann aufeinander zu, aber sie erreichten sich nicht. Der Mann glitt weg von der Oberfläche in eine Tiefe, in der seine Konturen sich langsam auflösten. Ich behielt den Traum, das hörst du ja, aber ich wollte ihn nicht als Wahrtraum ansehen und war überhaupt in jenen Tagen heiterer, als es meiner Lage entsprach, die doch völlig unklar war sowie die Kriegslage auch.
Aber ich genoss es, umsorgt zu werden von Charlotte, meiner Schwiegermutter. Und ich, die ich nun mit noch immer erst 17 ein Kind erwartete, fühlte mich selber einige Wochen so ähnlich, als sei ich ein Kind, ein Kind, das nicht zur Schule zu gehen brauchte, lange schlafen durfte und das bei Fliegeralarm von Charlotte getröstet wurde. Sie war ja sicher, auf den Vorort Dahlem würden die alliierten Flugzeuge weiterhin nicht gezielt Bomben abwerfen. Das sei doch bei der Einzelhausbebauung viel zu viel Materialeinsatz für viel zu wenige Tote, rechnete sie mir vor. Und außerdem sollte die Gegend ja als künftiges amerikanisches Hauptquartier bewahrt werden, sagte ein Gerücht, das sich nach dem Krieg als richtig herausstellte. Und so gingen wir nicht einmal immer in den Keller, sondern lagen zu dritt bei Verdunkelung in den Ehebetten und Friedrich las vor, meistens Novellen aus einer anderen Welt und Zeit, Storm und C. F. Meyer und Keller, denen ich zuvor als Schullektüren nicht recht etwas hatte abgewinnen können. An meine Mutter dachte ich wenig. Zu unserem Haus ging ich nie, denn ich wollte ihr oder ihrer Freundin oder beiden auf keinen Fall begegnen.
Ich spielte also das Kind in den ersten Wochen bei Branders. Charlotte verstand mich: Ich hatte mich an die neue Situation der Schwangerschaft noch nicht gewöhnt, meine Seele und mein Körper hatten sich noch nicht daran gewöhnt. Das ist üblich und ist noch verständlicher in Zeiten, in denen niemand sicher war, den folgenden Tag zu überleben. Friedrich Brander sah es nur mühsam ein, dass seine Frau mich meine Tage wie kindliche leben ließ. Aber er sah es dann ein. Er konnte zuhören und nachfragen. Und er glaubte seiner Frau, dass die kindliche Regression bei mir weichen würde. Er gehörte nicht zu den widerwärtigen Ehemännern, die sich um den Finger wickeln lassen, wenn man alles tut, was sie wollen, die aber nichts begreifen, wenn es nicht nach ihrer Mütze geht, die kein Gespräch führen können, aber trotzdem befehlen wollen. Solche habe ich später durchaus kennen gelernt. Man muss alle Kraft zusammenraffen, vor ihnen rechtzeitig Reißaus zu nehmen.
Auf meinen zu einem Feldpostbrief amputierten Liebesbrief aus seinem Zimmer an Andreas' Feldpostnummer, zu der ich keinen Ort wusste, kam erst nach Wochen eine Antwort. Er war mehr erschreckt als erfreut darüber, dass unser so leichtfertiges und so ernstes Liebesspiel sogleich eine ganz reale Folge gehabt hatte, und er fühlte sich bestätigt in seiner alten Erwartung, dass er das neue Leben nicht kennen lernen werde. Auch jetzt schrieb er es mir nicht, um mich zu schonen, schrieb es nur ins Tagebuch. Er ließ sich aber ferntrauen im Feld vom Kommandeur seiner Einheit mit zwei Kameraden als Trauzeugen, und das Dokument wurde zum für uns zuständigen Standesamt in Berlin geschickt. Der Kommandeur wird wohl eine kleine Rede gehalten haben, wird ihm den Verlobungsring mit dem eingravierten "Sei mein, sei getrost", die einst Bettine Brentano ihrem Achim von Arnim als Antwort auf seine Werbung geschrieben hatte, nun an die rechte statt an die linke Hand gesteckt haben, und mehr wird nicht gewesen sein; ein Glas Wodka vielleicht.
Ich bekam Nachricht vom Standesamt. Die Ferntrauung meinerseits könne auch noch in einem halben Jahr stattfinden, selbst wenn mein 'Ehemann' dann schon "gefallen" wäre. Es fuhr mir durch alle Glieder. Ich wollte einen Termin so schnell wie möglich. Die Zeremonie fand statt mit den Schwiegereltern als Trauzeugen. Am Platz des Bräutigams lag ein Stahlhelm auf dem Tisch. Ich stellte wenigstens sein Bild dazu. Es war trotzdem schrecklich, die ganze Situation, der Stahlhelm wie ein Totenkopf, die Rede, die der Beamte herleierte über meine Trauung mit einem, der angeblich kämpfte für Führer, Volk und Vaterland. Wie lange noch? Längst waren die Zeitungen seitenweise voll mit Todesanzeigen: In stolzer Trauer. Auch mein Verlobungsring nun ein Trauring an der rechten Hand. Die darin eingravierten Worte "Bleib behütet" konnten mich nicht trösten. Und natürlich verschrieb ich mich auf der Urkunde. "Johanna Rei" - dann erst: "Johanna Brander."
Die Trauung war Ende April. Bald danach, im Mai, die Linde stand im ersten feinen grünen Laub, hörte meine kindliche Regression auf, ganz wie es Charlotte vorausgesagt hatte. Ich begann kleine Sächelchen zu stricken oder zu häkeln. Gleichzeitig besorgte ich mir Lehrbücher, anspruchsvollere als die Schulbücher, für Englisch und Latein, für Erdkunde und Geschichte, für Biologie und Kunst. Ich blieb bei einem Thema eine Woche und hatte damit bestimmt mehr gelernt als in der Schule. Ich las auch über Schwangerschaft und die ersten Monate mit dem Neugeborenen und konnte mit Charlotte darüber sprechen. Zaghaft erst, dann immer zuversichtlicher begann ich mich auf das Baby zu freuen, schrieb auch Andreas davon und ob er nicht Urlaub bekommen könne. Aber er bekam keinen. Seine Briefe waren voller Liebe. Einmal erzählte er mir unsere ganze Liebesgeschichte (ein Kamerad, der seinerseits Urlaub bekommen hatte, schmuggelte den Brief zu mir), aber seine geschriebenen Zärtlichkeiten waren so, als erinnerte er sich mühsam daran, dass es in einer anderen Welt als seiner aus Dreck und Tod so etwas gab wie Liebe, und darum las sich die erinnerte Liebesgeschichte für mich wie ein Abschiedsgeschenk, und ich konnte lange nicht wieder aufhören zu weinen.
Weiterhin ging Friedrich, mein Schwiegervater, ins andere Haus unter der Linde, um mit dem noch gar nicht so alten Paul Krüger, beinamputiert vom ersten Weltkrieg her, ein paar Runden Schach zu spielen. Das hab' ich schon erzählt. Er liebte diese "Puschennachbarschaft", wie er sagte. Es war nun schon Ende Juli 1944, die Linde duftete berückend, sie wusste ja von keinem Krieg. Die Männer gingen nicht in den Keller, als es Fliegeralarm gab, wie ja auch wir so oft nicht, auch Frau Krüger ging nicht, und Charlotte und ich meinten wie immer, dass Friedrich dort drüben ebenso gut aufgehoben sei wie in unserem Haus. Aber in dieser Nacht fielen zwei Bomben auf beide Häuser. Friedrich und die Krügers müssen sofort tot gewesen sein, zerrissen alle drei vermutlich, ihre Reste aus dem Wohnzimmer in den Keller gestürzt. Das Haus brannte. An unserem wurde der Teil zur Linde hin wie mit einem Messer senkrecht abgeschnitten, aber wir beide waren gerade auf der anderen Seite und in der Nähe der Haustür, wir wurden vom Luftdruck in den Garten befördert. So überlebten wir. Nachbarn und nach der Entwarnung die Feuerwehr löschten. Charlotte verbot mir hinüberzugehen. Sie entfaltete eine kaum vorstellbare entschiedene Kraft, sorgte am folgenden Tag für die Bestattungen und brach dann erst zusammen. Die Frauen aus dem Nachbarhaus zur anderen Seite, viele Ausgebombte unter ihnen, brachten von ihrem Essen herüber, und immer war eine von ihnen bei uns. Noch glaubten wir, wir könnten das Haus hüten, damit es nicht geplündert würde, und könnten auch provisorisch darin wohnen bleiben. Damals im Sommer ging das wirklich eine Weile. Wir konnten uns nicht trennen von dem Garten, der sich überblühte, vor allem die Rosen. Aber dann wurde amtlich festgestellt, dass das Haus einsturzgefährdet war und nicht mehr bewohnt werden durfte. Mitten im totalen Krieg, als schon alles zusammenstürzte, funktionierten auch solche behördlichen Anordnungen noch. Wir wollten ihnen erst nicht nachkommen, aber wir konnten den Rest des Hauses nicht winterfest machen. Man wies uns anderen Wohnraum zu, einer Kriegswitwe mit schwangerer Schwiegertochter und einzigem Sohn im Feld sogar einen abgeschlossenen mit zwei Räumen, diesen hier. Da war gerade eine von den alten Frauen des Hinterhauses gestorben, die lebend fast nicht aufgefallen waren und tot auch mehrere Tage lang nicht. Der Geruch nach Verwesung waberte noch darin, als wir die Wohnung zuerst ansahen. Eine Wahl hatten wir natürlich nicht. Wir putzten und scheuerten. Vor dem Doppelbett aus Ehezeiten der alten Frau ekelten wir uns. Es gelang uns, zwei kräftige 15-Jährige anzuheuern, die in mehreren abenteuerlichen Fuhren, je ein Bollerwagen angehängt an ein Fahrrad, wenigstens unsere Matratzen und das Bettzeug von Dahlem zum Prenzlauer Berg brachten. Wenn die Matratzen nicht damals dreiteilig gewesen wären, dann wäre das wohl nicht gegangen. Anderes transportierten wir selber mit der S-Bahn. Von den Ausgebombten im Haus nebenan halfen mehrere Frauen, durften sich dafür aus unserem Haus und Garten bedienen. Ach, wir hingen noch viel zu sehr am Besitz.
Das Haus meiner Mutter stand übrigens unversehrt und blieb es auch. Es waren mehrere Namensschilder dran mit "1x klingeln", "2x klingeln" usw. bis "5x klingeln", so war das damals und noch lange nach dem Krieg. Aber da um Unterkunft zu fragen, kam uns zwar in den Sinn, aber wir wollten es nicht, in stolzer Verachtung."

So etwa war der erste Teil von Johannas Erzählung. Ich fragte ihn ihr ja über die Jahre hin immer wieder ab. Später erst fiel mir auf, dass ich als 11-Jährige die Erzählungen von Johannas verschwundenem Vater, dann vom Bombentod ihres Schwiegervaters und des Nachbarn und dessen Frau einfach so hingenommen und auch nicht gefragt habe, wie denn ihre Schwiegermutter und sie selbst, wenn das irgendwie möglich gewesen sein konnte, den Tod des Ehemannes und Schwiegervaters 'verarbeitet' hatten. In meiner Familie kam niemand zu Tode durch diesen Krieg, weder als Soldat noch als Zivilist, auch unter den Nachbarn des großen Eckhauses, so weit ich mich erinnere, niemand. Mein Vater war ja verletzt worden, als sein Schiff im Kieler Hafen einen Volltreffer erhielt, aber er wurde gerettet. Das war so etwa, was ich über Kriegsopfer in meiner Umgebung wusste, also fast nichts. Und es hatte sich ereignet in diesem weltumfassenden ungeheuren Unwetter namens 2. Weltkrieg, das wusste ich wohl. Folglich musste es einen ersten gegeben habe, von dem ich damals noch gar nichts kannte, nach dem ich auch nicht fragte. Aber beide Kriege empfand ich mit kindlicher Ahnungslosigkeit und deshalb auch Zuversicht als 'vorbei' und Kriege überhaupt als 'vorbei'. Politisch denken konnte ich natürlich noch nicht. Die Blockade Westberlins hatte sich ganz in der Nähe abgespielt, aber auch damals hatte ich an keinen neuen Krieg geglaubt, der etwa daraus entstehen könnte. Der Krieg in Korea wenig später war weit weg, und ich dachte nicht viel an ihn. Zu jener Zeit fragte ich nach gar nichts, damit ich keine Antwort bekam. Ich hatte zwar schon angefangen, manchmal die Berliner Zeitung zu lesen, hörte aber wieder auf damit. Die Welt war nicht verlässlich, soviel kam doch bei mir an, aber vor dieser Erkenntnis flüchtete ich mich in das Hopse-Spiel "Himmel und Hölle", wo wir die Spielregeln geradezu mit Verbissenheit einhielten. Die Erwachsenen flüchteten sich wohl auch, mein Vater in die Graphologie, und ich schloss mich ihm an und hatte damit eine zweite Sicherheit außer "Himmel und Hölle".

"Anfang November 1944", erzählte Johanna später immer wieder, wenn ich fragte und als auch Felix zu fragen begann, "wurde unser Sohn Felix Andreas Florian geboren, wurdest du geboren, Felix, zu Hause, mit der Hilfe einer Hebamme, einer Freundin von Charlotte. Es war eine kurze und leichte Geburt. Martha Rex, diese Hebamme, hat gesagt, dies Kind sei mit einem Lächeln auf die Welt gekommen. Dazu hatte es keinen Anlass, denn von seinem Vater hatten wir seit mehr als vier Wochen keine Nachricht mehr. Und dieser letzte Feldpostbrief war kurz und aufs äußerste zurückhaltend und enthielt kein Wort der Vorfreude über sein Kind, das nun bald zur Welt kommen sollte. Wir verstanden es so: Seine Lage war verzweifelt.
Wir benachrichtigten ihn sofort, den die Nachricht am meisten anging, irgendwo im Osten, im Rückzug begriffen, den Vater, der sich verrannt hatte in die Idee, er müsse sterben, damit sein Kind leben dürfe nach diesem verbrecherischen Krieg. Es dauerte lange, selbst für Feldpostlaufzeiten lange, beinahe vier Wochen, bis eine Antwort kam. Die trug den Hoheitsadler mit dem Hakenkreuz in den Fängen. Da wussten wir Bescheid und tasteten nach dem unteren Teil der "Hundemarke". Andreas war tot. In dem Umschlag war die offizielle Benachrichtigung des Kompaniechefs darüber nach der Vorschrift, unterschrieben "Heil Hitler". Ein zweiter Brief war dabei, auch von ihm, in dem er mitteilte, dass Andreas die Nachricht von der Geburt seines Sohnes noch erhalten habe. Er habe daraufhin keinen Befehl zu einem Erkundungsgang erhalten wie alle anderen, die dazu noch fähig waren. Bevorzugt behandelt werden wollte er aber nicht. 'Soll ein Gottesurteil sein', habe er immer wieder gesagt, schrieb sein Hauptmann. Nun müsse er diese Mitteilung machen, die er selbst nicht verstehe. Die persönlichen Gegenstände des Unteroffiziers Andreas Brander würden gesondert folgen."
Der Mutter und der Großmutter des fröhlich gurrenden Babies schien die Nachricht nicht unerwartet zu kommen. Andreas' Briefe aus dem Feld hatten es nicht gesagt, aber zuletzt doch umschrieben, dass er glaubte, er werde nicht leben bleiben. Er wollte nicht leben bleiben unter so vielen Gefallenen, damit sein Sohn lebe, denn von allem Anfang an glaubte er ja, einen Sohn gezeugt zu haben, das sagten dann die Aufzeichnungen in seinen zurückgeschickten Büchern. Kriegskoller, schluchzten die Frauen, sagte Charlotte zu Johanna in dem Wunsch, sie in ihrer Verzweiflung zu trösten, Wirklichkeitsverlust im Dreck des Kriegsalltags, den sie sich nicht vorstellen könnten, unter Sterbenden, selbst in jeder Sekunde dem Tod näher als dem Leben. Johanna aber war umgetrieben von der Deutung, die ihr wahrscheinlich erschien, dass Andreas bedauert hatte, einem Kind in Zeiten des Krieges die Möglichkeit des Lebens gegeben zu haben, wo es doch vielleicht ganz oder lange vaterlos aufwachsen müsste. Geschrieben hatte er das nirgends, nur seiner Familie Leben gewünscht. Wer wünschte das den Seinen denn nicht? Und doch war auch sein Vater 'gefallen', als Zivilist. Und was mutete er seiner Johanna denn zu?
Felix hörte zu, wenn Johanna erzählte, mit völlig unkindlicher Aufmerksamkeit. Es war ja auch seine Geschichte, die da erzählt wurde. Nur einmal sagte er etwas: "Mitten im Krieg hätte mein Vater mich nicht machen dürfen. Jetzt habe ich keinen Vater, bloß seinen Namen." Als er sah, wie die beiden Frauen erstarrten über dieser Wahrheit, fügte er hinzu: "Aber ich habe euch beide, Mama, Großmama."

Als die Branders zuerst in den Luftschutzkeller kamen, war ich mit meiner Mutter noch nicht wieder da, noch evakuiert in Belgard in Pommern. Von daher kam sie mit mir Ende August 1944 zurück in das von Bomben damals schon Tag und Nacht heimgesuchte Berlin. Der Luftschutzkeller, der mir ein paar Sommermonate 1943 erspart worden war und dann nochmals vom Dezember 1943 bis zu dieser mir unerklärlichen Rückkehr, der wurde nun meine tagnächtliche Behausung. Da kamen im Frühherbst zwei neue Bewohnerinnen dazu, oder wie sollte man sagen? Meine Großmutter, von der Ausdruck auch stammte, sagte: zwei neue Kellerasseln. Die Vierjährige, die ich damals war, bemerkte nur den dicken Bauch der jüngeren Frau, und ich soll gefragt haben, erzählte die Tante einmal, ob sie krank sei. Johanna war die erste Schwangere, die ich sah und jeden Tag wieder sah, und so sah ich auch den Bauch wachsen bis zu einer Größe, die mich befürchten ließ, dass er platzen würde. Die Auskunft auf meine Frage wird ja wohl gelautet haben, sie erwarte ein Kind, und dass danach vermutlich nur noch Verweigerungen wirklicher Antworten kamen, das nehme ich an, denn so war es eben immer gewesen, wenn es um 'peinliche' Fragen ging.
Als das Baby dann da war, Felix Andreas Florian, da wollte ich wissen, wiederum nach Erzählung der Tante, ob man es aus dem geplatzten Bauch herausgeholt habe, ob das nicht weh getan habe und ob man so einen Bauch dann einfach wieder mit Pflaster wieder zukleben könne. Natürlich wollte ich das Baby ansehen und ging hin, wenn ich nicht in meinem Gitterbettchen eingesperrt war, wurde aber schnell zurückgeholt. Angeblich störte ich. Meine Mutter war ein Bündel Angst, und Charlotte, die mit ihr zu sprechen versuchte, erreichte sie nicht.
Johanna und Charlotte, die bisher ja keine Luftschutzkeller für vierstöckige Mietshäuser kennen gelernt hatten, beobachteten genau, was vor sich ging, wenn so viele Leute auf so engem Raum unter beständiger Lebensgefahr zusammengepfercht waren. Da gab es die Stummen, die gerade nur mit Kopfnicken grüßten beim Hereinkommen und möglichst in einer Ecke hockten, in eine Decke gewickelt. Sie aßen und tranken wenig und benahmen sich so, als bäten sie um Verzeihung dafür, dass sie überhaupt ein wenig Raum und ein wenig Luft für sich beanspruchten. Das waren die alten Frauen aus dem Hinterhaus, wenn sie überhaupt kamen. Der Luftschutzwart, in unserem Haus kein Nazi und Spitzel, sondern ein umsichtiger, im 1. Weltkrieg verwundeter, zurückhaltender Mann, hatte es jedenfalls aufgegeben, sie einzeln aufzufordern, in den Keller zu kommen. Dann waren da Frauen, die sich mit Stricken und Häkeln beruhigten, falls nicht das Licht ausfiel, die um einen Tisch saßen und so taten, als seien sie ein Kaffeekränzchen. Es gab verschiedene Kartenspielgruppen, es gab Lesende, Völkischer Beobachter, die Illustrierte Koralle, kaum Bücherleser. Manche hatten ihren Stammplatz nahe der Tür, andere weit entfernt. Politische Diskussionen wurden nicht geführt, auch keine Durchhalteparolen mehr verkündet. Es war beunruhigend ruhig in unserem Luftschutzkeller, sagte später die Tante.
Er war nichts weiter als der normale Keller des Hauses bzw. ein Teil davon; der andere, wohl kleinere war abgeteilt mit Holzlatten in Kammern für Heizkohle, Holz, Winterkartoffeln und Dinge, die noch nicht weggeworfen werden sollten, aber auch nicht mehr gebraucht wurden. Vor den Fenstern waren Sandsäcke gestapelt, die ein wenig zusätzliche Sicherheit geben sollten; vielleicht mehr die Illusion davon. Als ich später einmal sehen wollte, wo er sich denn befunden hatte, der Luftschutzkeller, erklärte mir das niemand, als habe es diesen Keller nicht gegeben.
Mindestens einmal waren Einschläge so nahe, dass meine Großmutter glaubte, das sei das Ende: Jedenfalls einmal schrieb das die Tante so an die Hausbesitzerin auf einer ihrer Beruhigungspostkarten. Die elektrische Beleuchtung ging aus, nur noch ein Notlicht brannte, Taschenlampen müssen ein gespenstisches Licht gegeben haben, die Mauern mit fünf Stockwerken darüber schwankten, und eine dicke Staubwolke schwang über allen. Meine Großmutter betete den 91. Psalm, den sie, die fast nie schrieb und niemals einen Gottesdienst besuchte, sich und ihrer Tochter und doch auch mir und, so hoffe ich, der ungeliebten Schwiegertochter auch, für die Bombennächte abgeschrieben hatte. Diesen Psalm in ihrer Handschrift auf schon vergilbtem Papier habe ich im Nachlass ihrer Tochter gefunden. Der Fund hat mich zutiefst gerührt. Aber der Psalm, wie viele andere, empört mich auch zutiefst. Er enthält zum Beispiel die wunderbaren Worte, die vielen in der hinreißend schönen Vertonung Mendelssohns im Ohr sind: "Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen ...". Aber er enthält wie nebenbei auch diese: "Ob tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen." Und die tausend oder zehnmal tausend oder zehnmal zehntausend?
Was die Großmutter von den Luftschutzkellernächten nicht mitteilen ließ an Frau von Jaminet, was auch die Tante niemals erwähnte, die ja als alte Frau mir einiges erzählte - ich weiß es von Johanna und Charlotte: Meine Mutter nämlich, die Fremde, die nicht in ihre Schwiegerfamilie Aufgenommene, warf sich auf die Knie während dieses laut gesprochenen Psalms und schrie nach ihrer Mutter und nahm mich, das schreiende Kind im Gitterbett, erst in ihre Arme, als die Schwiegermutter ihr Gebet unterbrach und sie anbrüllte und das selbst schon getan hatte. Johanna und Charlotte hielten einander umarmt und den kleinen Felix zwischen sich. Mit ihren Körpern hätten sie ihn geschützt, damit er leben bliebe, damit er wenigstens eine Chance dazu hätte. Das hat mir Johanna erst erzählt, als wir anfingen, uns zu befreunden, aber doch schon, als ich 12 war.
Getroffen war ein Haus schräg gegenüber, aber nur das oberste Stockwerk oder die beiden obersten Stockwerke. Nach der Entwarnung konnten die Brandbomben im Dachgeschoss unseres Hauses mit dem Löschwasser, das in den Badewannen immer bereit gehalten werden musste, mit Eimerketten gelöscht werden. In den Wohnungen lagen nur Glasscherben, schichtweise Staub und Brocken vom Verputz, Türen waren aus den Angeln gehoben und zerschellt. Niemand aber war ausgebombt.

Wie hielten die Branders alle ihre Verluste aus? Den der Wohnung, den des Ehemannes Friedrich und des Ehemannes und Sohnes Andreas? Natürlich fragte ich das nicht, als ich elf war. Solche Fragen fallen einem nicht ein als Kind, wenn um einen her die Welt eingestürzt ist, und es ist ein Schutz der kindlichen Seele, dass das so ist. Später fragte ich, mit 17, mit 18 Jahren vielleicht. Auch die Erwachsenen hätten die eigenen Verluste vielleicht nicht bis auf den Grund ihrer Seele empfunden, hieß es dann, da es ja kaum jemanden gab, der keine beklagte, da ein Alltag zu bewältigen war, obwohl nicht nur die Türen aus den Angeln fielen, sondern die bekannt gewesene Welt. Nichts war mehr wie früher, wie in einer Zeit, die allen wohl unvorstellbar fern vorkam. Woran sie sich erinnerten, das war die Zeit vor dem großen Krieg. Nichts, was die Zukunft bringen würde, war sicher. Viele hatten nicht einmal Gräber, an denen sie Abschied nehmen konnten, auch die junge Johanna nicht.
Irgendwie richteten sich die Branders aus Dahlem bei uns im Hinterhaus ein. Die Verluste an Sachwerten fielen ihnen angesichts der Verluste von geliebten Menschen nicht ins Gewicht. Von Frau Rausch bekamen sie Dietrichs Gitterbettchen, das noch im Keller auf ein Geschwisterkind gewartet hatte, das nun nicht mehr geboren wurde, und eine Säuglingsausstattung, soweit sie nicht schon verschenkt war.
Zuletzt hockten alle tagelang in den Luftschutzkellern und warteten auf "die Russen" oder, wie viele noch in einer propagandistisch antrainierten Verachtung sagten, auf "den Iwan", auf die bolschewistischen "Untermenschen", die nun unvorstellbarerweise die Sieger waren. Die Schönhauser Allee, die Erwachsenen wussten es, war eine der Einfallstraßen. Auch durch die würden sie einmarschieren. Sie werden wohl auch in unserem Keller "Uri, Uri" gesagt und die Beutestücke sich armhoch übergestreift haben. Sie werden wohl auch in der Kuglerstraße auf geklauten Fahrrädern erstmals geradelt sein und sie schnell an irgendeiner Wand zu Bruch gefahren haben. Sie werden wohl auch bei uns Frauen vergewaltigt haben ("Frau, komm" - da war dann nicht mehr viel zu machen); sie waren vorgerückt durch ihr verwüstetes Land, in dem auch die Wehrmacht bestialisch gemordet hatte, nicht nur die SS. Viele von ihnen kamen aus Dörfern ohne elektrisches Licht, ohne Kanalisation, ohne Straßen, ohne anderes Wasser als das vom Dorfbrunnen in ein Land der Besiegten, wo noch immer "Wasser aus Wand, Licht aus Decke" kam, wie sie staunend feststellten, nicht immerzu, aber immer wieder. Das Plündern und Stehlen war zu verstehen, und einige Tage war es freigegeben, das Vergewaltigen, so fürchterlich es ist und zumeist vorging, sogar auch. Sechs, sieben und noch mehr Soldaten mit schon offener Hose waren es oft, die bei einer Frau anstanden. Es ist so schrecklich, dass das Vertrauteste, was zwischen Mann und Frau möglich ist, auch das Verachtungsvollste sein kann. Nicht wenige Frauen haben sich umgebracht, nachdem die Soldateska über sie hinweggefegt war.
Johanna wurde versteckt, ich weiß nicht mehr, wo, wohl schon in der Wohnung. Andere, auch Charlotte, die ja selbst erst Mitte 40 war, schwärzten sich die Gesichter, um älter auszusehen. Sie nahm das Baby. Das schützte sie. Ob meine Mutter und Tante, ungefähr gleich alt, vergewaltigt wurden, weiß ich nicht. Charlotte war es dann, die auf die Idee kam, an ihre Wohnung in kyrillischen Buchstaben "Typhus" zu schreiben. Das schreckte tatsächlich ab. Und dass die 'Elitetruppe Shukow', die uns befreite, ohne solche Maßnahmen nicht vergewaltigt hätte, das glaube ich nicht.
Mein ganz privates Befreiungserlebnis war das mit den Bonbons. Als die Russen kamen, lag ich mit Masern in meinem Gitterbett. Einer, ein Offizier, war gerührt über das matte kranke Kind und zog Fotos heraus von den eigenen beiden Kindern, die etwa gleich alt waren. Hat er "drushba" dazu gesagt, Freundschaft? Mag sein. Aber auch Vergewaltiger sagten manchmal hinterher "drushba" zu ihrem Opfer. Meine Erinnerung ist, dass der Offizier aus seiner Hosentasche oder woher sonst dicke Brocken brauner Bonbons zog, von denen ich unbedingt einen sofort kosten musste. Sie schmeckten köstlich, und meine anfängliche Furcht, ich würde daran ersticken, verlor sich. Diese Geschichte habe ich nie vergessen, aber natürlich wurden die Bonbons in der Erinnerung immer größer, und die Erstickungsangst kehrte wieder. Es gibt aber diese Bonbons wirklich. Sie sind tatsächlich braun und groß, aber nicht riesig, selbstgekochte Karamelbonbons wohl, also Zucker und Butter. Ich erfuhr es auf einer Studienreise in die Sowjetunion 1968, als wir uns am Grenzbahnhof Brest-Litowsk eine Nacht um die Ohren schlagen mussten, weil die Reiseleiterin nicht gekommen war, ohne die wir das Land nicht betreten durften. Und so lief ich irgendwann in jener Nacht an der Bahnsteigkante auf und ab, und ein sowjetischer Offizier mit seinem kleinen Sohn an der Hand tat es auch. Wir kamen ins Gespräch. Er war um 1960 in der DDR stationiert gewesen und konnte Deutsch. Den Jungen brachte er zu seiner Mutter. Als sein Zug kam - gab er mir eine Handvoll solcher Bonbons, die er sicher für das Kind dabei hatte und die braun und viel größer waren, als sonst Bonbons sind. Und noch mehr: Er hatte Berlin mit erobert, damals ein 18-Jähriger. Und er war durch die Schönhauser Allee einmarschiert. "Drushba", rief er aus dem Fenster seines abfahrenden Zuges.

Aus der Welt des Kellerkindes verschwanden die Sirenenwarnungen, aber nur ins Unterbewusste. Jahre später, längst in Westberlin, als es erstmals einen Sirenen-Probealarm gab, dessen Ankündigung ich aber nicht gelesen hatte, schreckte ich aus dem Stuhl oder Sessel oder Bett hoch und hatte den Impuls, eine gepackte Tasche ergreifen und in den Keller stürzen zu müssen. Im warmen Sommer 1945 aber, als überall auf den Ruinen die Weidenröschen blühten, als ob sie dahin gehörten oder von der Schöpfung neu erfunden worden wären, um Trümmerblumen zu sein, da gab es keine Sirenen mehr, keine Nächte und Tage im Keller, da war zwar in vielen Fenstern nicht Glas, sondern Pappe, und die blieb noch lange, da durfte ich mitgehen zum Wasserholen an den Straßenpumpen mit den großen Schwengeln und auch ein Eimerchen mit Wasser füllen und nach oben tragen.
In die Schule kam ich erst im folgenden Jahr, 1946. Den Erstlingsunterricht bekamen wir Kleinen von dem Fräulein Eisenblätter, sehr alt, trotzdem sehr streng. Es musste schon seit Jahrzehnten Lehrerin gewesen sein, das alte Fräulein, viel länger, als das so genannte "Dritte Reich" alt geworden war. Lesen, Schreiben und Rechnen werde ich bei ihr gelernt haben, Anfänge von Geschichte im Sinn des Historischen Materialismus noch nicht, sondern Heimatkunde. Die Fischerinsel. Das Berlin-Warschauer Urstromtal. Das Schiffshebewerk Niederfinow. Oder das alles doch erst später? Winters saßen wir in Mänteln und Schals und Handschuhen mit abgeschnittenen Fingerlingen, täglich um den irgendwie mittig stehenden Ofen herumrückend, der eine sehr mäßige Wärme abgab. Geschrieben wurde mit Kreide, sie schrieb an der großen Tafel, wir auf unseren kleinen Tafeln mit Griffeln. Schwamm und Putzlappen für die Tafel hingen an der Seite außen am Ranzen auf dem Weg zur Schule und zurück, und da die Erstklässler daran erkennbar waren, riefen die großen Zweitklässler ihnen hinterher: "Erste Klecker, Tafellecker". Als wir dann selbst Zweitklässler waren, riefen wir das den neuen Erstklässlern nach. Das Fräulein Eisenblätter allerdings verschwand im Lauf des 2. Schuljahres vom hohen Podium, auf dem ihr Pult thronte, und es erschien Herr Günter Becher, ein 18-jähriger, kaum länger als ein Jahr fit gemachter Junglehrer. Wie sich herausstellte, war er bei weitem alt genug, 7-Jährige zu unterrichten, und ein guter Lehrer, ein natürliches Lehrtalent, wie ich heute noch glaube; übrigens auch der erste von nacheinander mehreren, für die ich schwärmte.
Vom Jungpionierwesen konnte ich mich erstaunlicherweise fern halten. Montägliche oder sonst welche Fahnenappelle gab es nicht, fast niemand trug das blaue Halstuch. Aber den korrekten Knoten dafür fand ich schön, lernte ihn, wahrscheinlich von Monika Reimann, die als Enkelin des westdeutschen KP-Vorsitzenden natürlich eins trug, und kann ihn heute noch. Die Jugendweihe war noch nichts, was üblich gewesen wäre. Alle oder fast alle, die ich kannte, gingen zum Konfirmandenunterricht. Auch ich ging mit 12 zum "Konfer", und es war dasselbe Jahr, in dem ich Hajo Mahn kennen lernte und mich mit ihm befreundete, noch so ein aufregendes Jahr wie das zuvor, in dem ich den Sommer in Kladow erlebt hatte, die erste Blutung bekam und Johanna Brander kennen lernte.

Die Branders wohnten seit dem Frühjahr 1952 in Westberlin, wieder in ihrem alten Haus. Johanna hatte mich angesprochen, als meine Eltern unseren Umzug schon planten, ich aber noch nichts wusste. Bis 1954, bis zur Übersiedlung meiner Familie war mir ein Besuch bei ihr verboten und wir sahen uns selten, irgendwo in der Schönhauser oder auf dem Alex spazieren gehend, das sind nur vier U-Bahn-Stationen von uns, Eis essend, sie meine Klagen und Freuden anhörend. Sie kam nicht meinetwegen nach Ostberlin, sondern besuchte Kommilitonen, mit denen sie ja anfangs zusammen Medizin studiert hatte. Aber wir beide trafen uns dann auch. Und schrieben uns, vorsichtshalber über die Adresse einer zuverlässigen und verschwiegenen Mitschülerin. Denn 'normal' war bei mir ja nichts in der Familie. Dass man sich bei den eigenen Eltern getrost aufgehoben fühlen, sich ihnen anvertrauen konnte, das lag außerhalb meiner Erfahrung. Daher trug ich ihnen gegenüber sehr früh schon eine Maske vor der Seele und hatte zugleich das Bedürfnis, maskenlos sein zu dürfen. Johanna, die Lebensfreundin, hat es mir immer ermöglicht.
Im Jahr, in dem ich eingeschult worden war, war auch Johanna nochmals in die Schule gegangen. Man verlangte noch zwei ganze Schuljahre von ihr. Gleich nach dem Krieg hatte sie weitergelernt, besuchte im Schuljahr 1946/47 die 11. und im Jahr danach die 12. Klasse und machte im Herbst 1948 Abitur. Felix, den 3-, dann 4-Jährigen, hütete die Großmutter, hütete ihn, solange sie gebraucht wurde und tat es gerne. Sie lebten, kärglich genug, von zwei Witwen- und einer Halbwaisenrente, sie gaben Sprachunterricht und Nachhilfeunterricht jeder Art. Sie kamen so über die Runden.
Dass Johanna Medizin studieren würde, war beiden Frauen selbstverständlich. Sie erhielt einen Studienplatz an der Humboldt-Universität, weil sie ihren in Berlin verschollenen Vater, der Ingenieur gewesen war, als Elektriker darstellte, und weil auch ihr Sohn vaterlos aufwuchs. An der Uni fragte sie sich durch nach Kommilitonen von Andreas. Es waren vielleicht welche zurückgekehrt von denen, die doch wohl wie er nach Studienbeginn erneut eingezogen worden waren, dachte sie. Aber sie fand nur noch einen, unterschenkelamputiert. Andere seien in Kriegsgefangenschaft, nahm er an, oder nach Westdeutschland gegangen.
Charlotte war seit 1945 nach Dahlem gefahren, sobald es möglich war, wenigstens Teile der Strecke nicht zu Fuß zurückzulegen und sein Fahrrad zu behalten. Das war wohl erst im Juli oder August, als die westlichen Alliierten ihre Sektoren übernommen hatten. Im Bezirk Zehlendorf, zu dem Dahlem gehört, waren die Amerikaner. Gerade auch in ihrem Viertel und überhaupt entlang der U-Bahn-Linie nach Krumme Lanke hatten die, genau nach Gerücht, alle Häuser für Besatzungsangehörige requiriert, die heil geblieben waren oder wieder instand gesetzt werden konnten. Dazu gehörte das Haus der Branders, auch Johannas Elternhaus, das nur wenige Artillerieeinschüsse hatte. Charlotte ließ nicht nach darin in den folgenden Jahren, ihren Anspruch auf ihr Haus wieder und wieder vorzutragen, den Grundbucheintrag vorzulegen und ihre Einstufung in den Entnazifizierungsverfahren als unbelastet. Sie trug die Geschichte von Mann, Sohn und Enkel vor, und ein jüdisches Ehepaar, das in Berlin überlebt hatte, sagte für sie aus. Sie erhielt schließlich, nachdem bald nach der Gründung der Freien Universität auch Johanna nach Westberlin gewechselt war, halb heimlich zunächst ein Zimmer zu ihrer Verfügung zurück. Es war Andreas' ehemaliges Zimmer. Bis dahin war sie gependelt zwischen der Kuglerstraße und dem Haus ihrer Schwester, immer aber so, dass sie Felix hüten oder aber später mitnehmen konnte auf ihren geduldigen und zähen Behördengängen.
1951 gehörte den Branders wieder das ganze Haus, und im Frühjahr 1952 zogen sie dorthin. Ich wollte es zuerst nicht glauben, als Johanna mir versprach, sie würde die Verbindung mit mir erhalten. "Warum denn, fragte ich immer wieder, wer bin ich denn für dich"? Da durfte ich sie schon duzen. "Du bist ein Kind, dem eine wirkliche Mutter fehlt", hat sie nach meiner Erinnerung gesagt, "und ich bin auch so ein Kind gewesen. Unsere Mütter waren natürlich unterschiedlich, ja, nie sind sich Menschen gleich. Aber als du mir da vor einigen Monaten erst auf der Straße begegnet und dann auch noch vor die Tür gepurzelt bist, da hab' ich gedacht: Das hat was zu bedeuten, und da ist mir natürlich auch die Szene im Luftschutzkeller eingefallen, als deine Mutter selbst nach ihrer Mutter schrie, statt dich in den Arm zu nehmen. Ich wusste nicht, was du in den folgenden Jahren mit ihr erlebt hattest. Wir sind uns nach den Kellerzeiten nur selten begegnet, und du hast gegrüßt und deinen Kleinmädchenknicks gemacht. Zusammen mit deiner Mutter habe ich dich übrigens nur gesehen beim Teppichklopfen, und da konnte man dir anmerken, dass du es widerwillig tatest, weil du mit hängenden Armen auf ihre Anweisungen gewartet hast, als gehörtest du nicht zu ihr. Du hast unkindlich ausgesehen und unfröhlich. Dass einer von den beiden Teppichklopfern derselbe war, mit dem deine Mutter dich verdroschen hatte, wusste ich da natürlich noch nicht. Aber ich sah: Ihr mochtet euch nicht. Oder richtiger: Du mochtest sie nicht, und sie litt darunter, aber sie wusste anscheinend nicht, was sie ändern sollte. Und wenn ich ihr allein begegnete, auch mit Felix an der Hand, dann hat sie immer mit den Augen meinen Gruß eingefordert, aber hat nie ein Wort zu mir oder zu dem Jungen gesagt. Also, nachdem der Zufall oder was sonst uns zusammengebracht hatte, da dachte ich mir, ich müsste dir mindestens anbieten, für dich da zu sein. Auch wenn du nun nicht zu uns kommen darfst, weil es dafür über eine Grenze gehen muss, so werden wir uns trotzdem sehen und uns schreiben."
Bis wir wirklich umzogen, hat es dann noch zwei Jahre gedauert, der 17. Juni 1953 lag dazwischen, auch meine frühe Liebeszeit mit Hajo und der Konfirmandenunterricht.

Inzwischen war geschehen, wovon mir Johanna erst im wieder hergerichteten eigenen Haus erzählte, 1954. Sie und auch Charlotte hatten jede wieder geheiratet, Charlotte 1952 ihren langjährigen Freund Günther ("zusammen sind wir ein Jahrhundert alt"), Johanna 1953, noch vor ihrem Examen, den Studienfreund Clemens. Auf den Einladungen zu ihrer Hochzeit stand kess: "WIR müssen HEIRATEN:" So war das damals noch.
"Charlotte hat sich zuerst getraut", begann Johanna. "Vielleicht hast du ja mal darüber nachgedacht, Ursa, wahrscheinlich aber nicht. 'Traumlieschen' hat dein Vater dich genannt. Das finde ich gar nicht so verkehrt für dich. Du wirst wahrscheinlich ein ganzes Leben lang lernen müssen, Zukunft vorauszudenken. Mit mir war es anders: Ich tat es dauernd. Allein schon der ohne Vater heranwachsende Felix nötigte mich dazu. Und seine einzige Äußerung zu seiner Vaterlosigkeit hatte ich natürlich nicht vergessen, die ja eigentlich ein Vorwurf an uns war, ihm das Leben gegeben zu haben, an mich vor allem. Er sollte nicht sein Leben lang bedauern, am Leben zu sein. Er sollte nicht in der Kuglerstraße im Hinterhaus groß werden, im so genannt sozialistischen Osten. Und nicht mit zwei Witwen. Und wie lange durfte ich Charlottes immer von Herzen gegebene Hilfe annehmen? Hatte sie nicht ein Recht auf ein eigenes Leben, ein anderes als das, das sich nach meinen Vorlesungen und nach meinen Diensten im Krankenhaus richtete? Musste die Liebe zu Andreas mich auf Lebenszeit binden? Ich war noch immer eine junge Frau mit Wünschen, mit Begehren, wie du es nun auch kennst. Solche und ähnliche Fragen waren bei mir im Kopf. Und an der Uni gab es lebende Männer, und sie nahmen mich wahr, und ich nahm sie wahr.
Also Charlotte hat sich getraut, mit diesem Thema anzufangen: Sie war es, die gesagt hat: 'Johanna, du warst eben fünfzehn, als du Andreas kennen lerntest, und gerade etwas über siebzehn, als du ein Kind von ihm wolltest, der selbst erst zwanzigeinhalb war. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht, was du damals wirklich gewollt hast, endlich einmal mit Andreas schlafen, und was sollte denn bei einem Mal schon passieren, oder ob du ein Kind von ihm wolltest, damit er sich nicht unnötig in Gefahr begab, oder ob du wirklich so schrecklich romantisch gedacht hast, wenn er denn stirbt, so lebt ein Kind nach ihm. Vielleicht war's alles durcheinander. Bestimmt aber bist du nicht 'schuld' daran, dass Andreas nicht fertig geworden ist damit, dass er Vater werden sollte in undurchsichtiger Zeit und dass er geglaubt hat, er müsse das Leben dieses Kindes erkaufen mit einem 'Gottesurteil' oder notfalls mit seinem Tod. Müsse sterben, damit es leben könne. Diese Schuld hast du nicht, Johanna. Und du darfst einen anderen Mann lieben, wenn dir einer begegnet, der dich liebt und auch deinen Sohn.'
Felix war gerade fünf geworden. Das Gespräch war an seinem Geburtstag. Ich war ganz erleichtert, dass Charlotte ausgesprochen hatte, wovon wir beide wussten, dass wir immer wieder darüber nachdachten. Wirklich hatte ich bald einen Freund. Es geschieht ja, wofür du bereit bist. Das war noch keiner für die Dauer, aber ich ließ mir Zeit, das herauszufinden. Dann aber, einige Monate später, begegnete ich Clemens, schon hier, wo die neue Universität gebaut wurde, die Freie Universität hieß. Und nun bekomme ich ein Kind von ihm und werde ihn heiraten."
Eine schon sichtbar schwangere Braut, das war in den staubigen 50er Jahren noch gänzlich ungewöhnlich. Ein großes Fest wurde gefeiert, mein erstes. Trauzeugin durfte ich nicht sein, weil noch nicht volljährig. Trauzeugen waren Charlotte und ihr Mann Günther. Aber für das erste Kind aus dieser neuen Ehe, Sebastian, war ich, eben konfirmiert, eine der Paten. Sebastian Clemens Immanuel hieß der zweite Sohn Johannas, das erste gemeinsame Kind mit Clemens. Im folgenden Jahr, 1955, wurde noch Sabine geboren, Sabine Ursula Magdalena.
Zunächst wohnten alle unter einem Dach und unter der Linde in Dahlem. Auch sie hatte amputiert werden müssen, aber aus ihrer Lebenskraft formte sie ihre Linden-Gestalt neu. Später zog das ältere Paar in eine eigene Wohnung, weit genug von der jungen Familie entfernt und nah genug bei ihr. Etwas so Schönes konnte Familie sein!
In dem Dahlemer Haus verbrachte ich viele Jahre lang als Schülerin und Studentin jeweils Tage oder auch Wochen der Ferien und hütete oft die Kleinen, wenn Johanna und Clemens ausgingen. Ich lebte und webte mit ihnen, war die große Schwester von Felix und die ganz große der jüngeren Kinder und ein wenig die kleine Schwester der Eltern Clemens und Johanna Rohrer und immer mehr ihre junge Freundin. Sogar ein winziges eigenes Zimmer hatte ich bei ihnen, mein erstes, unter dem Dach ausgebaut neben dem, das vor langer Zeit das von Andreas gewesen war, wo zuerst der Schrank mit Johannas Klamotten gestanden hatte und dann ein Koffer mit meinen. Mein erstes eigenes Zimmer!

Charlotte und Günther leben nicht mehr. Johanna und Clemens sind alt, aber noch immer voller Lebhaftigkeit und Liebe. Sie haben sechs Enkelkinder und zwei Urenkel. In ihrem Kreis habe ich die Liebe zum Leben, das Zuhören und das Rat geben können und den intellektuellen Diskurs gelernt. Niemand führte ihn, um Recht zu behalten, sondern um der möglichen Erkenntnis willen. Dies alles und vieles mehr sind Fähigkeiten, die in der dumpfen Luft bei meiner Familie nicht zu lernen, nur zu vermissen waren. Bei Johanna und den Ihren habe ich sogar erfahren, dass es möglich war, die Wut auf meine kalte Umgebung langsam loszulassen, allerdings erst, als ich in einer anderen Stadt wohnte und nur noch besuchsweise kam. Immerhin haben meine Eltern mir mein Leben bei den Rohrers gestattet, so sage ich heute. Johanna und Clemens und Felix und Sebastian und Sabine und Charlotte und Günther haben mir eine Familie geschenkt.

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