Samstag, 28. Juli 2007

WEIHNACHTEN:THEOLOGISCHE UND WENIGER THEOLOGISCHE PROBLEME

Das hohe Fest der Liebe wurde bei uns zweimal gefeiert, natürlich, in den beiden Teilfamilien. Schöner war es für Ursa, das Kind, bei der Großmutter. Bei ihr gab es, sobald das in der Nachkriegszeit wieder möglich war, aus Westberlin herbeigebracht, eine Gans, die sie vorzüglich zuzubereiten verstand, und einen üppig behangenen Weihnachtsbaum, der mit dem bei den Eltern meiner bewunderten Kinderfreundin Hilde Heidbrink konkurrieren konnte, den anzusehen und einen üppigen bunten Teller mitzunehmen ich armes Kind alljährlich eingeladen war.
"Oben" bei uns stand ein kleines Bäumchen, möglichst am letzten Tag gekauft, an dem es noch welche zu kaufen gab, weil das die billigsten waren, ein Bäumchen mit schiefen Ästchen, besenartig in seiner Erscheinung, sparsam behängt mit Kugeln, noch sparsamer mit Lametta, mit wenigen Kerzen 'besteckt', die nur für kurze Zeit angezündet wurden. Es stand auf des Vaters nie benutztem Rauchtisch mit der Marmorplatte, auf einer bestickten Weihnachtsdecke, deren Kostbarkeit aber gegen das Tropfen der Kerzen noch mit wiederum einer Decke belegt wurde, so dass die Stickerei gar nicht zu sehen war. Bei der Bescherung unter diesem Baum bekam ich ausschließlich praktische Sachen, auch als das nicht mehr aus schierer Geldnot nötig war. Es war, denke ich, einfach Mangel an Phantasie und Einfühlung der Schenkenden, meiner Mutter, denn mein Vater hatte sich für derlei als gar nicht erst zuständig erklärt. Ich bekam also beispielsweise eine selbstgestrickte Mütze und ebensolche Handschuhe, einen ebensolchen Schal - lange in bunten Ringelmustern, weil sich so die Wollreste aufgeribbelter Sachen am besten verwerten ließen. Auch wenn neue Unterhosen und Unterhemden nötig waren, erschienen sie auf dem oberen Weihnachtstisch, auch Schulhefte und Bleistifte. Meine Eltern schenkten sich nichts. Ob sie sich jemals etwas geschenkt hatten? Ein einziges Mal lag für mich eine Kette bei Unterhosen und Bleistiften. Um die hatte ich gebeten, mit einiger Überwindung. Es reichte nicht einmal zu einem Silberkettchen, sondern es waren irgendwelche bunten Glasperlen, die ich dann bekam, das billigste, schäbigste. Ich habe diese Kette nie getragen. Wahrscheinlich habe ich aber gar nicht erwartet, von meiner Mutter etwas wirklich Schönes zu bekommen, und wollte mir nur beweisen, dass ich Recht hatte.
"Unten" war Weihnachten anders; nun ja: etwas anders. Es war das richtige in meinen Augen, das mit der ganzen Familie. Schon wenn wir kamen, zog der Gänsebratenduft durchs Haus, in dem wohl die wenigsten Mitbewohner ebenfalls eine Gans verzehrten. Neid wird unvermeidlich gewesen sein. Die Tür zur Weihnachtsstube war verschlossen, also dem Wohnzimmer, dem mit den Eichenmöbeln, in dem es längst meines Vaters Schreibtisch und Bücherschrank nicht mehr gab.
Es hieß, es sei das "Christkind", das mich hier "bescherte". Wie denn, also das Jesuskind persönlich? Das Baby aus der Krippe? Anscheinend ja, denn in der Kirche war zu Weihnachten eine Krippe aufgebaut. Und wir Kinder führten da die Weihnachtsgeschichte nach Lukas auf, in jedem Jahr eine andere Gruppe, mit einer Puppe als Christkind. Zu mehr als einem Engel im weißen Bettlaken mit Pappflügeln, darunter festgebunden, und irgendetwas Silbernem auf dem Kopf habe ich es aber leider nie gebracht und wäre doch so gerne einmal Maria gewesen ...
Und wenn nun dieser Jesus das nächste Mal auftauchte im Kirchenjahr, dann feierte er schon ein Abschiedsmahl mit denen, die ihm nachfolgten. Einen Tag später war er tot, auf brutale und schändliche Weise an einem aufgerichteten Kreuz angenagelt und einem gemeinen Sterben überlassen. Warum eigentlich? Denn er war doch "Gottes Sohn". Und wieso hatte Gott einen Sohn? Und dann war dieser "Sohn" "auferstanden", das war zu Ostern, und irgendwann später stieg er auf zu seinem Vater, und das hieß "Himmelfahrt". Und hatte diese ganze Geschichte mit dem Sterben auch noch vorher gewusst und sich nicht davon gemacht. Aber als "Gottes Sohn" durfte er das wohl nicht.
Alle diese Fragen waren natürlich viel zu kompliziert für mich und als Fragen zugleich zu simpel. Aber mit sieben, acht, neun, zehn Jahren hatte ich das Kirchenjahr im Kindergottesdienst schon einige Male erlebt und wusste: so gehörte das hintereinander. Danach kam als Fest noch Pfingsten, das sowieso keiner verstand, und dann kam lange gar nichts Besonderes, und dann ging mit "Advent" schon wieder alles auf Weihnachten zu. Das repetierte ich wahrscheinlich nicht, wenn ich beim Küchenofen auf meine Bescherung wartete, aber hinterher, wenn ich nicht einschlafen konnte. Irgendwann wusste ich leider so viel, dass dieses Jesuskind nach der Bibel nicht nur Gottes Sohn war, sondern als Gottes Sohn identisch war mit dem HERRN Jesus, der für unsere "Sünden" am Kreuz gestorben und dann wieder auferstanden war, und deshalb gab es die Kirche, in die ich ging. Wieso aber konnte ein Herr wie ein Verbrecher hingerichtet werden? Und was für Sünden hatte ich denn schon begangen, dass dafür jemand sterben musste, Gott selber sogar? Hatte der dann nicht etwas schrecklich falsch gemacht mit seiner Schöpfung? War das zu begreifen? Nein, es war zu "glauben". Die Antwort konnte ich mir schon selber geben und ahnte auch, dass es unpassend gewesen wäre, solche Fragen im Kindergottesdienst zu stellen. Zeitweise, als Kind und lange danach noch, habe ich mich um Glauben sehr gemüht. Doch wer stand mir denn dafür ein, dass alles das, was in der Bibel stand, die Wahrheit darstellte? Aber es gelang mir noch lange Zeit immer wieder, diese argwöhnische Frage wegzudrängen. In der Familie wäre sie noch weniger zu stellen gewesen als im Kindergottesdienst.
Also kehren wir wieder zu den Kinderfragen zurück. Da wusste ich nun wenigstens eines ganz sicher, alle anderen Kinder wurden vom "Weihnachtsmann" beschert. Und wie der aussah, davon hatte ich zumindest Postkarten gesehen. Er sah so aus, wie er noch heute aussieht mit rotem Mantel, roter Kapuze mit weißem Besatz, angeklebtem weißem Bart und roten, schwarzen oder weißen Stiefeln, eine Figur, die viele Jahrzehnte überdauert hat und noch immer, wenn dümmste Talks und abgenudelster Sex mal ein paar Stunden nicht zu passen scheinen und Pause haben, seinen Dienst im Fernsehen antritt und Wochen vorher schon in Einkaufszentren etc. Also bei den anderen Kindern brachte dieser die Geschenke, und einige schworen, dass er wirklich bei ihnen in der Wohnung gewesen sei, Zigarrenrauch verströmt habe, und gegen ein aufgesagtes Weihnachtsgedicht hätten sie den Sack leer machen dürfen, den er trug. Freilich drohte er bei bösen Kindern mit einer Rute, die er bei sich hatte. Aber anscheinend schlug er nicht damit.
Nun war aber doch Weihnachten in der ganzen Welt gleichzeitig. So hatte man mir das jedenfalls gesagt. Dass es trotzdem so viele Weihnachtsmänner geben konnte, wie gebraucht wurden, das vermochte ich noch irgendwie zu verstehen. Da zogen sich eben einfach Männer diese Verkleidung an. Eigentlich war das auch schon der Beweis dafür, dass es 'den Weihnachtsmann' nicht gab. Und ich verachtete meine Klassenkameradinnen ja sowieso sehr, die dergleichen glaubten. Aber ich beneidete sie auch, weil sie es so viel einfacher hatten mit ihrem Weihnachtsmann als ich mit meinem Christkind.
Erschwerend kam für mich noch hinzu, dass ich vor allen Jesusgeschichten ein Weihnachtsgedicht auswendig konnte, mit noch nicht drei Jahren. 'Mein' Gedicht begann: "Denkt euch, ich habe das Christkind gesehn!/Es kam aus dem Walde, das Mützchen voll Schnee,/mit rotgefrorenem Näschen." So behielt ich es jedenfalls in der Erinnerung, und mehr Text ist mir später nie wieder eingefallen. Es gibt auch nur noch drei weitere solcher Strophen. Aber Wurzelzwerg ich prunkte damit in der U-Bahn und genoss die Bewunderung der Mitfahrer für mein auswendiges Aufsagen. Dies Christkind hatte mit dem Herrn Jesus anscheinend nichts zu tun, es schlief einen Ganzjahresschlaf im Wald (groß, weit, unfassbar), ließ sich aber angeblich vorher schon hier und da mal sehen und tat dann punktgenau seinen Dienst. Wobei die Frage nach seiner Ubiquität sich natürlich auch stellte und ebenso unbeantwortet blieb.
Dies alles an theologischen Problemen bedeutete aber nicht, dass ich nicht auch ganz einfache Fragen gehabt hätte, oder eigentlich auch keine einfachen, aber jedenfalls näher liegende: Wie kam denn "das Christkind" ins Bescherungszimmer und, noch wichtiger, wie die Geschenke? Mit der Auskunft, es komme schon in der Nacht vor dem Heiligen Abend, begnügte ich mich eine Weile. Und war dann hoch aufgeregt, als die großen Flügeltüren zum Flur sich auftaten, die Kerzen an einem hohen Baum brannten, der bis zur Decke reichte, unter verschiedenen Tüchern Geschenkhäufchen zu vermuten waren und unter einem großen Tuch eine Art von Geschenkberg. Der war für mich.
Doch bis ich ihn erkunden durfte, war ein Ritual zu absolvieren, das über lange Jahre hin mit dem Gedicht vom Christkind aus dem Walde begann. Als ich dann auf der Geige kratzen konnte, begleitete mich mein Vater auf dem Klavier bei einem Weihnachtslied, das alle zusammen in fürchterlicher Weise sangen, falsch und ohne Text. Dem folgte, man glaubt es kaum, die Weihnachtsgeschichte, wie sie im Lukas-Evangelium steht. Das verlangte meine Großmutter so, und sie lesen musste wiederum ich, als ich das konnte, also lesen gelernt hatte. Oder vielleicht konnte ich sie noch vorher auswendig, die Weihnachtsgeschichte? Früher hatte die Großmutter gelesen, auch als die Bescherungen noch ihren Kindern Hilde und Herbert gegolten hatten. Nie betrat sie eine Kirche, nie betrat irgendwer aus meiner Familie eine Kirche, aber die Geschichte vom göttlichen Kind in der Krippe, die musste zu Weihnachten sein. Da war die Großmutter unerbittlich. Schließlich: "O du fröhliche ...". Als ich älter wurde, fragte ich mich jeweils während dieses Ablaufs, welcher Streit wohl am Ende des fröhlichen Weihnachtstages stehen würde. Feiern, das konnte meine Familie nämlich nicht.
Dann durften alle die Geschenke öffnen, d.h. zuerst ich die meinen. Da von meiner Mutter "das Praktische" schon oben bei uns gekommen war, kam von der Großmutter das nicht Praktische, aber nur für mich, das Kind. Spielzeug, durchaus bescheiden über lange Zeit. Puppen waren es mehrfach, die ich bekam. Ich wagte nicht zu sagen, dass ich mit Puppen gar nichts anzufangen wusste, denn wozu sollte ich sie anziehen und ausziehen und spazieren fahren? Wie selig war ich gewesen, als meine Ur-Freundin Hilde Heidbrink mir gestand, dass sie das auch dämlich fand! Aber niemand bemerkte, dass ich mit den Puppen selten oder gar nicht spielte, auch nicht mit der einen Babypuppe, die durch ihre schiere Größe mir denn doch Eindruck machte und für die meine Mutter gewaltige Mengen an Garderobe nähte, häkelte und strickte. Alle diese Sachen blieben aber in einem Schrankfach bei meiner Wäsche liegen wie die Puppe in dem Wagen, den mir auch eines Weihnachtsabends "das Christkind" beschert haben musste, ein sehr teures Geschenk, wie man mir zu verstehen gab. Ein Kind durfte aber natürlich nicht sagen, ihm liege an Puppen und ihren Wagen nichts, schon gar nicht dann, wenn sie teuer gewesen waren. Das Kind musste Freude heucheln, die es nicht empfand, sich mit Umarmungen und Mundküsschen bedanken, die es unappetitlich fand.
Für sich selbst lehnte die Großmutter andere als praktische Geschenke ab. Eisenhart war sie in diesem Ablehnen. Wann der Streit aller Streite stattfand, weiß ich nicht mehr, jedenfalls aber in den auch in Ostberlin schon etwas besser gewordenen Zeiten. Auf Dinge wie dieses, von dem nun die Rede sein wird, konnte nur eine volkseigene Produktion kommen, glaube ich. Denn der Streitgegenstand, das weiß ich wie eingebrannt in die Erinnerung, war ein hölzerner Nussknacker, ein Nussknacker in der Gestalt eines Eichhörnchens und von dessen etwa natürlicher Größe. Es war das Geschenk meiner Familie, d.h. meiner Mutter, da sich ja mein Vater um dergleichen nicht kümmerte, für meine Großmutter und Tante, ein Geschenk, das nach den Vorstellungen der Großmutter der Inbegriff eines unpraktischen war, und unpraktisch, verdammt noch mal, ist es auch wirklich gewesen, eins von diesen Geschenken, wie es nur verschenkt wird, wenn Schenken nichts als Verpflichtung und kein Mut vorhanden ist zu sagen: man habe nichts gefunden. Das Eichhörnchen war also dazu da, die Nüsse zu knacken, die ihm ins Mäulchen gestopft wurden, in zwei verschieden großen Mulden Haselnüsse und Walnüsse. Zu diesem Zweck war der Schwanz beweglich. Wenn man ihn nach unten drückte, sollte er die Nuss gegen den Oberkiefer des Eichhörnchens drücken und auf diese Weise knacken. Nur: Es funktionierte nicht. Es funktionierte nicht an jenem heiligen Weihnachtsabend und funktionierte auch niemals später, wenn ich es heimlich nochmals versuchte. Denn da niemand erkannte, dass dies groteske Geschenk schon aus Verzweiflung und aus Feigheit gekauft worden war, da anscheinend auch niemand das Komische daran sehen konnte, löste sich die missglückte Schenkerei nicht in Lachen auf, sondern Schwiegermutter und Schwiegertochter verhakten sich in einem bitterbösen Streit darüber, was man jedenfalls nicht zu schenken habe, bis mein Vater seiner Familie befahl, mit ihm in die obere Wohnung zu gehen. O du fröhliche!
Das Kind hatte so nachdrücklich wie niemals sonst vorgeführt bekommen, was man eigentlich vor ihm zu verbergen suchte: dass nämlich seine Familie von unerträglicher Dummheit und Lieblosigkeit war, dass aber sein Vater, der einzige, für den das, beides, nicht galt, nichts anderes zu tun wusste, als sich von ihr zu isolieren und an den einzigen Ort zu fliehen, wo er allein sein konnte, seinen Schreibtisch, und zu der einzigen Tätigkeit, die ihn die familiäre Umwelt vergessen ließ, der Graphologie. Das war nach den misslungenen UR-ZI-Sendungen.
Dabei war doch der Vater es gewesen, der die Grundkonstellation zwischen seiner Mutter und seiner Ehefrau arrangiert oder jedenfalls nicht vermieden hatte, um seines Arbeitszimmers willen, wie ich ja glaube. Diese Konstellation war die Urzelle der Nussknacker-Suite, die mit seiner Eheschließung begonnen hatte und erst mit dem Tod beider Frauen im selben Jahr, 1980, endete.
Aber die Weihnachtsgeschichte Zinke ist noch nicht zu Ende. Denn am ersten Weihnachtsfeiertag nach dem Nussknacker-Eklat wurde ich gebraucht, damit der Sohn sich bei seiner Mutter für seine Ehefrau entschuldigen konnte. Nur so war es möglich. Dass die Tochter der Alten, die Schwester, Schwägerin und Tante also auch, zur Entschuldigung für ihre Mutter in die obere Wohnung heraufstieg, war anscheinend unmöglich oder gar: dass die störrische Alte etwas eingesehen hätte. Also wurde eine oberflächliche Versöhnung arrangiert, die im Beisein des Kindes nicht verweigert werden konnte. Geklärt wurde nichts, eine Einladung zur Abendgans wurde ausgesprochen und der Nussknacker mir in den Arm gedrückt. Ich stellte ihn erst ins Büfett, später, als er auch mir seine völlige Untauglichkeit erwiesen hatte, in den Keller. Dort wurde er zeitweise vergessen. Nach Westberlin zog er nicht mehr mit. Wo er aber blieb, das weiß ich nicht. Er könnte sein Ende in einer Mülltonne gefunden haben.

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