Samstag, 28. Juli 2007

WIE DIE SICH FANDEN DIE MEINE ELTERN GEWORDEN SIND

So, wie ich es hier darstelle, könnte es gewesen sein, dass sie zusammenkamen. Auf andere Weisen, die ich mir aber nicht auszumalen vermochte, könnte es auch gewesen sein. Nur darüber, wie es gewesen ist, weiß ich nichts außer wenigen Brocken. Und eben dies: es ist gewesen, diese Begegnung hat es gegeben, dieser Mann und diese Frau haben geheiratet und zwei Kinder gezeugt.
Ich habe mir mehrere Varianten ausgedacht, in denen sich diese beiden Menschen begegnet wären, aber vermieden hätten, einander näher zu kommen. Jede von ihnen erschien mir einleuchtender als das, was ich schließlich geschrieben habe. Natürlich hätte ich das Thema in diesen Erinnerungen einfach vermeiden können. Aber das wollte ich nicht. Denn eben: Die Begegnung meiner Eltern hat stattgefunden und hat zu einer Ehe geführt, aus der ich entstanden bin. Ich fand mich vor, wuchs heran mit Mutter, Großmutter, Tante, erst spät auch mit meinem Vater. Ich war nicht unglücklich, glücklich aber auch nicht in meiner Familie. Ziemlich früh wusste ich, ein Kind noch, dass ich nicht werden wollte wie sie. Wie das aber anzufangen war, wusste ich nicht. Weite Zukunftsentwürfe machte ich nicht, schon gar keine, hinter denen Entschiedenheit und Kraft gesteckt hätten. Ich fühlte mich wenig wohl bei den "Meinen", aber auch nicht schrecklich unwohl. Immer sind es Begegnungen mit anderen Menschen als ihnen gewesen, die mir einen Zuwachs an Selbstsicherheit und Lebenszuversicht gegeben haben.

Und so vielleicht fanden sich meine Eltern:
An einem Sonntagnachmittag im September oder Oktober 1937 saß eine nicht mehr ganz junge Frau vor dem Café am Dom in Köln bei einem Kännchen Kaffee und einem erstaunlich großen Stück Käsesahnetorte an einem kleinen Tisch und wartete. Es war noch fast sommerlich warm. Das ist einmal so erzählt worden in der Familie, der Ort, die Zeit, das Stück Torte und die Wärme noch spät im Jahr, einige der Sachverhalte, die ich beibehalten muss, weil sie belegt sind. Schwarzhaarig war die Frau, vielleicht wirkte sie südländisch. Sie müsste noch gut ausgesehen haben damals, war noch schlank. Sie wartete, stelle ich mir vor, auf einen Mann, der sich zu ihr setzen, ein wenig mit ihr sprechen sollte, nicht zu viel, nicht zu gescheit, der sie wiedersehen wollte, dann sie heiraten und ihr Leben in seine Hände nehmen sollte. Denn was sie selbst bisher dazu versucht hatte, sich unter die Haube zu bringen, es war alles nicht gelungen, weder ein Urlaubsflirt an der Ostsee, noch ein Tanz auf Schloss Aprath, nicht einmal die wenigen Karnevalsenthemmungen, auf die sie sich eingelassen hatte.
Irgendwann hat die Frau, die meine Mutter wurde, aber den Mann getroffen, dort in Köln, der mein Vater geworden ist.. Besser für beide und für 'mich' wär's gewesen, sie hätten einander nicht getroffen. Oder, wenn doch, dann hätten sie wenigstens nicht heiraten sollen. Niemandem scheint Freude von dieser Ehe her gekommen zu sein. Vielleicht hat das Ehepaar selbst seine Verbindung bald am meisten bedauert. Und ich habe auch genug Anlass, sie zu bedauern. Es will mir ja kaum glücken (glücken?), sie überhaupt erfindend zusammenzubringen. Aber da es mich nun einmal gibt und vor mir einen Sohn gegeben hat, muss es eben doch irgendwann, irgendwie geschehen sein, dass sie zusammenkamen und zusammen blieben.
Der Ort also, das Café am Dom in Köln, ist verbürgt, der Zeitpunkt etwa auch. Dass mein künftiger Vater, ein Berliner, im frühen Herbst 1937 in Köln war, hat seinen Grund in einer Fortbildung gehabt, die er als Angestellter der Deutschen Bank damals machte, wohl vor einer Beförderung. Ob diese weitere Ausbildung nun in Köln oder in Düsseldorf stattgefunden hat, weiß ich nicht. 1961 gab es das nochmals für meinen Vater, eine Fortbildung und danach eine Beförderung, damals in Düsseldorf. Zwischen beiden lag der 2. Weltkrieg und allerlei anderes. Und der Satz meines Vaters zu mir, die ich damals gerade volljährig geworden war, der einzige, den er jemals zu seiner Tochter über seine Ehe gesagt hat, und der hat sich eingebrannt in meine Erinnerung: "Wenn ich nicht sicher wüsste, dass deine Mutter sofort einginge, würde ich mich noch heute von ihr scheiden lassen."

An jenem Herbstnachmittag aber wartete diese Frau nicht vergeblich, so versuche ich mir den Anfang vorzustellen, dem der Mann nicht gewehrt hat. Er kam, korrekt gekleidet mit Anzug und Krawatte, vielleicht direkt vom Bahnhof, der ja gegenüber liegt, zu jenem Café, sah keinen einzelnen freien Tisch mehr und fragte deshalb die nicht mehr ganz junge Frau, ob der freie Platz an ihrem Tisch frei sei. Das galt für höflich so. Nur einen Kaffee wollte er trinken. Aber die Frau, zu der er sich gesetzt hatte, sagte sogleich: "Die Torte ist ganz ausgezeichnet. Sie sollten sie probieren." Da wird er sie wohl nur knapp angesehen und danach in seinen Reiseführer geblickt haben, nicht in die Partie über den Dom, sondern, denke ich mir, in einen Abschnitt über eine der zwölf romanischen Kirchen. Den Dom kannte er schon. Die Dame, denke ich mir weiter, hat sich durch den missglückten ersten Versuch der Kontaktaufnahme noch nicht abschrecken lassen, sondern könnte einen kurzen Dialog mit der Bedienung, als die den Kaffee dann brachte, benutzt haben, das Gespräch fortzusetzen und festzustellen: "Von hier sind Sie nicht. Vielleicht aus der Reichshauptstadt?" Die Frage könnte er dann bejaht und mit der Gegenfrage nach der Herkunft der Dame den begonnenen Dialog höflich weitergeführt haben, auch mit der Absicht, wenn er denn schon reden musste, wenigstens selbst zu bestimmen, über was, möglichst Unverbindliches, was man so redet mit einer Fremden an einem Kaffeehaustisch, wenn man selbst keinerlei weitergehende Absichten hat. Aus dem Bergischen Land sei sie, aus einem kleinen Ort bei der kleinen Stadt Velbert, falls er die kenne, nun aber schon lange in Köln, seit sie 23 sei, Sekretärin beim Rheinischen Haus- und Grundbesitzerverband. Auch das gehört zu dem wenigen mir Bekannten aus ihrem Leben vor ihrer Ehe, wenn auch nicht ihr Alter, als sie nach Köln zog, und vor allem nicht der Grund, warum sie es tat.
Ehe sie sich da aber in Details ihres beruflichen, zuvor gar noch ihres schulischen Werdegangs verlieren konnte (Volksschule, aber mit guten und sehr guten Noten, danach 1 ½ Jahre Handelsschule, ein sozialer Aufstieg also, ihr Vater war Schlosser, aber mit Lehre immerhin), fragte der Berliner: "Wenn Sie schon so lange in dieser Stadt mit den vielen herrlichen Kirchen wohnen, so haben Sie doch sicher eine Lieblingskirche darunter, wenn man so sagen darf, und können mir freundlicherweise sagen, welche." Das war nun nicht ausschließlich freundlich gemeint, denke ich mir. Es sollte die etwas redselige Frau vom sonst wohl allzu weiträumig beschriebenen Feld ihrer offenbar belanglosen Biographie auf ein anderes, anspruchsvolleres lenken, so dass sie entweder mit unerwarteten Interessen und Kenntnissen aufwarten konnte oder, wahrscheinlicher, erkennen lassen müsste, dass sie nichts zu bieten hatte. Dann aber konnte der Mann, den sie, erst mal jedenfalls im Gespräch, festhalten wollte, mit guter und auch nicht unhöflicher Begründung bezahlen, aufstehen und tun, was er an dem Nachmittag tun wollte, eben doch den Dom mehr als nur flüchtig ansehen. Darauf hatte er sich vorbereitet. Von den romanischen Kirchen würden an weiteren Sonntagen einige folgen.
Und richtig: Sie sei nicht katholisch, sagte die Mitteilsame, das sei man im Bergischen Land weniger, sie sei natürlich manchmal im Dom gewesen, weil der doch so ein Wahrzeichen von Köln sei und sogar in Karnevalsschlagern vorkomme, und da sei ja auch der goldene Schrein mit den Gebeinen der ..., der heiligen drei Könige, und sehr schöne bunte Glasfenster und ... Und 'gotisch' heiße der Baustil, fügte sie noch hinzu, die anderen Kirchen aber seien romanisch,. Spitzbogen, Rundbogen der Fenster, habe ihr der Chef mal erklärt, sei zur Unterscheidung wichtig, aber leider, fügte sie listig hinzu, mehr habe er nicht erklärt. Nein, so etwas wie eine Lieblingskirche könne sie also gar nicht haben, weil sie die romanischen ja nicht kenne.
So bald es möglich war, denke ich mir weiter, wird nun der Mann, der dennoch mein Vater werden würde, seinen Kaffee bezahlt, seinen Reiseführer aufgenommen und der Dame an ihrem Tisch noch einen schönen Nachmittag gewünscht haben. Die aber mag dann gesagt haben, mit solchem Umweg könnte die Geschichte weiterkommen, wenn es dem Herrn aus Berlin nichts ausmache, dass sie so ungebildet sei, sich aber gern etwas erklären lasse -, ob denn nicht er ihr den Kölner Dom zeigen wolle.
Nun besaß dieser Mann, der einmal Lehrer hatte werden wollen, durchaus ein Belehrungsbedürfnis und das, so idealistisch war er noch dazu, umso nachdrücklicher, je größer die Unkenntnis war, die es zu beheben galt. Und so gingen das Fräulein Elfriede Holtz und der Herr Herbert Zinke in den Kölner Dom, wo ihr eine immer weiter in die Vergangenheit des Christentums wie auch des Judentums zurückführende Erklärung zu Teil wurde, die ihr Hirn und ihre Füße sehr in Anspruch nahm, aber jedenfalls den ihr sehr gelehrt erscheinenden Herrn an ihrer Seite ließ, bis der späte Nachmittag in einen frühen, aber immer noch ein wenig hellen Abend überging und sie schließlich schicklich die Frage stellen konnte, ob sie den Herrn Zinke nicht zum Dank für die Belehrung zu einem kölschen Abendimbiss einladen dürfe. Vorgestellt hatte er sich, und ihren Namen erfahren hatte er vor der Domführung.
An dieser Stelle könnte es gewesen sein, als er also diese Einladung annahm, dass mein künftiger Vater bereits den entscheidenden Fehler machte. Noch hätte er, mit dem Vorwand, sich für den folgenden Tag vorbereiten zu müssen, oder wie auch immer, sich mit einem nur gesprochenen Dank begnügen und sich verabschieden können. Was mag ihn bewogen haben, das nicht zu tun? Die eigene Lehrhaftigkeit vielleicht, mit der er gerade so gut in Schwung war? Denn Absichten wie die der Kölner Sekretärin, Heiratsabsichten, um es ohne Umschweife zu sagen, die können ihn damals nicht bewogen haben. Einerseits war er von Veranlagung her eher ein Einzelgänger, der lieber seinen autodidaktisch erworbenen graphologischen Studien nachging als, von Ausnahmen abgesehen, Frauen. Dass er das in todtraurigen Gedichten tat und immer erfolglos, muss nicht heißen, dass er es in der Wirklichkeit immerzu tat, aber sicher hat er es auch in der Wirklichkeit getan, und genau so sicher nicht so, dass er ständig seine Nächte schweifend auf den Großstadtstraßen verbrachte. Er hätte sich wahrscheinlich ein Hagestolzenleben mit seiner Mutter oder, lieber noch, mit Mutter und Schwester, gut weiterhin vorstellen können, wäre nicht die Wohnung so eng gewesen.
Andererseits war erst vor wenigen Monaten ein Liebeserlebnis über ihn gekommen, bei dem er wohl die Liebe seines Lebens kennen gelernt hatte. Das gehört zu dem, was mir seine Schwester, meine uralte Tante Hilde, wenige Monate vor ihrem Tod erzählt hat; Lebensbruchstücke, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Die einzige Frau sei das gewesen, die ihm, Herbert, in Geist und Seele gleichrangig gewesen sei (ja, so feierlich sagte sie das). Die Tochter eines hohen Vorgesetzten sei Julie gewesen. Auf einer Geselligkeit der Bank habe er sie kennen gelernt, wohin er habe gehen müssen. Aber Herbert hätte ihr, diesem Mädchen, mit seinem Gehalt noch lange nicht den Lebenszuschnitt bieten können, den sie gewohnt gewesen sei. Eine Apanage des künftigen Schwiegervaters habe er nicht angenommen. Herbert habe sich von dieser geliebten Frau getrennt unter tausend Schmerzen, aber auch in dem unseligen Familienstolz, nicht von jemand abhängig zu sein. In Julies Elternhaus sei sogar eine kleine Wohnung für seine Mutter gewesen. Die habe er gleichfalls nicht gewollt. "Auch deinetwegen nicht, Tante Hilde? Du wärest ja dann allein zurückgeblieben." Sie schwieg. Wie so oft kamen ihr Tränen. Wie viel hat Herbert gewusst von ihrer Beziehung zu Josef Wedzicki? Heute denke ich: manches, geahnt vieles. Er wird erkannt haben, dass sie gut war für seine Schwester.
Und nun, den noch immer unbewältigten Verlust in sich, traf er Elfriede Holtz und ging mit ihr essen, wie sie es sich gewünscht hatte, brachte sie nach Hause, wie es sich gehörte, verabschiedete sich an der Haustür sogar mit einem korrekten Handkuss und fuhr zurück in sein Tagungsquartier. Während der Fahrt mag er den Tag bedacht und gemeint haben, er habe sich richtig verhalten. Denn ich stelle mir vor, dass er sehr wohl bemerkt hatte: Dieses Fräulein Holtz suchte einen Ehemann. Er jedoch wollte keiner werden, jedenfalls damals nicht.
Die Enttäuschung darüber, dass Julie, die er noch immer liebte, für ihn, den Sohn eines kleinen Polizisten und einer angelernten Schneiderin, 'zu hoch' war, die steckte tief in ihm, da konnte er noch so begabt sein. Er blieb besetzt von den Werten und Verboten, mit denen ihn seine Familie imprägniert hatte: Wir sind kleine Leute, die Kinder sollen nicht meinen, sie könnten etwas sehr viel Besseres werden als die Eltern. Zeitweilig zwar haderte er mit der Beschränktheit dieser Eltern, die ihn nicht hatten Abitur machen, nicht hatten studieren lassen, die das Finanzierungsangebot der Jaminets, als sie endlich von dem Knick in Herberts Ausbildung erfuhren, ausgeschlagen hatten. Sie liebten ihn wie einen Sohn. Aber er trennte sich nicht von seiner Familie. Er kämpfte nicht ums Studium, nicht um seine Liebe. Er zog sich innerlich zurück und lebte innerhalb der Familie zwischen Schreibtisch und Bücherschrank, ein stummer Gast.
Diese Frau in Köln nun, die ihm deutlich genug Avancen machte, glaubte er ebenso deutlich abgewiesen zu haben. Doch nicht deutlich genug für die Kölnerin. Den Tagungsort ihres Cafébekannten herauszufinden und den täglichen Ablauf seiner Fortbildung, das kann für sie nicht schwer gewesen sein. Am Sonnabendmittag nach dem Kölner Sonntag passte sie ihn dort ab, den nichts Ahnenden, bat um noch einmal einige Stunden, um ein Gespräch, wenn es ihm recht sei, bei einem Spaziergang am Rhein. "Warum?" könnte er gefragt haben, es sei doch nichts offen zwischen ihnen und nichts auf irgendeine Art von Zukunft hin angelegt, ja, nicht einmal verabredet hätten sie sich. Von solcher abwehrenden Direktheit konnte er sein, nur nicht seiner Mutter gegenüber.
Gerade ihre mögliche Zukunft aber hatte sich Elfriede Holtz, die meine Mutter werden würde, inzwischen überlegt, hatte sie einige Nächte lang mit immer größer werdender Entschlossenheit durchgrübelt. Sie wollte endlich heiraten, einen Mann an ihrer Seite wissen. Zu dem Herrn Zinke sagte sie zunächst Belangloses, aber auch, dass sie noch einmal lange im Dom gewesen sei und wieder angesehen habe, was er ihr gezeigt und erklärt hatte. Herbert Zinke, irritiert von dieser erkennbar nicht absichtslosen Mitteilung, aber noch immer höflich, vielleicht auch neugierig, ließ sich darauf ein, mit zur Rheinuferpromenade zu gehen. Dort blieb sie nach wenigen Schritten stehen, als hätte sie den Vater Rhein zum Fürbitter gebraucht, und sagte: "Bitte heiraten Sie mich." Das muss sie nicht wörtlich so gesagt haben. Aber die alte Hilde hat bestätigt, dass es Elfriede gewesen sei, die diese Ehe eingefädelt habe.
Er hat wohl nach Not geklungen, der ungewöhnliche Satz, stelle ich mir vor, aber außerdem nach Kalkül. Der dennoch mein Vater werden würde, der Einzelgänger, war seinem Wesen nach kein Nothelfer, jedenfalls kannte ich ihn so nicht (freilich, es gibt eine Ausnahme, von der ich noch berichten werde). Er hielt sich fern von den Menschen, und was er damals in der Bitte oder Aufforderung gehört haben mochte, das ihn vorweg schon zum diese Bitte Erfüllenden machte, das erzeugte wahrscheinlich vor allem Abwehr. "Bitte verschonen Sie mich mit solchen Wünschen", könnte er erbost gesagt haben, "und zwingen Sie mich nicht, Ihnen noch schärfer zu antworten." Denn die Sprache war das Ausdrucksmittel seiner Sehnsüchte, seiner Gedichte, die seinem zeitweiligen Gott Rilke nachempfunden waren, war Ausdruck seiner graphologisch-psychologischen Analysen, aber sie war auch seine Waffe. "Bitte hören Sie mich erst an", sagte sie. In ihrem Blick muss etwas gewesen sein, das ihn dazu bestimmte. Er setzte sich auf eine Bank. "Nun also, ich höre Sie an."
Da wird sie ihm wohl, die nicht mehr junge Frau, ihre Lebensgeschichte, ihre Liebesgeschichte erzählt haben. Sie könnte beherrscht gewesen sein von der Vorstellung, alles im Leben misslinge ihr, da es keinen Mann gab, der ihr den Status der verheirateten Frau verschafft hätte. Es schien ihr mehr um das Ansehen nach außen hin zu gehen, mehr darum, die Anrede "Fräulein" loszuwerden, als um die Vertrautheit einer Liebesgemeinschaft,. die sie, das müsste sich dann gezeigt haben, bisher nicht kennen gelernt hatte. Sie war schön gewesen, das sehe ich auf einem Foto der 21-Jährigen, aber die Schönheit war schon von altjüngferlicher Verbitterung überschleiert. Auf dem Hochzeitsbild ist das für mich schrecklich deutlich, und das ist nur ein halbes Jahr später entstanden.
Früher könnte sie ein lockeres, lockendes Mundwerk gehabt haben, etwa, wenn sie mit der Motorrad-Clique ihres Bruders mitfuhr. Kess waren ihre Reden, stelle ich mir vor. Wenn aber einer der jungen Männer sie bei ihren Worten zu nehmen versuchte, sie abseits führte, mit ihr knutschen wollte, so rief sie den Bruder um Hilfe, als sei der andere dabei, sie zu vergewaltigen. Das ging nicht lange so. Sie galt bald als die frigide Zicke und bloße Maulheldin, und dem Bruder wurde nahe gelegt, er solle sie künftig zu Hause lassen. Sie hatte einen Ruf weg, der ihr anhing in der Gegend. Deshalb, stelle ich mir vor, wurde sie das Sorgenkind ihrer Eltern, nachdem sie lange Jahre artig gelebt hatte, wie man es von ihr erwartete, aber doch niemand, so wie sie es in ihren Mädchenbüchern gelesen hatte, um ihre Hand anhielt. 17 war sie, als der Krieg zu Ende war, der erste, und glaubte schon, das Leben verpasst zu haben.
Irgendwann am Anfang ihrer 20er Jahre ging sie dann nach Köln. Sie ist sehr mutig gewesen, glaube ich, die Kleinstadt zu verlassen und eine Stelle in der unbekannten Großstadt anzunehmen. Sie suchte dort wohl die berufliche Bestätigung, aber auch einen Mann, den fürs Leben. Wie aber ihn finden? Sie hätte vermutlich manche haben können, zum Beispiel die im Kino ihr die Hand aufs Knie legten und höher hinauf wollten. Oder die, beim Tanzen auf Schloss Aprath, die ihre Wünsche deutlich genug machten, die sie dann doch nicht verstanden haben wollte. Eigentlich war sie ein braves Mädchen und ein etwas einfältiges dazu, denn sie hat nicht begriffen, über viele Jahre hin nicht, dass sie mit ihrer Art des Suchens nach einem Mann nur einen zeitweiligen Liebhaber finden würde, und solche Zeitweiligen, die sie mehrfach hätte haben können, verscheuchte sie durch die zunehmende Altjüngferlichkeit, die ihr befahl, ihre Angebote nicht zu einzulösen. Das alles potenziert im Kölner Karneval. Sie war zu unsicher, ihn als erotisches Spiel zu sehen, und deshalb war sie unfähig, sich zu verkleiden. Aber eben dadurch fiel sie auf, und wieder fanden sich dann Männer, wie sie ja sollten, und immer, wenn es ernster zu werden drohte, entwischte sie ihnen. Und es hatte das eine Mal gegeben, es könnte dieses eine Mal gegeben haben, wo ein Mann ebenfalls nicht verkleidet war, sich seriös gab und ihr Vertrauen errang, für den Abend. Er lud sie danach einige Male zum Essen ein, damit sein Trinken dabei nicht so auffiel, und goss ihr immer wieder nach. Und als sie einmal so ohne Hemmung war, dass die Alarmglocken nur noch so matt anschlugen, dass sie zu überhören waren, da hatte der Mann ein Zimmer, in das er sie mitnahm und in dem er mit ihr schlief. Auch das erste Mal kann schwanger machen, und das tat es. Elfriede war fassungslos, als sie es bemerkte. Den Eltern beichten, das Kind aufziehen? Unmöglich. Sich in den Rhein stürzen? Sehr möglich. Sie versuchte es auch, und da sie nicht schwimmen konnte, hätte der Versuch gelingen können. Da sie ihn jedoch zugleich so angelegt hatte, dass man sie bemerken sollte, gelang er nicht. Aber das Kind des Versehens und der Unehre, das wollte sie loswerden. Sie vertraute sich ihrem Chef an, demselben, der das noch immer war, als sie an Herbert Zinke ihre schnörkellose Bitte richtete. Der Chef hatte Kontakte für eine Abtreibung. Die musste sie nicht bezahlen, aber ihm seitdem gelegentlich zu Willen sein. Da hatte sie keine Wahl. Deshalb wollte sie weg aus Köln. Deshalb wollte sie, einer sollte sie endlich heiraten. Deshalb wollte sie, dieser seriöse gebildete Berliner Bankbeamte sollte sie ehrbar machen.
Hier halte ich inne. So sollte die einmal gewesen sein, die meine Mutter geworden ist? Es ist wahr: Ich habe mir das ausgedacht, das uneheliche abgetriebene Kind und die Folgen. Ich weiß ja fast nichts von ihr. Nur von dem Tanzen auf Schloss Aprath weiß ich, dem mehrfach erwähnten, ohne jede Einzelheit, und dass sie Karnevalsschlager trällerte nach der Art von "Mer lasse d'r Dom in Kölle", an die ich mich noch erinnere. Am Karneval hat sie teilgenommen, unverkleidet. Auch das hat mir die Tante in ihrem letzten Lebensjahr erzählt. Dann weiß ich noch, auch das habe ich schon gesagt, dass sie das "Sorgenkind" ihrer Mutter war, meine einzige Cousine hat es mir erzählt, dass sie mit ihrem Bruder auf Motorradtouren war, davon gibt es ein Foto, dass sie den Spitznamen "Lachtäubchen" hatte. Ich habe sie nichts gefragt, weil sie mir und zuvor schon der Berliner Schwiegerfamilie erträglicher war, wenn sie nichts sagte. Aber sie muss vor ihrer Ehe anders gewesen sein, als ich sie kannte, lebensfroh, ein "Lachtäubchen" eben und eine, die gerne das Tanzbein schwang. So mannstoll aber und scheu zugleich? Doch, so etwas gibt es. Ob meine Mutter so war, das weiß ich nicht. Natürlich auch nicht, ich sagte es schon, ob sie die Aufforderung wirklich so kess und verzweifelt geäußert hat: "Bitte heiraten Sie mich." Nur: Diese beiden so verschiedenen Menschen, die sich im Café am Dom in Köln kennen gelernt haben, Herbert Zinke und Elfriede Holtz, sie haben ja geheiratet, und das auch noch ganz außerordentlich schnell. Im Herbst 1937 das zufällige Treffen, zu Sylvester die offizielle Verlobung in Berlin, am 4. März 1938 die Hochzeit standesamtlich in Berlin, am 6. März kirchlich im Bergischen. Für diese Schnelligkeit muss es doch gewichtige Gründe gegeben haben, auf beiden Seiten.
Im Übrigen war auch die alte Fiddy Knaak, Hildes einzige Freundin, der Meinung, es müsste meine künftige Mutter gewesen sein, die meinem künftigen Vater ein Heiratsversprechen "abgeluchst" habe. Sie ist ja neben Hilde meine einzige Gewährsfrau. Meinen Vater kannte sie gut genug, um anzunehmen, eine Mésalliance wie zwischen diesen beiden Menschen könne wohl kaum ursprünglich von ihm ausgegangen sein.
Nun gehören zu einer Heirat aber eben zwei. Der mein Vater werden würde, der Einzelgänger, war wirklich kein Nothelfer. Und dass die Liebe seines Lebens noch kaum unverarbeitet in seinen Sinnen war, das ist bezeugt, freilich von seiner sehr alten Schwester, also vermutlich verändert gegenüber dem, was gewesen ist, im Kern aber sicherlich richtig erinnert. Denn so etwas bleibt haften. Warum also nur verband sich mein Vater, und so rasend schnell, mit dieser Frau, die noch dazu fünf Jahre älter war als er, 36 Jahre, als er sie kennen lernte? Sie muss ja nicht so liebensunfähig und mannstoll gewesen sein, wie ich sie hier in meiner Hilflosigkeit dargestellt habe, sie war vielleicht nur wenig liebesfähig und nicht zugleich mannstoll und mit ihren Freundinnen ein Lachtäubchen. Die gab es, sie hießen beide auch Elfriede und wurden zusammen "die drei Friedchen" genannt. Mehr weiß auch die Cousine nicht, wusste auch die Tochter eines anderen Friedchens nicht, mit der sie mich zusammen gebracht hat.
Sie, Elfriede Holtz, deren Tochter ich nicht gerne bin, hatte lange vergeblich nach einem Mann gesucht, nehme ich also an. Oder die, die um sie möglicherweise geworben hatten, wollte sie nicht. Auch das ist möglich. Wurde sie das "Sorgenkind" ihrer Mutter, einfach nur, weil sie nicht unter die Haube kam? Oder weil bekannt wurde, dass sie auf zu lockere Weise versuchte, unter die Haube zu kommen? Man muss aber bedenken, dass von den Männern, die zur Heirat in Frage kamen, die ein paar Jahre älter waren als sie vom Jahrgang 1901, viele gefallen waren in dem Krieg, der in den 30er Jahren noch "der Weltkrieg" hieß. Auch Heiraten, die die Eltern hätten arrangieren können, waren dadurch eingeschränkt und dazu auch schon aus der Mode.
Der mein Vater wurde, stelle ich mir vor, hat bis zum Ende dieser oder einer anderen Erzählung aus einem vielleicht nur sehr vordergründig fröhlichen Leben zugehört, da am Rheinufer. Kein Nothelfer und keineswegs zur Heirat bereit. Hat denn, was immer die nicht mehr ganz junge Frau ihm erzählte, ihn doch gerührt oder sein psychologisches Interesse erregt? Etwa so, dass er die Heirat zwar abgelehnt hätte, aber der Frau mit dem ungewöhnlichen Anliegen seine Berliner Adresse gegeben hätte als einer, den sie eben doch, notfalls, um Rat sollte fragen können, aus der Ferne? Vielleicht war es so, vielleicht anders.
Ich habe meinen Vater im Grund nicht besser gekannt als meine Mutter. Einige Jahre lang habe ich das aber geglaubt, weil ich viel mit ihm zusammen gemacht habe, von acht bis zwölf etwa. Ich lernte ihn erst kennen mit acht Jahren, als er aus der Nachkriegszeit zurück kam, hatte mich auf ihn gefreut, liebte und bewunderte ihn anfangs. Warum bloß hat er Elfriede zur Ehefrau genommen? Das ist der Stachel, der mich zum Überlegen und Kombinieren und Erfinden treibt. Er muss ja ein Bild von ihr nach Berlin mitgenommen haben aus ihren Erzählungen und seinen Vermutungen dazu, ein Bild, das ich nicht kenne. Das kann aber nicht das Bild von einer Frau gewesen sein, die er geliebt hätte. Und selbst wenn er ein Bild auch als Foto mitnahm, kann das an seiner Ablehnung ihrer Bitte kaum etwas geändert haben.
Und darum suche ich die Erklärung für die Eheschließung im reichlich Banalen. Wenn er etwa wirklich erkannt hätte, dass diese schon etwas überalterte Heiratssüchtige das aus lauter Unsicherheit war, dass sie einen Vaterersatz suchte, ohne es zu wissen, einen, der sie durchs Leben leitete mit seinen Schwierigkeiten wie Steuererklärungen und alleine reisen und derlei, dann könnte er auch erkannt haben, dass sie auf Liebe keinen Anspruch machte, sondern nur auf Geborgenheit. Und auch für ihn gab es Dinge im Leben, die durch Heirat einfacher oder erst möglich wurden.
Hier, scheint mir, stellte ein für einen anderen böses Schicksal ihn vor eine schnell zu treffende Entscheidung. Es wurde nämlich im Haus Kuglerstraße 1 eine Wohnung frei, ich habe es schon gesagt, und just die über der seiner Mutter. Denn der jüdische Kürschnermeister Karl Wurzel, dem unten im Haus ein Ladengeschäft für Pelze gehörte und der für sich und seine Familie Affidavits für die USA bekommen hatte und in die Emigration ging, er hatte sich nicht, wie andere, selbst beruhigt damit, dass es für die Juden schlimmer ja nicht kommen könne, hatte die relative Ruhe des Olympiajahres 1936 als eben nur relativ erkannt und verließ Deutschland, übrigens mit dem Versprechen an meine Großmutter, sich "nach Hitler" wieder zu melden. Und das tat er wirklich. Die oft schönen zurückgelassenen Wohnungen von Juden riss sich gerne Naziprominenz unter den dreckigen Nagel. Diese gab wohl die Hausbesitzerin Gertraud von Jaminet als bereits zugeteilt aus, um sie meinem Vater zukommen zu lassen. An eine Einzelperson würde aber eine Drei-Zimmer-Wohnung nicht vermietet werden. Wenn also Herbert Zinke sich seinen Traum eines eigenen Arbeitszimmers erfüllen, diese Gelegenheit nutzen wollte, musste er absehbar schnell heiraten. War ihm dazu Elfriede Holtz recht, die er nicht liebte, die ihn nicht liebte, die er aber durch diese neue Situation nun ebenfalls gebrauchen konnte?
Das Arbeitszimmer gab es ja in Form dreier Möbelstücke bereits, seines Schreibtisches und eines dazu passenden Sessels, die später dann seiner und meiner wurden, und seines Bücherschrankes, alle aus Eiche, abgesetzt mit Kirsche. Da fand auch der 10-bändige Brockhaus von 1819/20 einen Ehrenplatz, den Karl Wurzel Herbert Zinke geschenkt oder verkauft hatte. Dies Nachschlagewerk tut nun mir gute Dienste. Die beiden Möbel des werdenden Arbeitszimmers standen schon seit den 20er Jahren, nach dem Tod des Vaters, im Wohnzimmer der Wohnung, die Herbert noch mit Mutter und Schwester teilte. Dort arbeitete er, und das Zimmer war winters vielleicht von einem elektrischen Heizofen erwärmt. Diese Gelegenheit nun, das lang Erträumte zu verwirklichen, Karl Wurzels erzwungene Emigration, so stelle ich mir vor, vermochte Herbert nicht auszulassen.
Was aber mag er Elfriede nun geschrieben haben, der er in Köln die Heirat verständlicherweise abgeschlagen hatte? Die ganze Wahrheit wohl nicht. Vermutlich ließ er zunächst so viel Zeit vergehen, wie es nur möglich war, wollte er sein Projekt nicht gefährden, aber sie auch nicht vor fast schon vollendete Tatsachen stellen. Und dann vielleicht: Sie wüssten voneinander, warum sie bisher nicht geheiratet hätten, zumindest er von ihr dank ihrer Offenheit. Nun gebe es sie doch, eine Möglichkeit gemeinsamen Lebens in Berlin. Die große Liebe sei es nicht, das wüssten sie beide. Wenn es ihr aber genüge und recht sei, mit ihm einen gemeinsamen Haushalt zu führen, für den er der Erwerbsarbeit nachgehe, und da er nicht erwarte, sie wolle und könne teilnehmen an seinen graphologisch-psychologischen Arbeiten, da er aber zugleich sicher sei, sie werde sie nicht stören durch Vergnügungssucht, so sei doch ein guter Kompromiss wohl möglich, gerade weil beide voneinander nicht zuviel erwarteten. Von Kindern schrieb er nicht, hatten sie in Köln wohl kaum gesprochen. Er hätte gut ohne Kinder leben können. Von ihr glaubte er es. Er lud sie also ein, nach Berlin zu kommen, damit er sie seiner Familie vorstellen könne.
Sie sagte wahrscheinlich mit Freuden zu. Ein Briefwechsel kam in Gang. Viel Zeit blieb nicht dafür, der späte Oktober vielleicht, der November, der Dezember, im neuen Jahr noch Januar und Februar. Das dünne Bündel ihrer Briefe habe ich als Kind einmal zufällig gesehen, in die Hand genommen und, diskret war ich nicht, darin gelesen. Diese Liebesbriefe lagen, wohin sie nicht gehörten, auf den Besteckkästen, wo sonst keine zu finden gewesen waren. Wahrscheinlich hatte ich die Mutter bei eigenem Lesen gestört. Nur die Anrede weiß ich noch: "Mein liebster Bub!". Schon das ältere Kind, das ich damals gewesen sein muss, wunderte sich dieses zärtlichen Kosenamens, den es mit dem Ton des Familienalltags nicht verbinden konnte.
Hatte Herbert Zinke, der also mein Vater geworden ist, sich denn nicht überlegt, was so nahes Wohnen zweier Familienteile übereinander für Probleme, Streitigkeiten, Rechthabereien erzeugen konnte? Er kannte schließlich seine Mutter. Ich nehme an, dass er in sich alle Einwände beiseite gefegt hat. Er wollte sein Herrenzimmer und konnte es jetzt bekommen. Es gab eine Frau, die ihn wollte und die er jetzt brauchte. Er wird Mutter und Schwester alles so positiv wie möglich dargestellt haben, was diese Elfriede betraf, die er ein Vierteljahr zuvor noch nicht gekannt hatte, und wird umgekehrt diese beiden der nun plötzlich künftigen Ehefrau gleichfalls aufs Vorteilhafteste dargestellt haben. Vermutlich meinte er unvernünftigerweise, dass Vernunft die Grundlage des Miteinanderlebens der drei Frauen sein könnte. Und er konnte sich bei dieser Konstellation weiterhin zusammen mit seiner Schwester um seine Mutter kümmern, die Verkrüppelte und Verwitwete, wie sie es verlangt haben muss, und brauchte ihr keinen Umzug zuzumuten. Ich glaube ja auch, dass er als einziger, wenn nicht gewusst, so doch geahnt hat, wer Josef Wedzicki für Hildegard Zinke war, dass sie nicht mehr heiraten wollte und also bei der Mutter wohnen bleiben würde.
Elfriede kam, sicher einmal vor der Verlobung, und wurde bei den Eltern von Hildes Freundin Fiddy logiert, wo es ein Gästezimmer gab. Man war sicherlich so freundlich wie möglich zueinander, denn anders konnte solch ein erster Besuch kaum absolviert werden. Die Distanziertheit in der Freundlichkeit, das wechselseitig empfundene Fremdsein war noch durch die Neuheit der Situation zu erklären. Herzlich war keine von den vier Personen von ihrem Wesen her, die ich später als meine engere Familie kannte.
Wahrscheinlich hat meine Großmutter, das kann ich mir lebhaft vorstellen, als die so irritierend schnell erschienene Rheinländerin wieder fort war, gegen sie gestänkert, und ihre Tochter mit ihr. Allerdings hätte sie das gegen jede Neue getan, denn jede wäre eine Bedrohung ihrer Herrscherlichkeit gewesen. Herbert wird das gewusst haben, aber da er mit seiner künftigen Frau eine Zweckehe einging, ist es ihm wohl nicht allzu wichtig gewesen. Sie mussten sich ja nicht mögen, seine Mutter und seine Frau. Dass sie nicht einmal die Contenance haben würden, einander zurückhaltend-höflich zu behandeln, damit brauchte er vielleicht trotz der Rechthaberei seiner Mutter nicht zu rechnen. Seine alte Schwester hat mir gesagt, sie habe sich in der künftigen Schwägerin eine Schwester erhofft, aber "Friedel" habe sich "hochmütig" benommen.
Fiddy freilich, der Herbert in jüngeren Jahren, wenn sie ihre Freundin Hilde besuchte, eine Zeit lang Gedichte in die Manteltasche gesteckt hatte, wenn sie es nicht merkte, "Werbungsgedichte", wie sie als vergnügte Greisin zu mir sagte, Fiddy, die natürlich eingeladen war, während Elfriede da war, die sagte zu ihrer Freundin etwa so, jedenfalls hat sie es mir so erzählt: Diese da sei keine Frau für Herbert, sie lache aus Unsicherheit oder Albernheit und nicht, weil sie sich über etwas Komisches freuen könne. Sie gebe sich als die muntere Kölnerin, aber sei in Wirklichkeit gehemmt und ungebildet dazu, es werde nicht gut gehen mit ihr und Herbert. Der hatte den nahe liegenden Einwand, als seine Schwester es ihm erzählte, Fiddy habe ihn ja abblitzen lassen, und sowieso intrigiere sie gern, sei vielleicht selbst in ihrer jungen Ehe nicht glücklich ...
Elfriede kehrte nach Köln zurück. Herbert ließ die Wohnung in der Kuglerstraße renovieren, die er zu heiraten gedachte und die er mit seiner künftigen Ehefrau natürlich mehrfach angesehen und im Geist eingerichtet hatte, nachdem die Möbel von Karl Wurzel vom Deutschen Reich geraubt worden waren. Dann zog er auf seine selige Insel, ließ also Schreibtisch und Bücherschrank schon hinaufschaffen in die Wohnung, für die er nun die Miete bezahlte, und seine Schlafcouch und einen kleinen Tisch, den so genannten Rauchtisch mit der rötlichen Marmorplatte (nur hat da niemand je geraucht) und zwei Sessel. Er arbeitete da und schlief da, nahm aber die Mahlzeiten bei Mutter und Schwester ein, die sich auch weiterhin um seine Kleidung und Wäsche kümmerten. Die Wochen, in denen er so im Provisorium lebte, sie sind wohl seine glücklichste Zeit in dieser Wohnung gewesen. Es waren nur November und Dezember 1937 und Januar 1938.
Zum Jahresende 1937 kam Elfriede zur Verlobung wieder, geleitet von ihrem Bruder, der im selben Jahr geheiratet hatte. Übernachtete sie schon in ihrer künftigen Wohnung, allein natürlich oder mit dem Bruder? Eine große Feier wird es nicht gegeben haben, so wie es keine große Liebe war. Fiddy war da mit Mann und Werner Potrafky mit Frau, Herberts einziger Freund, der Hilde einmal geliebt hatte, aber aus den beiden war kein Paar geworden. Elfriede sah die kleine selige Insel, aber sie erkannte sie nicht. Die Möbel für die große Insel wurden wohl in den ersten Januar-Tagen 1938 gekauft, der Mode der Zeit entsprechend das, was später spöttisch Gelsenkirchener Barock hieß.
Die standesamtliche Trauung also in Berlin, zwei Tage darauf die kirchliche in dem kleinen bergischen Heimatort von Elfriede, Anfang März 1938. Soll ich dem Hochzeitsfoto vor der Kirche nachträglich Bedeutsamkeit zuschreiben? Es scheint, dass Elfriede beinahe über die Schleppe ihres Kleides gestolpert wäre, eine Frau ihr zu Hilfe kam und dadurch mit aufs Bild geriet. Herbert, dessen Haare mit eben über 30 schon recht gelichtet sind, so dass sogar sein künftiger mönchischer Haarkranz zu ahnen ist, jedenfalls, wenn man ihn nur so gekannt hat, Herbert schaut in die Kamera, wie es sich gehört, ernst und wie abwesend, seine Frau ist damit beschäftigt, nicht zu fallen. Es gibt aber noch ein in einem Atelier gemachtes Foto. Das Brautpaar schaut auch auf dem sehr ernst aus.
Es reiste wohl noch am selben Tag in die Flitterwochen nach Jugenheim an der Bergstraße, wo es ein Ferienheim der Deutschen Bank gab. (Eine Entbehrlichkeit wie diese weiß ich, wieder einmal.) Dort zeugten die ehrbar Verheirateten vermutlich in der so genannten Hochzeitsnacht, die wohl eher dazu gehörte, als dass Lust in ihr endlich zu ihrem Recht kam, das erste Kind, einen Sohn, den am 28. Dezember 1938 tot geborenen "Knaben Zinke". So begann ihre Ehe mit einem sicher schwer zu verarbeitenden Verlust. Vielleicht hat meine Großmutter geunkt, dieser Tod sei die Strafe für die allzu schnell geschlossene Ehe zwischen zweien, die nicht zueinander passten. Solche barschen Meinungen gingen ihr leicht vom Munde. Und vielleicht hat meine Mutter still gemeint, er sei die Strafe für zu lockeren Lebenswandel.
Es wurde noch ein Kind gezeugt, ich, Ursa, im Sommer 1939. Auch ich sei ein Wunschkind gewesen, sagte mir mein alter Vater. Und auf die Nachfrage, ob auch nach einem lebenden ersten Kind, immerhin ehrlich die Antwort: Wie solle er wissen, was sie in einer anderen Familiensituation beide gewollt hätten? Vom "Knaben Zinke", meinem Bruder, dessen Geburts- und Totenschein unser alter Vater versehentlich nicht vernichtet hat, weiß ich keinen Vornamen. Das amtliche Papier durfte wahrscheinlich nicht einmal einen nennen, denn Totgeburten wurden damals anonym im Krankenhausmüll entsorgt mit abgetriebenen Föten und amputierten Armen und Beinen, ein Name aber hätte ihn zur Person gemacht, die zu bestatten gewesen wäre. Aber warum habe ich niemals den meinem Bruder zugedachten Vornamen erfahren, niemals nach ihm gefragt? Der Tote wurde noch obendrein tot geschwiegen. Von ihm zu sprechen, stelle ich mir vor, hätte es meiner Mutter noch schwerer gemacht, das 'Versagen' auszuhalten, mit dem sie sich in die Schwiegerfamilie eingeführt hatte.
Am 25. August 1940 wurden in der Familie Abschiedsfotos gemacht, so viele, wie sonst niemals an einem einzelnen Tag. Der Vater hatte den Einberufungsbefehl erhalten. Er, noch in Zivil, Mutter, Großmutter, Tante wurden jeweils mit dem Baby allein fotografiert, dann Vater und Mutter je mit ihm und den anderen Personen außer der, die knipste. Es konnte ja, wer wollte das wissen, ein Abschied für immer sein. Ein ganzer Film aus der Box wurde verbraucht, acht Bilder.
Das Baby hatte damals wohl gerade den Vater erkannt und von der Mutter unterschieden. Mir scheint, es hat ihn vermisst, als er wenige Tage nach diesen Bildern nie mehr in seinem Blickwinkel erschien, der recht weit geworden war, denn es hatte sitzen gelernt. Noch war das anstrengend. Und da die neue Person, die es erkannt hatte, sich nie mehr zeigte, stellte es das Sitzen ein. Ja, ich fiel wieder um, wenn man mich hinsetzte. Ja, es bedurfte offenbar einer langen Zeit des Säuglingsturnens, bis ich wieder sicher saß. Da hatte ich den "Papa" bestimmt vergessen. Niemand hat mir das je mit diesem Zusammenhang erzählt, aber so könnte er gewesen sein.

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